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H. S. Eglund

Schriftsteller • Writer • Publizist

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© Harel/Verlag Andre Deutsch
  • Bilder des Mossad von Agenten und Eichmann in Südamerika. © Viking Press
  • Das Buch von Mossad-Chef Isser Harel aus dem Jahr 1975. © Verlag Andre Deutsch
Sonntag, 25. April 2021

Ende einer Dienstfahrt

Adolf Eichmann war der oberste Scherge in der Nazihierarchie der Judenmörder. Als Beamter auf Lebenszeit wurde er nach dem Krieg von der Regierung Adenauer geschützt. Bis ihn der Mossad aufspürte und zur letzten Reise lud – nach Israel, um ihn vor Gericht zu stellen.

Am 23. Mai 1960 trat Israels Ministerpräsident David Ben-Burion vor die Knesset in Tel Aviv. Sein Statement ging um die Welt: Der oberste Beamte der Abteilung IV B4 des ehemaligen Reichssicherheitshauptamts (RSHA) befindet sich in Gewahrsam in Israel und erwartet seinen Prozess.

IV B4 war das Referat für Judenangelegenheiten der Nazimordmaschine. Dort liefen die Fäden der sogenannten Endlösung zusammen. Leiter des Referats war Adolf Eichmann.

Der Mossad schlug zu

In einer Nacht- und Nebelaktion hatte der israelische Geheimdienst Mossad in Buenos Aires zugeschlagen. 15 Jahre lang waren die Agenten jedem Hinweis nachgegangen, Eichmann könnte am Leben sein und sich verstecken.

Denn eigentlich galt er als tot. Eichmann wurde seit Frühjahr 1945 vermisst, es gab keine offiziellen Hinweise auf seinen Verbleib. Sein Frau Vera Liebl – sie war Deutsche, er Österreicher – ließ ihn für tot erklären und brach nach Argentinien auf. Dort heiratete sie ein zweites Mal. Die Söhne Eichmanns nahm sie mit nach Buenos Aires, wo die Familie fortan lebte.

Ricardo Klement, der neue Gatte von Frau Eichmann, war den deutschen Behörden bekannt. Die Organisation Gehlen, unter den Altnazis in Südamerika bestens vernetzt, hatte schon 1958 die CIA informiert, dass Klement ein falscher Name war.

Er deckte den meistgesuchten Nazimörder Adolf Eichmann, der im Nürnberger Prozess als Organisator der Deportationen von Millionen Juden in die Gaskammern von Treblinka und Auschwitz bekannt wurde.

Adenauer legte sich quer

Auf Wunsch der Bundesregierung unter Kanzler Adenauer gab die CIA ihr Wissen nicht an den Mossad weiter. Adenauer befürchtete, dass Eichmann im Falle seiner Verhaftung über Hans Globke aussagen könnte.

Globke war Staatssekretär im Kanzleramt, sozusagen Adenauers rechte Hand. Unter den Nazis hatte der geschmeidige Jurist die Gesetze zur Entrechtung und Vernichtung der Juden formuliert.

1958 lebte Eichmann bereits acht Jahre in Argentinien, unter falschem Namen, unter dem Schutz Adenauers und des Auswärtigen Amtes, denn die deutsche Botschaft in Buenos Aires kannte sowohl den Mann als auch seine Vergangenheit. Die zweite (Schein)-Heirat von Vera Liebl lief über ihren Tisch, als sei Eichmann tatsächlich zum Kriegsende verschollen wie Martin Bormann, Hitlers rechte Hand, oder Josef Mengele, der Todesarzt von Auschwitz.

Eine preußische Erfindung

Bislang ist wenig untersucht, wie wichtig das Beamtentum für die brutale Effektivität der Nazimaschine war. Vom preußischen Soldatenkönig eingeführt, verband der Beamte die Arbeit für den Staat mit einer quasi militärischen Unterordnung unter seinen Dienstherren.

Der alte Fritz perfektionierte die Kaste des Staatsknechts weiter, auf diese Weise baute er eine effiziente Verwaltung auf – zu überschaubaren Kosten. Denn den Beamten stand nur eine besondere Altersversorgung zu, während sie im aktiven Dienst eher überschaubare Bezüge erhielten.

Im Deutschen Reich und Bismarcks Verwaltung seit 1871 wurden die Beamten zu den Pfeilern des preußischen Staates. Sie bildeten eine wachsende Schicht, die sich aufgrund ihre Bezüge und ihrer Versorgungsansprüche deutlich von den Angestellten der Industrie und den Arbeitern abhoben.

Nach der Revolution von 1919 und später in der Weimarer Republik zeigte sich deutlich die konservative Haltung der Beamten, die ihre Arbeit für den Staat über die Demokratie und den Parlamentarismus stellten.

Nahtloser Übergang zur NSDAP und zur SS

Die Beamtenschaft in Deutschland (und nach dem sogenannten Anschluss 1938 auch in Österreich) stellte sich weitgehend hinter die NSDAP, etliche Staatsdiener wurden schon zu einem frühen Zeitpunkt Mitglied in Hitlers Partei und in der SS.

1933 hatte Hitler mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums alle Juden vom Staatsdienst ausgeschlossen, sofern sie nicht im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten. Auch Sozialisten oder Kommunisten wurden entfernt. Alle Beamte mussten sich als Arier nachweisen, wollten sie ihren Job behalten – und auf den NS-Staat schwören.

Adolf Eichmann (geboren 1906) war 1927 der Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs beigetreten. Der gelernte Elektrotechniker arbeitete zunächst als Sachbearbeiter für die Firmen Vacuum Oil und Elektrobau in Wien. Im April 1932 wurde er Mitglied der österreichischen NSDAP (Mitgliedsnummer 889.895) und der SS (Nummer 45.326).

Im Juli 1933 wurde die NSDAP in Österreich verboten. Deshalb floh Eichmann nach Bayern, zur Österreichischen Legion in Klosterlechfeld und später nach Dachau, zur paramilitärischen Ausbildung bei der SS. Hier meldete er sich im Oktober 1934 freiwillig zum Sicherheitsdienst (SD) der SS nach Berlin. Seine Karriere in der Machtzentrale der Nazis begann.

Der COO oder CGC des Judenmords

Eichmann war still, effizient und fantasiereich. So stieg der Musterbeamte steil auf. Als Anfang der 1940er Jahre am Wannsee die Vernichtung der europäischen Juden – die sogenannte Endlösung – beschlossen wurde, übernahm er den Job.

Nach heutiger Begrifflichkeit könnte man ihn als COO (Chief Operating Officer) des Judenmords bezeichnen, vom NS-Staat autorisiert und bezahlt, oder besser als CGC (Chief of Gas Chambers). Eichmann wirkte beinahe unsichtbar: Nach dem Krieg gab es nur sehr wenige Fotos von ihm und keine Fingerabdrücke.

Öffentlich aufgefallen war er durch die Aussagen von Dieter Wisliceny, die ein amerikanischer Ankläger für den Nürnberger Prozess aufnahm. Wisliceny saß damals im Knast in Bratislava, wo ihn die Slowaken vor Gericht stellten. Er wurde 1948 gehängt.

Wisliceny war Subalterner in Eichmanns Team in der Abteilung IV B4 des RSHA. Er bestätigte, dass Eichmann nie im Rampenlicht stand wie seine Bosse: Heydrich, Kaltenbrunner und Himmler.

Die Legende vom Selbstmord

Eichmann habe nie selbst einen Menschen getötet. Er war ein stiller, sehr sorgfältiger Beamter, der Akten schrieb und gewaltige logistische Aufgaben löste: die Erfassung, Sammlung und den Transport von Millionen Menschen aus ganz Europa in die Todeslager im Osten.

Er sortierte Akten, organisierte Deportationen und führte Befehle aus. Akribisch hielt Eichmann jeden Befehl seiner Vorgesetzten fest, um sich von Schuld rein zu halten. Doch Eichmann war nicht der graue, staubige Beamte, der nicht wusste, was er tat. Wisliceny zitierte ihn, als er Eichmann Ende Februar 1945 zum letzten Mal in Berlin begegnete: „Er sagte, er würde lachend ins Grab springen, weil fünf Millionen Menschen auf seinem Gewissen für ihn eine außergewöhnliche Befriedigung seien.“

Mit Wislicenys Aussage entstand auch die Legende, Eichmann habe aus Angst vor den Alliierten Selbstmord verübt und sei in den Wirren der letzten Kriegswochen verschollen. Seine Aussage zeigte Eichmann als erbarmungslosen Schreibtischtäter.

Auf ihn traf genau zu, was der französische Germanist Robert d‘Harcourt erforschte: „Das deutsche Beamtentum arbeitet mit beneidenswerter Effizienz, allerdings im Unrecht genauso wie im Recht“, schrieb er nach Kriegsende. „Es hat nichts anderes gelernt, als sich einfach einem Räderwerk gleich zu drehen.“

Das Buch vom Chef des Mossad

Erhellend sind die Informationen von Isser Harel, dem Gründer und ersten Chef des Mossad. In seinem Buch The House in Garibaldi Street (erschienen 1975) hat er die Suche nach Eichmann akribisch nachgezeichnet.

Harel war David Ben-Gurion gegenüber für die Jagd auf die Altnazis verantwortlich: allesamt ehemalige deutsche Staatsbeamte wie Adolf Eichmann, Josef Mengele oder Franz Stangl, Kommandant des Todeslagers von Treblinka.

Rudolf Höß, der Lagerchef von Auschwitz, war den Russen bereits in die Hände gefallen. Er wurde 1947 in Krakau abgeurteilt und gehängt – in Auschwitz, dem Ort seiner unglaublichen Verbrechen. Der Galgen steht dort noch heute.

Die Israelis wussten, dass viele Nazis mit Hilfe katholischer oder protestantischer Orden nach Südamerika geflohen waren. Mit dem Segen des Papstes wurden ihnen beispielsweise Rot-Kreuz-Pässe ausgestellt, um sie nach Argentinien oder Brasilien zu schleusen.

Eichmann war Katholik. Nachdem er 1945 für kurze Zeit unter falschem Namen von den Amerikanern interniert worden war, gelang ihm die Flucht. Er tauchte bei Bauern unter, bis er 1950 über die sogenannte Rattenlinie von Rom nach Genua und per Schiff nach Argentinien fliehen konnte.

Unter Peróns Fittiche

Dort schlüpfte er unter die Fittiche von Diktator Juan Perón, der sich offen mit Altnazis zeigte. Es gibt ein Foto von Eichmann, als er im persönlichen Eisenbahnwagen des argentinischen Staatschefs sitzt – neben Perón.

Dieses und weiteres aufschlussreiches Bildmaterial wurde im Report von Isser Harel sowie in Minister of Death – The Adolf Eichmann Story präsentiert, das 1960 von Quentin Reynolds, Ephraim Katz und Zwy Aldouby veröffentlicht wurde.

In Argentinien lebten Altnazis und Juden auf seltsame Weise – beinahe Tür an Tür. Viele europäische Juden waren vor den Nazis nach Südamerika geflohen, schon vor 1933 oder der Kristallnacht 1938. Als Perón 1955 gestürzt wurde und ins Exil ging, verbesserte sich das Verhältnis Argentiniens zum jungen Staat Israel.

Möglicherweise wäre Eichmann spätestens dann nach Deutschland ausgeliefert worden, wenn es einen Antrag aus Bonn gegeben hätte. Aus den oben erwähnten Gründen hielten die Beamten im Kanzleramt Adenauers – etliche ehemalige Kollegen von Eichmann in Diensten der Nazis – die Füße still.

Ein Ersuchen aus Israel wiederum hätte Eichmann über das weitverzweigte Netzwerk der Nazis in Argentinien sofort erfahren und wäre abgetaucht, etwa nach Brasilien (wie Franz Stangl und Josef Mengele) oder nach Bolivien (wie Klaus Barbie, der „Schlächer von Lyon“).

Ein Tipp von Fritz Bauer

In Deutschland wurden etliche angeklagte Ex-Nazis freigesprochen, wenn sie sich auf „Befehlsnotstand“ berufen konnten. Noch 1968 sollte das Strafrecht geändert werden, um früheren Nazibeamte von juristischer Verfolgung freizustellen.

Einer der aktivsten Ankläger und Nazijäger in Deutschland war der Jurist Fritz Bauer, seinerzeit Staatsanwalt in Hessen. Er musste erleben, wie seine Klagen oft am Filz der Altnazis scheiterten. Denn die deutschen Gerichte waren weitgehend mit Juristen besetzt, die schon dem Dritten Reich gedient hatten.

Nach Angaben von Isser Harel war es ein Tipp Bauers, der die Aktion gegen Eichmann in Gang setzte. Die Quelle war ein Mann namens Lothar Hermann, ein blinder Jude aus Deutschland, der in Olivos lebte, einem Vorort von Buenos Aires.

Über die Söhne aufgespürt

Seine Tochter war mit einem jungen Mann namens Nicolas Eichmann liiert, Sohn des Ehepaars Ricardo und Vera Klement. Nicolas ist die spanische Adaption von Klaus, dem Vornamen von Eichmanns ältestem Sohn.

Ab Januar 1958 begann der Mossad, Eichmann in Olivos auszuspähen. Denn Ricardo Klement legte ein merkwürdiges Verhalten an den Tag. Gut getarnt in der ärmlichen Umgebung der Siedlung für kleine Angestellte und Arbeiter vornehmlich deutscher Abstammung, machte er sich rar, beinahe unsichtbar. So bekam ihn Hermanns Tochter nie zu Gesicht, eine Einladung ihrer Eltern zum gegenseitigen Kennenlernen blieb unbeantwortet.

Zugleich wurde Eichmanns Familien in Deutschland und Österreich von israelischen Agenten – die meist ehemals Deutsche waren und sich gut auskannten – überwacht. Auch hier erlebten sie eine seltsame Mauer des Schweigens, die den Kriegsverbrecher und Obersturmbannführer der SS umgab.

Rund 70 Leute beteiligt

Nach Angaben von Isser Harel waren an der Aktion weltweit rund 70 Personen beteiligt, darunter Dr. Hans Friedenthal (1936 bis 1939 zweiter Vorsitzender der Deutschen Zionistischen Organisation) und Moshe Agani (Repräsentant der Jewish Agency 1938 in Wien). Beide kannten Eichmann persönlich und halfen, ihn zweifelsfrei zu identifizieren. Denn die Agenten lieferten Fotos, um jede Verwechslung auszuschließen.

Eichmann tarnte sich in Olivos auf beinahe perfekte Weise. Geflohenen Nazigrößen wurde meist unterstellt, dass sie über Geld und Schmuck verfügten und Luxus pflegten. Eichmann fiel in die Rolle des kleinen Angestellten zurück, fuhr jeden Tag pünktlich zur Arbeit und kehrte ebenso pünktlich heim. Er ging faktisch nie vor die Tür, und lebte seit acht Jahren völlig unauffällig mit seiner Familie.

Hilfreich war die Sensationslust der Medien. Nach dem Krieg tauchten immer wieder Berichte auf, Eichmann sei entdeckt worden: So meldete Ende der 1950er Jahre eine Zeitung, Eichmann befände sich in Kuwait, wo er für eine Ölfirma arbeite.

Das schien damals plausibel, denn viele Altnazis hatten Zuflucht in arabischen Staaten gesucht und gefunden, die Israel feindlich gegenüberstanden. Beispielsweise bauten deutsche Techniker und Ingenieure an Raketen für Nasser in Ägypten. Das lief so lange ungestört, bis der Mossad Briefbomben schickte.

Per Flugzeug oder per Schiff?

Nachdem der Mossad Eichmann in Argentinien entdeckt und zweifelsfrei identifiziert hatte, war zu entscheiden, wie er aus Argentinien nach Israel käme. Seinerzeit gab es keine Direktflüge von Tel Aviv nach Buenos Aires. Das sind 9.500 Meilen, solche Entfernungen waren damals nonstop nicht möglich.

Ein Flug konnte nur mit Zwischenstopps erfolgen: etwa im brasilianischen Recife und in Dakar in Senegal in Westafrika. Transport per Schiff schied aus, weil dieser Weg rund sechzig Tage in Anspruch genommen hätte. Etliche Zwischenhalte wären notwendig, mit dem enormen Risiko, dass alte und junge Nazis versuchten, Eichmann zu befreien.

Als Harel die Entführung plante, war Eichmann – zunächst unbemerkt – aus Olivos verzogen, in ein neues Haus in der Garibaldistraße von San Fernando, eine gute Stunde nördlich von Buenos Aires. Die Spur war noch warm, so dass ihn die Agenten auch dort aufspürten – wiederum durch die Observierung seiner mittlerweile erwachsenen Söhne.

Eine Sondermaschine zum Jubiläum

Isser Harel hatte mittlerweile einen Weg gefunden, Eichmann außer Landes zu bringen. Ende Mail 1960 wollte Argentinien den 150. Jahrestag seiner Gründung feiern. Die Regierung legte großen Wert auf die Teilnahme einer israelischen Delegation. Dadurch ergab sich die überraschende Möglichkeit, Eichmann per Flugzeug zu verfrachten.

Isser Harel selbst flog inkognito nach Buenos Aires, um die Aktion vor Ort zu leiten. Mehrere Teams wurden über komplizierte Routen eingeschleust. Einen Mann wie Eichmann verschwinden und ausfliegen zu lassen, war eine sehr spezielle Aufgabe. Alles musste verdeckt erfolgen, um den vorsichtigen Eichmann nicht zufällig zu warnen und zur Flucht zu animieren.

Am 11. Mai 1960 passte der Mossad seinen Arbeitsweg ab. Wie jeden Tag nahm Ricardo Klement alias Adolf Eichmann den Zug und danach den Bus, um nach Hause zu kommen. Fast vor seinem Haus in der Garibaldistraße wurde er von den Agenten überwältigt und im Auto zu einem angemieteten Versteck gebracht. Er war das letzte Mal, dass der ehemalige Beamte und Sachbearbeiter von der Arbeit kam.

Beim ersten Verhör gab Eichmann überraschenderweise sofort zu, wer er war. Er nannte seine NSDAP-Nummer und seine SS-Nummer, auch stimmten einige körperliche Merkmale mit den Informationen aus der Nazizeit überein.

Die Nazis kamen eine halbe Stunde zu spät

Mit dem Sonderflugzeug von El Al wurde Klement am 21. Mai 1960 unerkannt aus Argentinien ausgeflogen, getarnt als israelischer Staatsbürger, der in Buenos Aires einen Autounfall hatte. Er wurde unter Drogen gesetzt, damit er sich nicht wehrte.

Zu dieser Zeit hatte die Altnazis bereits alle Häfen, Grenzübergänge und Flughäfen überwacht, weil sein Verschwinden sofort die Runde machte und alte Seilschaften alarmierte.

Sein Sohn Klaus bestätigte Jahre später in einem Interview mit der deutschen Illustrierten Quiz, dass die Altnazis zu spät Wind von dem Sonderflugzeug bekamen, das auf dem Flughafen von Buenos Aires wartete. Als sie auf dem Vorfeld erschienen, um ihren Kumpanen zu befreien, war die Maschine bereits eine halbe Stunde in der Luft.

Sicher in Tel Aviv gelandet

Nachdem der Flieger (über Dakar) am 22. Mai 1960 unbehelligt in Tel Aviv gelandet war, wurde Eichmann der Polizei übergeben, die ihn im Camp Iyar internierte. Danach informierte Harel vier Leute: Fritz Bauer in Frankfurt am Main, Golda Meir und Chaim Laskow (Chef der Armee), die sich in Tel Aviv aufhielten.

Premierminister David Ben-Gurion weilte im Kibbutz Sde Broker, seinem Landsitz in der Negev, wohin er sich gelegentlich zurückzog. „Wir haben Eichmann“, sagte Harel, als er bei Ben-Gurion vorsprach. „Er ist in Israel.“

Wenig später trat der Ministerpräsident vors Parlament, für seine legendäre Ansage: „Ich muss der Knesset mitteilen, dass vor kurzem einer der wichigsten Nazikriegsverbrecher vom israelischen Geheimdienst aufgespürt wurde … Adolf Eichmann befindet sich bereits in Haft in Israel und wird in Kürze vor Gericht gestellt.“

Die emotionale Wirkung war überwältigend. In der Knesset fielen sich Abgeordnete weinend in die Arme. Viele hatten ihre Angehörigen in den Todeslagern der Nazis verloren. Keine jüdische Familie in Israel – oder andernorts auf der Welt – die keine Opfer zu beklagen hatten. Manche – viele – Familien waren ausgelöscht, bis auf ein oder zwei Überlebende. Eichmann war das Synonym der Monster, er war das Gesicht der Täter. Nun hatten ihn die Überlebenden geschnappt.

Fortan war die Ruhe vorbei

Für die Altnazis in Südamerika – oder anderswo – war es mit der Ruhe vorbei. Josef Mengele, der SS-Arzt von Auschwitz, sollte ursprünglich mit Eichmann gekidnappt und nach Israel gebracht werden. Die Israelis wussten, dass auch er sich in Buenos Aires verborgen hielt.

Allerdings verschwand Mengele im April 1960 plötzlich aus seinem Appartement – zunächst spurlos. Er tauchte in Paraguay und später in Brasilien unter, ein gehetzter Mann, ständig in der Furcht vor Entdeckung. 1979 erlitt er im Badeort Bertioga (zirka 65 Kilometer von Sao Paulo entfernt) beim Schwimmen einen Schlaganfall und ertrank. Er wurde unter falschem Namen beerdigt. Sechs Jahre später exhumierten Fahnder die Leiche, durch den Abgleich der DNS wurde seine wahre Identität enthüllt.

Status als Beamter auf Lebenszeit bestätigt

Franz Stangl, ehemaliger Lagerkommandant von Sobibor und Treblinka, wurde Ende der 1960er in Brasilien aufgespürt und nach Deutschland ausgeliefert. 1970 wurde ihm in Düsseldorf der Prozess gemacht, mit Urteil lebenslänglich.

Die Publizistin Gitta Sereny hat ein eindrucksvolles Portrait dieses Beamten geschrieben, mit dem sie lange sprach, bis zum Tag vor Stangls Tod durch Herzinfarkt Ende Juni 1971. Ausdrücklich wies Stangl daraufhin, warum er sich – ein österreichischer Kriminalbeamter – den Nazis als willfähriger Knecht andiente: „Ich war einfach ein Polizeibeamter, der seine Arbeit tat. Die Deutschen bestätigten meinen Status als Beamter auf Lebenszeit. Ich wurde zum Kriminaloberassistenten ernannt.“

Auch Stangl war – nach eigenen Angaben – gläubiger Katholik. Er war einem Aufruf von Kardinal Innitzer gefolgt, nach dem „Anschluss“ mit den Deutschen zu kollaborieren.

Ohne Beamtentum hatte die Mordmaschine der Nazis niemals so reibungslos und verheerend funktioniert. Diese speziell deutsche und österreichische Ausprägung der Gewissenlosigkeit und Verantwortungslosigkeit war eine der psychologischen Fundamente des Dritten Reichs. Ein dem Staat auf Eid und Befehl verpflichteter Diener steht echter Demokratie entgegen. Das ist heute nicht anders als damals – freilich in abgeschwächter, moderner Form.

Keine echte Demokratie mit Beamten

Als Teil der exekutiven Befehlskette werden sich Beamte in den meisten Fällen gegen ihr Gewissen stellen, gegen die eigene Vernunft – wenn es der Befehl „von oben“ erfordert. Längst nicht so monströs wie bei Eichmann, Mengele oder Stangl sind solche Einstellungen bis heute in den meisten Ämtern oder nachgeordneten Institutionen (Geheimdienste, Polizei, Bundeswehr, Zoll, Bürgerämter – und Schulen) zu beobachten.

Man kann durchaus sagen, dass der deutsche Staat bis heute seine Nazivergangenheit nicht bewältigt hat. Erst die Abschaffung des Berufsbeamtentums wäre ein Schritt zu echtem demokratischen Selbstverständnis – nicht als Diener des Staates, sondern seiner Bürger.

Exemplarisch ist der Fall des ehemaligen Gestapochefs von Frankreich, auch als „Schlächer von Lyon“ bekannt: Klaus Barbie war für „Endlösung“ der niederländischen und französischen Juden verantwortlich. Auch er war ein Subalterner von Eichmann im RSHA. Barbie ermordete unter anderem Jean Moulin, den Chef der französischen Resistance. Heute wird Moulin in Frankreich als Held verehrt.

Der Fall Barbie: Kanzler Kohl will keine Debatten

Er tauchte Mitte 1945 ab, war zehn Jahre als Agent der Briten und der Amerikaner unterwegs. Die Amis lieferten ihn – trotz Kenntnis seiner Identität und seiner Gräuel – nicht an die Franzosen aus. Denn in Frankreich wurde er in Abwesenheit dreimal zum Tode verurteilt. Statt dessen durft Barbie 1951 auf der Rattenlinie mit Hilfe des Vatikan nach Bolivien fliehen.

Dort war er im Rang eines Oberstleutnants mit der Abwehr von Guevaras Guerilla befasst, als Experte im Kampf gegen Partisanen. Noch 1966 arbeitete er für den Bundesnachrichtendienst als Informant.

Beate und Serge Klarsfeld spürten Barbie Anfang der 1970er Jahre in Bolivien auf, nach einem Tipp der Staatsanwaltschaft München. Ein Versuch des Mossad, ihn zu töten, schlug fehl. Erst 1983 wurde er wegen Steuerhinterziehung verhaftet.

Die Auslieferung an Deutschland wurde durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) verhindert, der keine neue Debatte über Nazischuld entfachen wollte. Also wurde Barbie nach Frankreich ausgeliefert und zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt, da die Todesstrafe mittlerweile abgeschafft worden war. Er starb im September 1991 im Knast in Lyon an Krebs.

Hannah Arendt: „Keine teuflisch-dämonische Tiefe“

Wie selbstverständlich die kleinen Beamten in den schwarzen Uniformen ins Räderwerk der Nazis passten, hat Hannah Arendt analysiert. Sie wohnte dem Prozess Eichmanns in Tel Aviv bei. Sie schrieb über den menschlichen Eichmann, dem man „beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen kann“.

Denn während des Prozesses gab sich der Kriegsverbrecher als korrekter Biedermann, als liebender Familienvater, der seinen Bossen durch den Eid verpflichtet – und darum nicht zu belangen war. Eichmann selbst sah sich als „Rädchen im Getriebe“, als „administrative Instanz der Endlösung“, als Funktionär des „Krieges gegen die Juden“, durch Befehl und Eid gewissensgeschützt.

Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt

Besonders aufschlussreich ist die Einschätzung von Heinar Kipphardt, der mit seinem Drama Bruder Eichmann in den 1970ern und 1980ern für Furore sorgte. Darin zeichnet er den Weg des kleinen Angestellten aus der Industrie bis zum Chef des Judendezernats im Reichssicherheitshauptamt nach. „Genauer gesehen zeigt sich, dass die Eichmann-Haltung die gewöhnliche Haltung unserer heutigen Welt geworden ist, im Alltagsbereich wie im politischen Leben wie in der Wissenschaft, von den makabren Planspielen moderner Kriege, die von vorneherein in Genozid-Größen denken, nicht zu reden“, schrieb der Dramatiker.

Für ihn war Eichmann der folgsame Beamte, der gehorchende Diener des Staats, der Knecht, der Soldat, der nur Befehle ausgeführt hat; der durchschnittliche Bürger, der im System effizient funktioniert, der sein Gewissen an den Staat und den Führer delegiert: „die Selbstgerechtigkeit des Kleinbürgers und des Staats“.

Seinem Stück stellte er ein Zitat von Blaise Pascal voran: „Niemand tut so voll vollständig und so gut das Böse, als wenn man es mit gutem Gewissen tut.“

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Endlich auf Deutsch: Michael E. Manns „Propagandaschlacht ums Klima“

Der renommierte Klimaforscher Michael E. Mann zeigt, wie die fossile Brennstoffindustrie seit 30 Jahren eine Kampagne führt, um von ihrer Verantwortung abzulenken. Sie will wirkungsvolle Maßnahmen gegen den Klimawandel verzögern. Endlich ist die deutsche Übersetzung seines Bestsellers „The New Climate War“ erschienen.

Das Buch „The New Climate War“ gehört in den englischsprachigen Ländern zu den meistgelesenen Werken der Umweltbewegung. Nun ist es auf Deutsch erschienen: Unter dem Titel „Propagandaschlacht ums Klima“ wurde es von der DGS Franken herausgegeben und im Verlag Solare Zukunft veröffentlicht. Das Team um Matthias Hüttmann, Tatiana Abarzúa und Herbert Eppel wagte sich mutig an die Aufgabe, das anspruchsvolle Original für deutschsprachige Leser zu übersetzen.

Mann legt die Finger direkt in die Wunde

Michael E. Manns Buch legt die Finger direkt in die Wunde: Recyceln. Weniger fliegen. Weniger Fleisch essen. Das sind einige der Maßnahmen, von denen uns gesagt wurde, dass sie den Klimawandel verlangsamen können. Aber die übermäßige Betonung des individuellen Verhaltens ist das Ergebnis einer Marketingkampagne, die es geschafft hat,

Die Unternehmen der fossilen Brennstoffindustrie sind dem Beispiel anderer Branchen gefolgt, die ebenso die Schuld von sich weisen – man denke nur an „Waffen töten keine Menschen, Menschen töten Menschen“ – oder an das Greenwashing der Getränkeindustrie mit der Crying-Indian-Kampagne in den 1970er Jahren.

Blockieren, diskreditieren, sich der Verantwortung entziehen

Gleichzeitig blockieren sie Bemühungen, den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid zu regulieren oder zu bepreisen, führen teure PR-Kampagnen durch, um praktikable Alternativen zu diskreditieren, und entziehen sich ihrer Verantwortung, das von ihnen geschaffene Problem zu lösen. Das Ergebnis ist für unseren Planeten verheerend.

In seinem Buch „Propagandaschlacht ums Klima“ vertritt Michael E. Mann die Ansicht, dass noch nicht alles verloren ist. Er beschreibt die Fronten zwischen den Verbrauchern und den Verursachern – den Unternehmen der fossilen Brennstoffindustrie, den rechtsgerichteten Plutokraten und den Ölstaaten.

Ein Vorschlag zur Rettung der Erde

Und er skizziert einen Plan, um Regierungen und Konzerne zu zwingen, aufzuwachen und echte Veränderungen vorzunehmen, einschließlich:

  • einer vernünftigen, realistischen Herangehensweise bei der Bepreisung von CO2 und einer Korrektur der gut gemeinten, aber fehlerhaften, derzeit vorgeschlagenen Version des Green New Deals,
  • einer fairen Konkurrenz zwischen erneuerbaren Energien und fossilen Energieträgern,
  • der Entlarvung falscher Narrative und Argumente, die sich in die Klimadebatte eingeschlichen haben und einen Keil zwischen diejenigen treiben, die Lösungen für den Klimawandel unterstützen,
  • der Bekämpfung von Klimauntergangsstimmung und Hoffnungslosigkeit.

Angesichts der immens mächtigen Interessen, die den Status quo der fossilen Brennstoffe verteidigen, wird der gesellschaftliche Wandel nur mit der aktiven Beteiligung der Bürger gelingen, die den gemeinsamen Vorstoß unterstützen. Dieses Buch will überall die Menschen erreichen, informieren und befähigen, sich dem Kampf um unseren Planeten anzuschließen.

Lob von Leonardo Dicaprio und Al Gore

In den USA schlug Manns Buch bereits hohe Wellen. „Dieses Buch führt die Leser hinter die Kulissen des jahrzehntelangen Informationskriegs der fossilen Brennstoffindustrie und denen, die ihre Interessen teilen“, urteilt Umweltaktivist und Schauspieler Leonardo Dicaprio. „Aus seiner Perspektive als Anführer im Kampf um die wissenschaftliche Vernunft, gibt Michael Mann Hoffnung und einen Fahrplan für uns alle, um die systemischen Probleme anzugehen und zeigt, wie wir zusammenkommen können, um den Kampf um unsere Zukunft zu führen.“

Der frühere Vizepräsident Al Gore lobte: „Michael Mann erklärt gekonnt die komplizierte Entwicklung der globalen Erwärmung und schildert anschaulich die ausgeklügelte und koordinierte Kampagne der Umweltverschmutzer, um die politischen Maßnahmen und Lösungen zu blockieren, die zur Lösung der Klimakrise erforderlich sind. Und, was am wichtigsten ist, er schlägt einen Weg nach vorne vor, der sowohl realistisch als auch optimistisch ist und die Leser zum Handeln inspirieren sollte.“

Auch Greta Thunberg und Jerry Brown empfehlen die Lektüre

Die schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg bescheinigte Mann: „Die Unternehmen der fossilen Brennstoffe sind seit Jahrzehnten, länger als ich lebe, die größten Verursacher der Klimakrise, die meine Generation heute betrifft – all das unter der Prämisse und des Strebens nach Profit und Wachstum. In seinem Buch zieht Michael Mann sie zur Rechenschaft, und zeigt uns, wie wir die mutigen Schritte unternehmen können, die wir alle gemeinsam unternehmen müssen um den Kampf zur Rettung dieses Planeten zu gewinnen.“

Auch der frühere kalifornische Gouverneur Jerry Brown machte sich für dieses Buch stark: „Ohne Umschweife legt Michael Mann unsere missliche Lage dar und erzählt die erschütternde Geschichte der anhaltenden Klimaleugnung und der Täuschung durch die Unternehmen. Wir befinden uns in einem Krieg um den Planeten, aber einen, bei dem wir jetzt kurz davor sind, zu gewinnen. Und er durchschaut geschickt die Propaganda und zeigt uns den Weg nach vorne.“

Michael E- Mann: Propagandaschlacht ums Klima – Wie wir die Anstifter klimapolitischer Untätigkeit besiegen
Mit einem Vorwort von Prof. Volker Quaschning und einem Nachwort des Meteorologen Özden Terli,
ISBN 978-3-933634-48-1, Verlag Solare Zukunft
1. Auflage 2021, 440 Seiten
Preise: 29,00 Euro (D), 29,80 Euro (AT), 33,80 SFr (CH)

Hier können Sie direkt beim Herausgeber online bestellen.

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Montag, 19. April 2021

Lektüre im Lockdown: Erinnerungen von Adolf Goetzberger erschienen

Der Physiker und Professor hat 1981 das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) in Freiburg gegründet. Er hat es gegen starke Widerstände verteidigt und ausgebaut. Interessant sind sein Lebensweg und seine Motivation - die Quelle seiner Beharrlichkeit.

Der Landesverband Franken der DGS hat ein spannendes Büchlein herausgegeben: die Memoiren von Prof. Dr. Adolf Goetzberger, dem Gründer und ersten Chef des Fraunhofer ISE in Freiburg. Genau vierzig Jahre nach der Gründung des weltweit ersten Forschungsinstituts zur Sonnenenergie – und nach wie vor eines der wichtigsten – liest sich die Entstehungsgeschichte nicht nur als spannender Rückblick.

Nicht mit Erreichtem zufrieden

Das Buch zeigt, wie wichtig engagierte Persönlichkeiten sind, die sich nicht mit Erreichtem zufrieden geben. Die nach vorn blicken, über den Tellerrand hinaus, und die in der Wissenschaft die Schaltstellen erobern, um wichtige Weichenstellungen durchzusetzen.

Adolf Goetzberger (Jahrgang 1928) arbeitete als junger Physiker unter William Shockley, dem Erfinder der gleichnamigen Diode und Wegbereiter der Transistortechnik. Shockleys Labor in der Nähe von Palo Alto in Kalifornien gilt als Keimzelle des späteren Silicon Valley.

Am Beginn des Silicon Valley

So hat Adolf Goetzberger die frühen Anfänge der Siliziumbranche und der Chipindustrie mitgemacht und mitgestaltet. Das war dem Sohn von Tabakhändlern aus München nicht in die Wiege gelegt. Im Krieg bekam er ein Physikbuch in die Hand, das ihn inspirierte.

Seine Karriere als Physiker begann er bei Walter Gerlach in München, einem der Begründer der Quantenmechanik. Er promovierte und ging in die Industrie, zu Siemens, um Transistoren auf der Basis von Germanium zu entwickeln. Die ersten Prototypen waren von Shockley und seinem Team in den USA erfunden worden.

Bekannte und legendäre Namen

Wir wollen an dieser Stelle nicht nacherzählen, welche Stationen der höchst interessante Lebensweg von Adolf Goetzberger durchlief. Spannend sind die menschlichen Begegnungen mit bekannten Namen, einige davon Nobelpreisträger, viele legendäre Gestalten der Halbleitertechnik und der Solarenergie.

Spannend ist der Abschnitt, den Goetzberger seiner Rückkehr nach Deutschland widmet, nun bereits ein anerkannter Experte. Mit 50 Jahren – andere räkeln sich in ihren Sesseln für den Ruhestand zurecht – nimmt er sein wichtigstes Projekt in Angriff: die Gründung eines Forschungsinstituts zur Solarenergie, das heutige Fraunhofer ISE.

Heute hat das ISE mehr als 1.100 Mitarbeiter

Gegen enorme Widerstände gelang es ihm, das Institut 1981 aus der Taufe zu heben. Es war das erste außeruniversitäre Solarforschungsinstitut in Europa. Frühe Themen waren der Fluoreszenzkollektor Fluko, eine transparente Wärmedämmung sowie Solarzellen aus Silizium und II-V-Verbundhalbleitern, Dünnschichtzellen sowie die Herstellung von preiswertem Solarsilizium. Im Jahr 1983 wurde am ISE der erste Wechselrichter für die Photovoltaik entwickelt.

Als Goetzberger 1993 in den Ruhestand ging, hatte das ISE 250 Mitarbeiter. Sein Nachfolger Joachim Luther, der es bis 2005 führte, verdoppelte die Zahl der Forscher. Unter der Ägide von Eicke Weber überschritt die Zahl der Mitarbeiter die Grenze von tausend. Heute hat das Institut mehr als 1.100 Mitarbeiter und mehr als 83 Millionen Euro Jahresbudget.

Einer der wichtigsten Akteure der solaren Energiewende

Zurück zum Gründer: Adolf Goetzberger hat nicht nur das Fraunhofer ISE aus der Taufe gehoben. Er war einer der wichtigsten Akteure der solare Energiewende in Europa, viele Jahre lang Präsident der International Solar Energy Society und der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie. Der Physiker hält mehr als 30 Patente. Die Liste seiner Auszeichnungen und Ehrungen ist beinahe unüberschaubar.

Auch nach seiner Pensionierung im Jahr 1994 beschäftigt sich Goetzberger noch mit Solartechnik, faktisch bis heute. Zwar hat er das Büro in „seinem“ Institut geräumt und sich ins Private zurückgezogen. Dort darf er zum Beispiel erleben, wie eine seiner frühesten Ideen – die Agri-PV – nunmehr Realität wird.

Die Lebenserinnerungen von Professor Goetzberger sind eine kurzweilige und sehr informative Lektüre. Sie bieten den Rückblick auf viele Jahrzehnte im Dienst der Energiewende, im Dienst der Sonnenenergie. Sie lassen ahnen, was möglich ist, wenn man sich einer guten und sinnvollen Aufgabe widmet.

Adolf Goetzberger: Mein Leben – Ein Leben für die Sonne und wie es dazu kam
ISBN 978-3-933634-47-4, 1. Auflage 2021, 138 Seiten
Preis: 20,00 Euro (D), 20,60 Euro (AT), 23,30 SFr (CH)

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  • In der DDR erschien der Flugbericht von Gagarin. © Urania Verlag
  • Nach seinem Raumflug wurde Gagarin von der sowjetischen Propaganda als Held stilisiert. © UdSSR
Sonntag, 11. April 2021

Dicker Daumen und blauer Planet

Am 12. April 1961 startete Juri Gagarin in den Kosmos, als erster Mensch überhaupt. Die Raumfahrt begann als Wettrüsten, war ein Kind des Kalten Krieges. Doch sie läutete das solare Zeitalter auf der Erde ein. Das steht sechs Jahrzehnte danach fest.

„Es geht los! Alles normal. Verfassung gut.“

Ich schaute auf die Uhr. Es war 9.07 Uhr Moskauer Zeit. Ich hörte ein Pfeifen und immer stärker werdendes Heulen und fühlte, wie der Rumpf des gigantischen Schiffes erzitterte und sich langsam, ganz langsam von der Startvorrichtung löste. Das Heulen war nicht stärker als in der Kabine eines Düsenflugzeuges, aber es enthielt viele Töne, die noch kein Komponist in Noten gesetzt hatte und die man weder mit einem Musikinstrument, noch mit menschlicher Stimme hervorbringen konnte. Die mächtigen Raketentriebwerke ließen die Musik der Zukunft erklingen, erregender und herrlicher als die größten Schöpfungen der Vergangenheit.

Diese Zeilen stammen aus dem offiziellen Bericht, den Juri Gagarin nach seiner Rückkehr für die sowjetische Parteizeitung Prawda (Wahrheit) schrieb. In der DDR erschien der Report in dem Büchlein Unser Flug in den Kosmos, der auch die zweite Raummission mit German Titow darstellte.

Die Textpassage lässt das angestaubte Pathos erkennen, das den offiziösen Bericht durchtränkt. Gagarin war Offizier, gerade 28 Jahre alt. Der Sohn russischer Bauern verdankte der Partei Stalins und Chrustschows seinen kometenhaften Aufstieg zum Weltstar. Anders als beispielsweise in den Memoiren des Physikers Andrej Sacharow war bei Gagarin keine Rede von den Millionen Arbeitssklaven des Gulag, auf denen sich das sowjetische Wirtschaftswunder gründete.

Blutiger Weg zu den Sternen

Der Weg zu den Sternen war blutig. Unzählige Häftlinge aus Stalins Lagern mussten die geheimen Raketenschmieden der Sowjets aus dem Boden stampfen. Ebenso das berühmte Sternenstädtchen und den Startplatz in Kasachstan – Baikonur – wurden von hungernden Menschen aus der kargen Erde gegraben. Die Zahl der Opfer ging in die Hunderttausende.

Sacharow, der Erfinder der sowjetischen Wasserstoffbombe, hat Ende der 1980er Jahre darüber geschrieben – Gagarin nie. 1968, als Sacharow unter dem Eindruck der Invasion in der Tschechoslowakei zum Bürgerrechtler wurde, war der junge und hoch dekorierte Kosmonaut bereits tot: abgestürzt beim Übungsflug mit einer MiG-15.

Auf der Erde wollte man wissen, was unter mir zu sehen sei. Deutlich zeichneten sich die Gebirge, die großen Flüsse, die Waldmassive, die Inseln und die Küsten der Meere ab. Die Wostock flog über dem Sowjetland. … Als ich auf den Horizont schaute, bemerkte ich einen deutlichen, stark kontrastierten Übergang von der hellen Erdoberfläche zum vollkommen schwarzen Himmel. Die Erde erfreute das Auge durch eine bunte Farbenpalette. Sie war von einer zartblauen Aureole umgeben. Der Streifen wurde immer dunkler, türkisfarben, blau, violett und ging schließlich in kohlschwarz über. Dieser Übergang war ein sehr schöner Anblick.

Der Preis für den schönen Ausblick war brutal hoch, viel Blut war im Spiel, von Beginn an: Die ersten Versuchstiere für die Sputniks wurden bedenkenlos geopfert, wie die Moskauer Straßenhündin Laika, die in der Atmosphäre verglühte. Später wurde das sowjetische Raumfahrtprogramm immer wieder von Katastrophen heimgesucht, oft vermeidbare Unfälle.

Als General Nedelin verglühte

So geschehen im Oktober 1960, beim Test einer neuen Interkontinentalrakete in Baikonur. Der zuständige General Nedelin ignorierte die Warnungen seiner Techniker, trieb sie zur Eile an. Der Plan aus Moskau musste erfüllt werden, Chrustschow wollte den erfolgreichen Test zum Jahrestag der Revolution präsentieren. Zum Zeichen seines bedingungslosen Vertrauens in die sowjetische Ingenieurskunst ließ Neledin seinen Schreibtisch genau unter die Düsen stellen.

Ein Fehler in der Schaltung startete die Zündung zu früh ein, und der General verglühte innerhalb einer halben Sekunde. Mit ihm starben 106 Militärs und Techniker, Sacharow sprach gar von 190 Opfern. Bis zum Ende der 1980er Jahre, bis zu Gorbatschows Glasnost, blieben solche Verluste streng geheim.

Hitlers Waffenjunge baut US-Raketen

US-Präsident Eisenhower verließ sich auf die Expertise des Raketeningenieurs Wernher von Braun und seines Teams, das 1945 mit der Aktion Paperclip aus der amerikanischen Besatzungszone in die Staaten ausgeflogen worden war.

Ab 1959 baute von Braun die NASA auf, stieg ein Jahr später zum Chef des Marshall Space Flight Centers in Alabama auf. Er war es, der Präsident Kennedy davon überzeugte, eine Landung auf dem Mond zu planen. Und von Brauns Leute waren es, die die ersten amerikanischen Raumflüge planten und die erforderlichen Trägermittel konstruierten.

Auch von Braun hatte Blut an seinen Händen. Unmittelbar zum Kriegsende begab er sich in die Hände der Amerikaner, weil ihn die Briten möglicherweise vor ein Kriegsgericht gestellt hätten. Vor dem Krieg hatte er in Kummersdorf südlich von Berlin an damals noch unbekannten Flüssigkeitsraketen geforscht. Während des Zweiten Weltkriegs baute er die Raketenschmiede in Peenemünde auf und ließ im Vorharz ein Werk für V1- und V2-Geschosse errichten.

Tausende Briten fanden bei den Bombardements ihrer Städte – vor allem von East London – den Tod. Die Zahl der toten KZ-Häftlinge, die in Peenemünde und in Mittelbau-Dora die deutschen Vergeltungswaffen bauen mussten, sind bis heute nur grob zu schätzen.

Geschosse für den Kalten Krieg

Auf Eisenhowers Order baute von Braun nach dem Krieg immer größere Raketen. Denn der Wettlauf um die Geschosse war essentiell für den Kalten Krieg. Den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki waren sowjetische Zündungen in Semipalatinsk und auf Nowaja Semlja gefolgt.

Mitte der 1950er Jahre hatten beide Supermächte ein beträchtliches Arsenal an Uranbomben und neuartigen Wasserstoffbomben angehäuft – mit unvorstellbarer Zerstörungskraft. Im Jahr 1961 testete die UdSSR die damals größte Fusionsbombe mit 100 Megatonnen, von der Andrej Sacharow sagte: „Dies ist natürlich noch nicht das Maximum.“

Wie Chrustschow und Kennedy standen sich Physiker gegenüber: Robert Oppenheimer und Edward Teller in den USA sowie Igor Kurtschatow und Andrej Sacharow im Osten. Das Gleiche wiederholte sich bei den Raketen, denn atomare Waffen sind ohne Trägersysteme wertlos.

Das war der eigentliche Hintergrund des Rennens um den ersten Menschen im All: Die Demonstration der Stärke, größere Lasten – Sprengköpfe oder Kapseln – an jeden Punkt der Erde bringen zu können. Das Territorium des Gegners jederzeit überfliegen und ausspionieren zu können, unerreichbar für die Luftabwehr vor Moskau oder Washington.

Kosmonaut statt Spengkopf

Auch Gagarins Rakete sollte ursprünglich Wasserstoffbomben ins Ziel bringen. Sie war schon 1957 fertig, als der erste Sputnik mit der Hündin Laika ins All aufstieg – und die Amerikaner schockierte.

Gagarins Gegenspieler in den USA wurde John Glenn, der 1962 als erster Amerikaner ins All aufstieg. Glenn hatte am Zweiten Weltkrieg als Kampfflieger teilgenommen, danach kämpfte er in Korea gegen die Chinesen und sowjetische Jagdflieger. Nachdem er die Umlaufbahn mit einer Atlas-Rakete aus der Schmiede von Wernher von Braun erreicht und die Erde dreimal umrundet hatte, kehrte er als Held zurück. Wie Gagarin im Osten, nachdem er sicher gelandet war:

Unten schimmerte das Band der Wolga. Sofort erkannte ich den großen russischen Strom und die Ufer. Alles war mir vertraut: Das weite Land, die Frühlingsäcker, die kleinen Wäldchen, die Straßen und Saratow, dessen Häuser sich in der Ferne wie Bauklötzchen auftürmten. Um 10.55 Uhr landete die „Wostock“ wohlbehalten an der geplanten Stelle, auf einem Sturzacker des Kolchos „Der Weg Lenins“ südwestlich der Stadt Engels, in der Höhe des Dorfes Smelowka.

Hunderte Milliarden US-Dollar und Rubel verpufften

Das Wettrennen um die größte Trägerrakete und den spektakulärsten Raumflug wurde nicht nur mit Blut bezahlt, auch war Geld – sehr viel Geld – im Spiel. Anfang der 1980er Jahre war es in den USA das kostspielige SDI-Programm, das die öffentlichen Haushalte strangulierte und die sozialen Spaltung vertiefte. Seitdem ist kaum Geld in neue Straßen oder Schulen geflossen, der US-amerikanische Schuldenberg reicht sinnbildlich höher als jemals ein Astronaut in den Himmel stieg.

Auch in den USA gab es fehlgeschlagene Raketentests, explodierten Trägersysteme auf der Rampe. Einen besonders schweren Schlag mussten die Amerikaner Ende Januar 1986 hinnehmen: Vor den Kameras der Weltpresse explodierte die Raumfähre Challenger, kurz nach dem Lift-off von Cape Canaveral. Sieben Insassen starben, daraufhin sagte die Nasa alle geplanten Starts für lange Zeit ab.

Nach dem Ruin kam die Erkenntnis

Die Sowjetunion wurde durch das Wettrüsten in den Ruin getrieben. Mit der ökonomischen Krise nach dem Zerfall der Union verfiel das Raumfahrtprogramm. Erst nach dem Ende des Millenniums und in enger Zusammenarbeit mit den Europäern kehrten die Russen als Raumfahrernation zurück.

Es scheint paradox, doch liegt Wahrheit darin: Das gnadenlose Wettrennen um die größte Bombe und die stärkste Rakete hat den Zusammenbruch des stalinistischen Systems beschleunigt.

Seit den 1990er Jahren suchten die Raumfahrer in den USA, in Europa und in Russland einen Ausweg: Sie haben ihre Zusammenarbeit internationalisiert. So entstand die Internationale Raumstation. Selbst Großmächte wie die USA oder China wären mit den Kosten überfordert.

Jüngstes Beispiel der Kooperation ist der Start der neuen Sojus-Rakete mit zwei russischen und einem amerikanischen Raumfahrer – pünktlich sechs Jahrzehnte nach Gagarins Jungfernflug. Ihr Ziel ist die Internationale Raumstation, die im Orbit kreist.

Mr. Allen will zum Mars

Kurz nach dem Millennium hatte ich Gelegenheit, persönlich mit dem Astronauten Joseph Allen zu sprechen. Allen gehörte zu ersten Generation der amerikanischen Raumfahrer, kannte John Glenn, Neil Armstrong und Wernher von Braun persönlich. Auf zwei Missionen des Space Shuttle flog er selbst ins All.

Anfang 2002 kam er nach Berlin, um in der American Academy zur Zukunft der Raumfahrt zu referieren. Ich war für eine Berliner Tageszeitung akkreditiert. „Die Internationale Raumstation, die zurzeit da oben entsteht, bietet uns erstmals ein großes Labor im All“, sagte Allen damals. „Das können Sie mit CERN in Europa oder den Fermi-Labors in Chicago vergleichen. Aber das Fernziel ist klar: Wir wollen zum Mars.“ Er fügte hinzu: „Technisch gesehen, könnten wir diesen entfernten Planeten ohne weiteres anfliegen. Die Frage ist, ob die dafür notwendigen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen fallen.“

Die Frage ist, ob es überhaupt sinnvoll ist, zum Mars zu fliegen. Denn grobe Schätzungen nennen 200 Milliarden US-Dollar, um diesen Planeten mit einer bemannten Mission zu erreichen. Das Geld wird auf der Erde dringend gebraucht – etwa im Kampf gegen die Armut und den Klimawandel.

Braunes, totes Gestein

Im Jahr 1997 hatte die amerikanisch-europäische Sonde Pathfinder erstmals Bilder von der Oberfläche des Mars zur Erde gefunkt. Die Fotos und die Proben wurden als wissenschaftliche Sensation gefeiert, aber im Grunde genommen war es nur braunes, taubes Gestein.

Ich diskutierte mit Joseph Allen darüber, später am Abend gesellte sich Reimar Lüst zu uns. Lüst war in den 1950er Jahren als junger Astrophysiker in den USA an den Fermi-Labs gewesen, leitete von 1963 bis 1972 das Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in Garching. Danach war er zwölf Jahre lang Chef der Max-Planck-Gesellschaft.

Von 1984 bis 1990 war Lüst der Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtagentur ESA. „Heute wird wissenschaftlicher Fortschritt vor allem durch große Geräte und teure Technik erreicht“, argumentierte er damals. „Aber die Regierungen sind nicht mehr so leicht bereit, die dafür notwendigen Mittel bereitzustellen.“

Zum Glück, möchte man sagen, denn der Kalte Krieg ist zumindest im Weltraum vorbei. Die Regierungen drücken irdische Sorgen, nicht nur wegen Corona. Allen prophezeite in seinem Referat, dass die Amerikaner und die Europäer – einschließlich der Russen – in den nächsten Jahrzehnten enger kooperieren. Dieser Aussage hat sich seitdem bewahrheitet.

„Es hat uns alle dramatisch verändert“

Allen sprach in der American Academy auch über seine persönlichen Eindrücke, die er von seinen Flügen mitgebracht hatte. „Wir sind die erste Generation auf dieser Welt, die ins All aufsteigen kann“, sagte er. „Das hat uns alle dramatisch verändert.“

In unserem Gespräch gingen seine Gedanken zurück, bis in die „goldenen“ 1960er Jahre, bis zum Beginn der Raumfahrt: „1968 war es, als wir von Apollo die ersten Fotos von der Erde erhielten, von unserem unglaublich schönen Planeten. 1968 war auch das Jahr, in dem die Umweltbewegung ihre Wurzeln hatte. Ohne diese Fotos wäre sie wohl undenkbar.“

Raumfahrer kennen keine Grenzen, heißt es. Denn sie haben die letzte Grenze, die Anziehungskraft der Erde, hinter sich gelassen, schwebten frei im All. Die intensiven Eindrücke der lautlosen Leere und des weiten Alls haben sie verändert, jeden von ihnen.

Nach der Rückkehr waren sie stiller, wissender

Mancher stieg als Soldat in die Kapsel, als Frontkämpfer des Kalten Krieges. Zurück kehrten sie verändert, stiller und wissender. Wenn Gagarin beschreibt, was er dort oben, dort draußen sieht, fällt die spröde, gezierte Sprache der Propaganda von ihm ab:

Für einen Moment erwachte in mir der Bauernsohn. Der vollkommen schwarze Himmel sah wie ein frisch gepflügtes Feld aus, und die Sterne waren die Saatkörner. Sie strahlten hell und klar. Auch die Sonne war außergewöhnlich grell. … Sie leuchtete wahrscheinlich um viele dutzendmal, ja vielleicht auch hundertmal heller, als wir es von der Erde aus kennen. … Um ihre blendenden Strahlen abzuschwächen, schob ich zeitweise den Schutzvorhang vor das Bullauge.

Die Raumfahrt hat zwei wesentliche Veränderungen auf die Erde gebracht – ungeachtet der Fotos aus dem Weltraumteleskop Hubble oder den Gesteinsproben von Mond und Mars. Joseph Allen hat das Foto vom blauen Planeten erwähnt – die Ikone der Friedensbewegung und der Umweltschützer.

Auch hat dieses Bild zum Sinneswandel in der Politik beigetragen, denn offenbar ist die Erde nicht nur schön, sondern auch verletzlich. Sie gehört allen Menschen, allen Völkern. Man kann davon ausgehen, dass die Raumfahrt – das Kind des Kalten Krieges – zum Ende der Konfrontation beigetragen hat.

Sonnenstrom für die Erde

Eine zweite Erfindung hat auf der Erde mittlerweile durchschlagenden Erfolg gezeigt. Um die Satelliten und Raumfähren mit Energie zu versorgen, entwickelten Amerikaner und Russen verschiedene Solartechnologien.

Die Photovoltaik, die Umwandlung von Sonnenlicht in elektrischen Strom, wurde zunächst aus den Budgets der Nasa und der sowjetischen Raumprogramms finanziert. Die Amerikaner favorisierten Siliziumzellen, die Sowjets setzten auf Verbindungshalbleiter mit Germanium als Substrat.

Gewaltige Sonnensegel wurden konstruiert, um die Flugkörper mit Strom zu versorgen. Seit dem Jahr 2000 hat diese Technik den Sprung zurück auf die Erde geschafft. Heute ist die Photovoltaik weltweit die Nummer Eins bei den Generatoren, hat Kohlekraftwerke und Atommeiler hinter sich gelassen. Keine Stromtechnik wächst so schnell wie die Solarkraftwerke. Sie ist sauber und so preiswert wie keine andere Technologie.

Auf seinem Erstflug hatte Juri Gagarin die Sonne vor Augen – grell und mächtig, wie nie ein Mensch vor ihm. Sechs Jahrzehnte später ist klar: Sein Flug markierte den Beginn des solaren Zeitalters auf der Erde.

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Samstag, 3. April 2021

Leseprobe im Video: Die Attacke aus dem Norden

Bei Grabungen in Aksum an der Grenze von Äthiopien und Eritrea wird Anderson von der magischen Schönheit des antiken Stelenfeldes überwältigt. Aber die Idylle währt nur kurz: Bomber aus dem Norden bringen den Tod über die kleine Stadt. Von einer Sekunde auf die andere hämmern Fäuste aus Stahl und Feuer auf die Erde. Panisch sucht Martin Anderson nach Deckung.

Martin Anderson reist in den Norden Äthiopiens, um historische Grabungen zu begleiten. Internationale Teams sind an der Grenze zu Eritrea damit befasst, die Überreste alter Kulturen ans Licht zu holen. Im Zentrum steht das antike Stelenfeld von Aksum, wo viele Archäologen das sagenhafte Goldland Punt vermuten. Schon die Pharaonen erwähnten Punt in ihren Fresken, auch in Aksum wurden Obelisken gefunden, groß und prächtig wie in Theben.

Am Abend wandert Martin Anderson über das stille Stelenfeld, ein magischer Ort unterm Sternenzelt. Antennen gleich recken sich die Säulen zur Milchstraße. Plötzlich brummen Motoren am Himmel, fliegen Bomber übers Hochland, das Äthiopien von Eritrea trennt. Augenblicke später wummern Geschütze, hängen die Kampfjets über der antiken Stätte und der kleinen Stadt. Plötzlich befindet sich Anderson mitten im Krieg, im Krieg des ewigen Nomaden …

Die Leseprobe aus dem zweiten Teil des Romans Nomaden von Laetoli wurde von H.S. Eglund eingesprochen und mit eindrucksvollen Aufnahmen aus verschiedenen Regionen Äthiopiens ergänzt. Auch sie stammen vom Autor, der dieses faszinierende Land mehrfach bereiste.

Hier finden Sie das Video. (Dauer: 9:46 min.)

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Leseproben als PDF-Texte

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© H.S: Eglund
  • Der Burgwall ruhte auf tausenden Eichenstämmen. © H.S. Eglund
  • Der Burghof heute mit dem Museum im Wall. © H.S. Eglund
  • Alltagsszene im Innenhof. © H.S. Eglund
  • Konstruktion der Wallmauern aus Holz, Erde und Steinen. © H.S. Eglund
  • Beispielhaft wurden Speicherhütten restauriert. © H.S. Eglund
  • Der Besucher taucht gleichsam in die Ausstellung hinab. © H.S. Eglund
  • Überraschend ist die Fülle der Artefakte in der Ausstellung. © H.S. Eglund
  • Der hohle Wall bietet überraschend viel Raum für die Vitrinen. © H.S. Eglund
  • Ein Blick in die Geheimnisse, die die Lausitzer Erde birgt. © H.S. Eglund
  • Die Brandenburger lieben die Kohle, schwelgen gern in der DDR-Vergangenheit. Es sei ihnen gegönnt. © H.S. Eglund
  • Die Häuser der Slawen waren geräumig. Sie wurden aus Holz und Stroh gebaut. © H.S. Eglund
  • Die Lausitz gehört zu den ältesten Kulturlandschaften in Mitteleuropa. © H.S. Eglund
  • Die Exponate werden anschaulich präsentiert und sehr gut erklärt. © H.S. Eglund
Samstag, 27. März 2021

Eine Burg in der Pampa

Die Gefilde südöstlich von Berlin sind schwer vom Kohleabbau und ehemaligen Schießplätzen gezeichnet. Bis zum Spreewald bei Lübben – und weiter darüber hinaus – ist das Land öde, flach und irgendwie grau. Doch manchmal glitzert ein Juwel im Sand, den die Eiszeit hinterließ. Ein Kleinod wie die Slawenburg von Raddusch.

Wenn man die Autobahn gen Dresden und danach bei Lübbenau Richtung Cottbus fährt, summt man unwillkürlich einen lokalen Ohrwurm, verfasst von Rainald Grebe:

Es gibt Länder, wo was los is.
Es gibt Länder, wo richtig was los ist, und es gibt
Brandenburg, Brandenburg.

Das Land ist endlos, flach und irgendwo an seinem Ende stoßen die Wolken gegen trockenes Gras. Der Boden ist karg und sandig, und überall sind die Spuren von intensiver Landwirtschaft und alten Tagebauen für die Braunkohle zu sehen. Der Barde singt:

In Brandenburg, in Brandenburg
ist wieder jemand gegen einen Baum gegurkt.
In Berlin bin ich einer von 3 Millionen.
In Brandenburg kann ich bald alleine wohnen,
Brandenburg.

Bis zum Spreewald gibt es kaum Erhebungen, an denen sich das Auge festhaken kann. Alles glatt wie ein Spiegel, und vor mehr als 12.000 Jahren war hier tatsächlich alles vereist. Mit dem Rückzug der Gletscher kamen die ersten Rentierjäger ins Gebiet; die ersten Brandenburger würde man heute sagen.

Brandenburg ist ja irgendwie in der Steinzeit hängen geblieben, munkeln die Berliner. In Raddusch, von der Hauptstadt ausgesehen hinterm Spreewald, findet das Auge plötzlich einen Haken: Eine alte Slawenburg wächst wie eine Schüssel aus dem Sand, in Sichtweite der Autobahn. Soso, is‘ ja interessant. Blinker gesetzt und rausgefahren.

Echt abgefahren, eine Überraschung in der Ödnis

Und wirklich: Die Burg ist abgefahren, eine echte Überraschung in der Ödnis unseres Nachbarlandes, also des Bundeslandes, das Berlin in alle Richtungen umschließt. Denn die sehr aufwändig und liebevoll hergerichtete Burg beherbergt ein spannendes Museum. Natürlich kommt auch diese Ausstellung nicht umhin, ein Loblied auf den Kohlebergbau zu singen. Schwamm drüber, is‘ halt Brandenburg. Die Leute dort scheinen Kohlendreck unter ihren Nägeln irgendwie zu lieben.

Doch das gehört zu Brandenburg, der Berliner ist tolerant. Davon abgesehen sind die Exponate richtig interessant. Als die Rentierjäger das einstmals vereiste Terrain eroberten, gab es noch keine Slawen und keine Germanen. Es gab Menschen, die das Beste aus den natürlichen Bedingungen machten. Mit erstaunlichem Erfindungsreichtum.

Nachbildung eines Refugiums

Die Slawenburg Raddusch ist die weitgehend originalgetreue Nachbildung einer Fluchtburg, wie sie am Ende des ersten Jahrtausends nach der Zeitenwende in der Niederlausitz häufig errichtet wurden. Rund 40 solcher Zufluchtsstätten sind in der Region bekannt. Damals war das Gebiet hart umkämpft, bildete es doch die Grenze zu den Sachsen, die nach Norden in slawische Gebiete drängten.

Die Burganlage besteht aus einem starken Wall, der etwa auf das Jahr 880 datiert wird. Er ist rund zehn Meter breit. Das Gerüst der gewaltigen Wehrmauern besteht aus dicken Eichenbalken, die in wechselnder Ausrichtung aufeinander liegen. Die Zwischenräume wurden mit Erde und Steinen verfüllt. Dem Wall vorgelagert ist ein Graben, über den zwei Brücken ins Innere des massiven Rondells führten.

Innen bietet der annähernd runde Wall eine Fläche mit 35 bis 36 Metern Durchmesser, auf der Hütten standen. Um 930 wurde die Burg erneuert, der Wall verbreitert und erhöht. Ein Jahr zuvor hatten sich die Ostfranken ins Slawenland vorgepirscht. Im Jahr 929 gründete Heinrich I. die Burg Meißen, drei Jahre später machte er die slawische Bevölkerung in der Lausitz tributpflichtig.

Unzählige Artefakte ausgegraben

Um 950 wurde die Wehr erneut ausgebessert. Nun hatte der Wall eine Breite von 20 Metern. Das ging auf Kosten der inneren Fläche, ihr Durchmesser schrumpfte auf 28 Meter. Entscheidend für die Durchhaltefähigkeit der Bewohner im Kriegsfall waren vier Brunnen, später wuchs ihre Zahl auf sechs. Diese wurden mit Holzstämmen in Kastenbauweise ausgekleidet und reichten rund zwölf Meter tief.

Bei Ausgrabungen kamen aus der Tiefe dieser Brunnen viele Artefakte zum Vorschein: Keramikscherben, Messer, Lanzenspitzen, Wetzsteine, Schlittschuhe aus Knochen, hölzerne Schlägel und Spaten und eine wertvolle Schale aus Messing.

Im Jahr 963 siegten die Sachsen endgültig über die Lausitzer Slawen, damit war das Ende der Burg gekommen. Die Anlage verfiel und geriet nahezu in Vergessenheit.

Ackerland für die Kolchose

Im 20. Jahrhundert war sie noch als baumbestandener Ring sichtbar, der sich leicht über das Flachland erhob. Bis 1984 fuhren die Traktoren und Mähdrescher der naheliegenden Kolchose (DDR-deutsch: LPG) darüber hinweg, denn das Terrain wurde beackert. Mitte der 1980er Jahre blieb lediglich ein sanfter Hügel von drei Metern Höhe und 85 Metern Durchmesser erhalten.

In dieser Zeit wurde der neue Tagebau Seese Ost geplant. Bevor sich die Riesenbagger durch die Landschaft fraßen, nahmen sich Archäologen der Sache an. Sie retteten, was zu retten war. Zunächst stellten sie fest, dass die Slawen nicht die ersten Siedler am Ort waren. Unter dem Wall fanden sich germanische Überreste aus der Zeit der Völkerwanderung im fünften und sechsten Jahrhundert.

Die frühesten Funde stammen gar aus der späten Bronzezeit und frühen Eisenzeit. Sie deuten auf eine Siedlung hin, die rund 700 vor Christus errichtet worden war.

Bagger stoppten kurz vorm Wall

Mit der Wende und der deutschen Wiedervereinigung kam das Aus für die Kohlemeiler in Lübbenau und Vetschau. Die Bagger stoppten nur wenige Hundert Meter vor dem Bodendenkmal. Mit Geld aus der Bergbausanierung wurde die heutige Slawenburg errichtet und mit dem kleinen, aber feinen Museum ausgestattet.

Die Ausstellung ist im Inneren des Walls versteckt. In diesem Segment besteht der moderne Wall aus einem verblendeten Betonhohlkörper, der erstaunlich geräumig ist und vielen Exponaten eine Heimat bietet. So gerät der Besucher auf eine Zeitreise von der Eiszeit bis zum Mittelalter. Der Burghof zeigt restaurierte Hütten und den Nachbau eines Brunnens, sowie Szenen aus dem Alltag der slawischen Bewohner.

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© Ko-Hum
Samstag, 20. März 2021

Neuer Trailer: Im Fluge nach Ostafrika

Auf den sozialen Kanälen macht ein neues Video zum jüngsten Roman von H.S. Eglund die Runde. Eindrucksvolle Bilder und ein exotischer Soundtrack – eigens für den Buchtrailer komponiert – unterstreichen die packende Handlung. Auch der Autor selbst kommt zu Wort.

Der neue Roman Nomaden von Laetoli von H.S. Eglund spielt im heißen, trockenen Osten Afrikas – im Rift Valley und an der Küste des Indischen Ozeans. Die Handlung verbindet Archäologie, Anthropologie, Geschichte, vielfältige Kulturen, Politik und authentische Charaktere – vor der einzigartigen Kulisse der Vulkane, Savannen, Inseln und Gebirge.

Der junge Wissenschaftler Martin Anderson steht vor einer glänzenden Karriere. Ihn erreicht ein Ruf von Professor Miller, einer Koryphäe der Archäologie. In Laetoli in Tansania forscht Miller an Millionen Jahre alten Fossilen menschlicher Vorfahren. Der alte Kauz behauptet: Ich habe die ersten Menschen gesehen! Hat ihn der Afrikakoller erwischt?

Andersons Reise verschlägt ihn ins Rift Valley und zur Serengeti, nach Axum im Norden Äthiopiens und auf die Insel Sansibar. Unbedingt will er die Wiege der Zivilisation finden. Doch das dunkle, heiße Afrika entzieht sich jeder Logik. So gerät die Expediton des jungen Forschers zur Suche nach sich selbst. Andersons Verwirrung wächst, als er Sewe Akashi begegnet, Millers junger Assistentin.

Der Roman ist soeben im ViCON-Verlag in der Schweiz erschienen und im Buchhandel lieferbar.

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© H.S. Eglund/Romeon
  • So kalt und grau kann Berlin sein: Blick auf die Danziger im Prenzlauer Berg. © H.S. Eglund
  • Ödnis des Lockdowns: Leere in der Kulturbrauerei. Was fehlt? Ein Gedicht! © H.S. Eglund
  • Sogar die Häuser ducken sich gegen den grauen Regen. © H.S. Eglund
  • Grau verrät die Abwesenheit von Himmel. © H.S. Eglund
  • Heute geht die Sonne zweimal auf. © H.S. Eglund
  • Dies' Fenster im Gegenlicht/Ist selbst ein Gedicht, ein Gedicht © H.S. Eglund
Samstag, 13. März 2021

Lyrik (I): Der ferne Hügel

Seit dem Amtseid von Joe Biden tobt in den Feuilletons ein Streit, ob Amanda Gormans Poem The Hill We Climb gute Lyrik ist, und wer es übersetzen darf. Ein grauer Tag brachte die Erkenntnis: Gute Lyrik schaut Dir über die Schulter wie ein Freund. Sie schmeckt hell - wie ein Schluck vom Elixier des Lichts.

Spätwinterliche Tiefdruckgebiete sind ein Gräuel. Lange währte der Winter, war lange eisig und dunkel, und dazu die lange Ödnis des Lockdowns. Kurz keimte die Sonne, brachte helle, warme Tage. Und nun erneut der Absturz in die Finsternis.

Früher, als es noch gedruckte Zeitungen gab, wühlte man sich an solchen Tagen durch die Feuilletons. Heute kriegt man die Newsletter von Volltext und Perlentaucher, komprimierte Listings der aktuellen Debatten.

Doppelplusungut für weiße Übersetzer

Ganz offenbar herrscht in den Hirnen der Redakteure gleichfalls tiefer Druck. Denn ersthaft wird gestritten, ob Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb wirklich gelungen ist. Und ob es übersetzt werden sollte, und vor allem: Von wem? Zwei weißhäutige Übersetzer*innen wurden bereits abgelehnt.

Sie erhielten das Prädikat Doppelplusungut, ihr Profil passe nicht. Gemeint ist: Ihre Hautfarbe ist falsch, ihnen fehlt der Migrationshintergrund. Dabei wendet sich Amanda Gorman ausdrücklich gegen die Trennung der Geschlechter, der Rassen, der Portemonnaies. Sie sagt WE, WIR, wie Barak Obama: „Yes, we can!“

Der Streit geht also weiter. Amanada Gormans Gedicht (und andere Gedichte von ihr) stehen turmhoch darüber. Denn ihr Fundament reicht tief, sehr tief. Lyrik ist so alt wie des Menschen Gedächtnis, älter als die Schrift, älter als alle Schriften. Sie ist Oral History, das unmittelbar gesprochene Wort in akzeptabler Form, um es aus dem Alltagsgeschwätz zu heben.

Lyrik ist das ewige Lied des Menschen, von dem Beethoven sagte: „Wir Sterbliche mit den unsterblichen Seelen“.

Der glückliche Sisyphos

Was ist gute Lyrik? Die Suche nach dem Hügel, den es zu erklimmen gilt? Dieser Hügel bleibt immer fern. Nicht der Gipfel ist das Ziel, sondern der Aufstieg. Ein Experte für dieses Thema ist Reinhold Messner, von dem der schöne Satz stammt: „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“

Immer neu antreten. Immer aufs Neue bereit für den Aufstieg, auch wenn er mühselig ist. Weil er mühselig ist. Das Ziel bleibt unerreichbar, es ist Fata Morgana und Utopia und Ultima Thule zugleich, und an grauen Tagen liegt es unsichtbar hinter dem bleichen, regenverhangenen Himmel.

Gute Lyrik ist wie ein warmer, heller Strahl des Sonnenlichts, das Dich trifft, wie ein Blick aus den Augen eines Freundes. So gesehen, war Gormans Poem wirklich gut, richtig gut. Denn die junge Frau hatte den Mut, den Popanz der Amtseinführung eines US-Präsidenten in den Schatten zu stellen.

Mal was neues, etwas wirklich neues: Hoffnung auf ein anderes Amerika, auf eine andere Politik. Einen Moment lang wurde der politische Apparat geerdet, verpflichtet und auf neue Weise vereidigt. Ich war an Carl Sandburgs berühmtes Gedicht erinnert: I am the people, the mob, the crowd, the mass! Und an Walt Whitmans For you these from me, O Democracy, to serve you!

Jeder pickt sich heraus, was er braucht

Das war die laute, die medienwirksame Seite des Auftritts der jungen Frau. Die Debatte, wer das Gedicht übersetzen darf, ist dagegen völlig unwürdig. Denn bekanntlich lässt sich nichts so schwer übersetzen wie Lyrik oder Liedtexte, und am Ende pickt sich ohnehin jeder heraus, was er braucht.

Lyrik ist Gebrauchsware, Ausdruck des Augenblicks – egal, ob im Licht der Scheinwerfer oder abseits in dunkler Ecke. Mir geriet dieser Tage ein schmales Bändchen in die Finger, Gedichte von Klara Günther: Aus der Dunkelheit ins Licht. Anders als Frau Gorman ist Frau Günther völlig unbekannt. Das hat mit der Qualität der Gedichte nichts zu tun, denn jede Leserin und jeder Leser empfängt ein Gedicht auf eigene Weise, unter eigenen Vorzeichen.

Zu feige zum Suicid

Auch Klara Günther hatte den Mut zum Gedicht, und allein deshalb ist das Büchlein wert, angeschaut zu werden. Denn nach wie vor treibt mich die Frage um: Was ist gute Lyrik? Das Thema von Amanda Gorman ist die soziale, kulturelle und politische Emanzipation von Schichten, die nicht zum ökonomischen und politischen Establishment gehören.

Bei Klara Günther geht es um etwas anderes: „Zum Suicid zu feige, entschied ich mich, nach dem Licht zu suchen“, schreibt sie im Vorwort. Sie hätte ebensogut schreiben können: „Zum Suicid zu feige, schrieb ich ein Gedicht. Weitere folgten.“

Das ist authentisch, das trifft mich, denn ich habe innerhalb eines Jahres zwei gute Bekannte verloren. Sie haben den Kampf gegen die Depression nicht gewonnen, obwohl ich mir bei diesem Urteil nicht wirklich sicher bin. Vielleicht haben sie ihn auf ihre Weise entschieden, durch die letzte, eigene Tat. Als ultimative Verweigerung gegen das Grau des Alltags und den Irrsinn dieser Welt.

Die Illusion verweigert

Günthers Vorwort verweigert dem Leser jede Illusion: Wirklich gute Gedichte kommen nicht in die Welt, um das Publikum zu ergötzen. Sie sind unmittelbarer Ausdruck einer Not, von Leid, und manchmal einer Hoffnung, eines Ziels. Das gilt für Gorman, das gilt für Klara Günther (wie auch für Sandburg und Whitman).

Deshalb finden sie ihr Publikum, weil wir alle irgendwie im Aufbruch stecken, unser Leben lang. „Du wärst der denkende Mensch nicht, wärst Du nicht der leidende, gärende Mensch gewesen“, sagt Diotima zu Hyperion. Und in Patmos schreibt Hölderlin:

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Im Finstern wohnen
Die Adler und furchtlos gehen
Die Söhne der Alpen über den Abgrund hinweg.

Furcht, Gefahr auf der einen Seite; Rettung und Licht auf der anderen. Gute Lyrik strahlt aus wie das Echo in den Schweizer Bergen, das sich an vielen Graten bricht. Ob es ein menschliches Ohr erreicht, und von dort ein Hirn, ein Herz, das entscheidet der Empfänger selbst und allein. Der Physiker spricht von Resonanz: schwingen in gleicher Frequenz. Klara Günther formuliert es auf diese Weise:

Gedichte
…
Verdichtet.
Gemalt mit Worten.
Sie auszudruecken
befreit mich
von innerem Druck.

So geraten die Gedichte zum Kommentar ihrer inneren Reise, die gegen die äußere Reise steht, oft im Widerspruch, im Zweifel, manchmal stimmig mit sich im Reinen. Gedichte sind Selbstbefreiung, zumindest wie Günther sie praktiziert, und sie ermuntern, nichts unversucht zu lassen:

Viel zu oft
habe ich mich
auf der Suche
nach mir
verlaufen
und in fremden Gärten
nach meinem Schatz
gegraben.

Gedichte werden aus Unzufriedenheit geboren, aus der Gischt stürmischer Wellen im Innern. Sie sind der Schaum unserer Tage – ohne Alltag, vom äußeren Anschein und anerzogener Disziplin entkleidet. Jede Leserin und jeder Leser muss entscheiden, ob dieses Senkblei in die Tiefe der Psyche auch ihre oder seine Tiefenströmung auslotet, berührt oder aufzuwühlen vermag.

Klara Günther pflegt keine besonders kunstvollen Wortschnörkel. Mir gefällt, das sie geradewegs auf ihr Ziel losstapft. Hier ein Beispiel aus dem Gedicht Zeit:

Ich glaube
es ist an der Zeit,
mich zu besinnen,
auf das,
was seit Jahrhunderten
oder Jahrtausenden
in mir ist.

Man kann das banal nennen: schon tausendmal gesagt – so oder auf ähnliche Weise. Das stimmt. In zehntausend Jahren menschlichen Ausdrucks ist alles Wesentliche bereits gesagt und erzählt, vom ersten Schamanen über Shakespeare bis zu zeitgenössichen Poetinnen in Washington oder im fränkischen Dorf.

Das ist überhaupt nicht schlimm. Im Gegenteil: Offenbar gibt es etwas unveränderliches, unzerstörbares, dass sich ähnlicher Worte bedient, um sichtbar und fühlbar zu werden. Jede neue Generation, jeder neue Mensch ist gefordert, seine Worte für den inneren Aufruhr zu finden. Sich mit Begriffen, Bildern und Gefühlen in der Welt – im Leben – auf neue Weise einzuordnen, zu verorten, den eigenen Kurs zu bestimmen.

Ins Risiko gehen

Freilich, das muss man nicht tun. Man muss keine Gedichte lesen, man muss diesen Blog von Eglund nicht lesen. Man kann Musik hören, sie entfaltet eine ähnliche Resonanz; man kann Bilder anschauen oder einfach nichts tun – eins mit sich und Haus, Auto und Netflix.

Alles schick. Nur eins dürfte nicht funktionieren: Leben ohne Risiko. Denn Leben ist Risiko, wie Klara Günther schreibt:

Wenn ich nichts riskiere,
riskiere ich
zu sterben bevor ich gelebt habe.

Der Tag ist grau und nass und kalt, widerlich kalt. Det is Berlin, Keule, riskante Sache. Irgendwie habe ich das Gefühl, auf meine Frage keine wirklich überzeugende Antwort gefunden zu haben: Was ist gute Lyrik? Bleibt also ein Thema, ich komme darauf zurück. Der Weg ist das Ziel, und Sisyphos ein glücklicher Mensch.

Gedichte von Klara Günther:
Aus der Dunkelheit ins Licht
Romeon Verlag, Kaarst, 2017
ISBN 978-3-96229-029-0

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Der erste Journalist der Zeitenwende

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© H.S. Eglund
  • Arminius als Zwitter von römischem Kaisertum und Deutschem Reich nach 1871. © H.S. Eglund
  • Das Hermannsdenkmal ist historisierender Kitsch. Auf alle Fälle einen Besuch wert. © H.S. Eglund
  • © H.S. Eglund
Sonntag, 7. März 2021

Der erste Journalist der Zeitenwende

Vor 1.900 Jahren erschien der erste Reiseführer über die Lande der Teutonen. Sein Autor war Tacitus, er schrieb vom Hörensagen. Der erste Journalist nach Christi Geburt war auch der erste, der die seltsame Gemütsart der Germanen erklärte: Treue.

Der römische Politiker Tacitus ist Lateinern bekannt als erster Autor unserer Geschichtsschreibung: In den Annalen, die er zwischen 115 bis 117 verfasste, zeichnete er die römische Politik vom Tode des Kaisers Augustus bis zum Selbstmord Neros nach.

Tacitus selbst, der um 55 in Rom geboren wurde und um 121 starb, hatte etliche römische Kaiser überlebt, darunter Vespasian, Titus und den blutigen Despoten Domitian.

Unter diesen machte er Karriere: als Redner, Politiker, Beamter und Autor. Kaiser Titus erhob ihn in den Senatorenstand. Kaiser Nerva machte ihn zum Konsul, unter Trajan wurde er Prokonsul für Asien, was damals in etwa dem heutigen Kleinasien entsprach. Etwa 121 starb er, vier Jahre nachdem Hadrian den Kaiserthron in Rom bestiegen hatte.

Die Geschichte der Schönen und Reichen

Tacitus schrieb Historia als Geschichte der Kaiser, der Schönen und Reichen. Einfache freie Bürger oder Sklaven kamen darin nicht vor. Auf diese Weise prägte er das Fach bis ins 19. Jahrhundert – bis soziale und ökonomische Triebkräfte in der Geschichtswissenschaft aufkamen.

Er war zugleich der erste Journalist. Denn er verband zwei wichtige Tugenden, auf die sich besonders namhafte Journalisten bis heute berufen: Er berichtete vom Hörensagen. Und er servierte seinen Lesern weniger Berichte, mehr Bewertungen. Er hob die Trennung von Meinung und Fakt auf, bevor sie sich in der jungen Branche der Schreiberlinge etablieren konnte.

117 erschien Germania

117 erschien sein Werk Germania. Man könnte das Pamphlet als erste Auslandsreportage, als ersten Reiseführer bezeichnen. Germania bezeichnete seinerzeit die Regionen östlich und nördlich des Limes: von den Galliern im Westen und Rätern im Süden an den Alpen, von Rhein und Donau begrenzt, im Norden das Weltmeer.

Gleich zu Beginn seines Traktats schrieb der Historienbarde: „Wer hätte Lust verspüren sollen, Asien oder Afrika oder Italien zu verlassen und Germanien aufzusuchen, dieses unwirtliche Land mit seinem rauhen Klima, trostlos zu bebauen und zu beschauen.“

Erst das Urteil, dann die Fakten

Ein weiteres klassisches Beispiel, wie man den Gegenstand der Darstellung von vorneherein verunglimpft: Er bezeichnete die Germanen als gefährlichste Feinde Roms. Damit war das Schema festgelegt, dass man heute in jeder Tageszeitung lesen oder auf jedem Fernsehkanal sehen kann: Erst kommt das Urteil, dann die entsprechende Begründung, faktisch getarnt.

Tacitus hat Germanien nie bereist, zumindest sind dafür keine Beweise überliefert. Der Limes am Rhein und südlich des Siedlungsgebiets der barbarischen Völker bis zur Donau bei Regensburg war für ihn eine Grenze zur Wildnis, „faktisch vollständig von Wald und schaurigen Sümpfen bedeckt“, wie uns der antike Autor wissen lässt.

Ein Trauma wie später Stalingrad

Seine Informationen bekam er wohl von römischen Soldaten und Kaufleuten, die sich in den unwegsamen Dschungel wagten, um mit Fellen, Bernstein und Silber zu handeln. Der ganze Report ist geprägt von Angst und Abscheu, vom Trauma der Varusschlacht, als die Germanen im neunten Jahr der Zeitrechnung drei römische Legionen samt deren Hilfstruppen vernichteten – auf eigenem Boden, im Teutoburger Wald im heutigen Ostwestfalen. Drei Legionen – das war ein Achtel des römischen Heeres.

Und so ergibt sich bei der Lektüre eine erstaunliche Parallele zur Berichterstattung unserer Tage beispielsweise über Russland, die auf ähnliche Weise vom Trauma der Schlacht bei Stalingrad geprägt ist.

Derselbe arrogante Ton

Da kehrt derselbe arrogante Ton wieder, um die Ängste und Minderwertigkeitsgefühle zu übertünchen, derselbe Hochmut der Verlierer: Der Römer als Träger der Hochkultur, der Germane als Barbar: „trotzige blaue Augen, rotblondes Haar und hoher Wuchs, bei Durst und Hitze werden sie weich, aber gegen Kälte und Hunger sind sie durch das Klima und die kargen Böden abgehärtet“.

Bei Detmold steht das Hermannsdenkmal, für Hermann – Armin – Arminius, den Fürsten der Etrusker im Kampf gegen die römischen Eindringlinge. Es zeigt den Germanen als römischen Feldherren, ein historisierendes Klischee, reiner Unsinn, aber politisch opportun – berief sich das Deutsche Reich doch ausdrücklich auf klassische Vorbilder. Die preußischen Könige – ab 1871 die deutschen Kaiser – sahen sich in Ahnenlinie mit Cäsar, Vespasian und Titus, als neue Blüte neoklassizistischer Hochkultur.

Waldmenschen aus dem Osten

In den Augen der Römer hätte die Varusschlacht schlimmer nicht laufen können: Ein ungehobelter Haufen schmutziger Waldmenschen hatte die geordneten und geschulten Legionen des Kaisers niedergemezelt.

Das traf ins Mark der römischen Überlegenheitsfantasien. Dazu Tacitus: „Die Germanen hatten kaum Eisen im Gebrauch. Schwerter und Lanzen gab nur es wenige, nur Speere (Framen mit kurzer Eisenspitze) und Schild.“ Zur Schlacht ordneten sich die Germanen in keilförmigen Haufen, sie seien „meistens Krieger zu Fuß“.

Zunächst hatten Römer diese Wilden gut im Griff. Statthalter Varus hatte einen guten Teil der Wälder östlich des Rheins erobert. Sein Vasall Arminius jedoch wechselte in die Opposition, historisch sind die genauen Hintergründe verworren. Freilich – Tacitus gibt die Schuld am Krieg dem östlichen Nachbarn: „Diesem Volke behagt die Ruhe nicht.“

Wenn die Germanen nicht gerade mit Krieg beschäftigt seien, gehen die Männer auf die Jagd oder ruhen aus. „Die Sorge für Haus, Hof und Feld bleibt den Frauen, den Alten und allen Schwachen im Haushalt überlassen.“

Unerhört rückständig

Für römische Augen war das unerhört rückständig, denn die freien Bürger Roms ließen die Arbeit von Sklaven verrichten – zu denen auch Germanen gehörten. Überhaupt war Germanien wenig verlockend: „Getreide gedeiht gut, Edelobst dagegen gar nicht.“ Oder: „Viehherden sind der Germanen einziger und liebster Reichtum.“

Es gab weder Gold, noch Silber. Die Frage, warum die Römer überhaupt den Rhein überschritten hatten, lässt Tacitus unbeantwortet – er stellt sie nicht einmal.

Dennoch sind Details seiner Reportage interessant. Denn sie zeigen einen anderen Entwicklungsweg, den die Völker und Stämme Germaniens beschritten, ein anderes Verständnis von Herrschaft und Macht.

Nur Priester durften töten

Beispielsweise durften die germanischen Könige und Herzöge ihre Untertanen nicht töten, fesseln oder schlagen. Das war ausschließlich den Priestern vorbehalten – etwa für Menschenopfer, die sie Merkur widmeten. „Merkus genießt die höchste Verehrung“, schreibt Tacitus, und: „Herkules und Mars werden durch Tieropfer gnädig gestimmt“.

Ein Teil der Sueben (Schwaben) opferte der Isis, der altägyptischen Göttin der Geburt und der Magie, auch als Totengöttin bekannt. Diese Religion hatte sich von den Ägyptern über die Griechen und Römer erhalten.

Die Germanen liebten Vorzeichen und Losorakel, das haben sie sich bis heute bewahrt. Der Vogelflug wurde gedeutet, ebenso die Mahnungen von Pferden, vor allem der schneeweißen Rosse in heiligen Hainen und Lichtungen.

Ein Volk ohne Steuern

Anders als die Römer mit ihren sozial sehr fest gefügten Kasten pflegten die Germanen einen eher demokratischen Umgang: Der Thing der Freien entschied über alle wichtigen Fragen. Die Fürsten hatten keine Befehlsgewalt, nur Vorschlagsrecht. Sie wurden gewählt und waren in ihren Gauen als Richter tätig.

Auch kannten die Germanen damals noch keine Steuern. „Man gibt seinem Fürsten unaufgefordert etwas ab“, weiß Tacitus zu berichten. Die Kehrseite der Medaille: Ein solch hinterwäldlerisches Gemeinwesen konnte niemals die stolze Größe Roms erreichen. Tacitus: „Nicht einmal behauene Steine oder Ziegel benutzen die Germanen, nur unbehauenes Holz.“ Und: „Einige Stämme der Germanen sind in Tierfelle gekleidet.“ Die Kinder seien „mangelhaft bekleidet und ungepflegt“.

Plötzlich wechselt der Ton

Doch plötzlich wechselt der Ton. Wenn Tacitus von den Frauen der Germanen schreibt, scheint er eine ferne, nebulöse Geliebte zu beschwören, ein Wunschbild. Das hat er mit den Romanen von Konsalik gemeinsam, in denen Russinnen nur als sexhungrige Hexen oder sittsame Engel skizziert sind.

Tacitus wählte die Engel: „Den Frauen der Germanen ist eine gewisse Heiligkeit und Sehergabe eigen“, lässt er uns wissen. So erwähnt er Veleda, die unter Vespasian als göttliches Wesen verehrt wurde. Veleda vom Stamm der Brukterer hatte germanische Siege gegen die römischen Fremdherren prophezeit.

Und der römische Schreiber lobte ausdrücklich die germanische Zucht: „Gleichwohl halten die Germanen strenge Zucht in der Ehe, und wohl keine ihrer Sitten verdient höheres Lob, denn fast als die einzigen von allen nichtrömischen Völkern begnügen sie sich mit nur einer Gattin.“

Die Mitgift brachte der Mann in die Familie der Frau ein. Zudem kannten die Germanen bereits die Primogenitur, die Vererbung des Besitzes an die ältesten Söhne. Man erbte auch die Freundschaften und die Feindschaften des Vaters oder von Blutsverwandten.

Ein Saft, so ähnlich wie Wein

Andererseits galt: „Geselligkeit und Gastfreundschaft pflegt kein anderes Volk eifriger“, wie Tacitus schreibt. „Irgendeinem Menschen, wer es auch sei, kein Obdach zu gewähren, gilt als Sünde.“

Schon damals erkennt er den Hang der Germanen zum Gelage: „Tag und Nacht durchzutrinken ist für niemanden eine Schande.“ Ihr Lieblingsgetränk ist ein „Saft aus Gerste oder Weizen, der infolge von Gärung eine gewisse Ähnlichkeit mit Wein hat“.

Und als erster Literat überhaupt erwähnt Tacitus die Treue der Germanen. Sie seien von blinder Leidenschaft für das Würfelspiel besessen. „Wer verliert, geht freiwillig in die Knechtschaft, er lässt sich binden und verkaufen. Sie selbst nennen es Treue.“

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© Rebecca Budd
Sonntag, 28. Februar 2021

Podcast: Hässlichkeit weitet Horizonte

Clanmother Rebecca Budd aus Vancouver hatte sich für die neue Folge von Tea, Toast & Trivia ein besonders spannendes Thema ausgesucht: Hässlichkeit, neudeutsch Ugliness. Kundiger Gesprächspartner war Klausbernd Vollmar aus Cley-next-the-Sea in Norfolk. Mit ihm hatte sie bereits über Farben und Schönheit gesprochen. Der Podcast beweist: Hässlichkeit ist viel interessanter, denn sie berührt die Dämonen in uns selbst.

Der neue Podcast von Clanmother Rebecca Budd mit dem Psychologen Klausbernd Vollmar wagt sich an ein heißes Eisen: Über Schönheit reden alle gern, sie ist en vogue. Das Hässliche, die Hässlichkeit hingegen sind beinahe tabou. „Darüber wird selten gesprochen“, führt Klausbernd Vollmar ein.

Denn Hässlichkeit berührt unangenehme Dinge: Exkremente, Krankheiten oder Enstellungen. Narben sind hässlich, oder Zeichen von Alterung: Falten, Flecken, schlaffe Haut und Fett. Ein spezieller Zweig der Chirurgie lebt davon, die Zeichen der zunehmenden Hässlichkeit in zeitlose Schönheit umzumünzen. Schönheit vergeht, Hässlichkeit nicht – allen Skalpellen und Lasern zum Trotz.

Ein Wort der Furcht, der Angst

Ugliness, wie es im Englischen heißt, stammt vom Wikingerwort für Furcht, ist skandinavischen Ursprungs, wie Klausbernd Vollmar erläutert. Hässlichkeit im Deutschen geht auf Hass zurück, ebenso ein Ausdruck von Furcht und Angst.

Hass verursacht entstellte Fratzen, unkontrollierte emotionale Ausbrüche, die die Angst kaschieren sollen. Die Angst vor dem Unbekannten – das uns bei näherem Hinsehen nicht selten sehr vertraut ist. „Jemand, den man als hässlich bezeichnet, empfindet man als eklig oder unattraktiv“, sagt Klausbernd Vollmar. „Andererseits erzeugt Hässlichkeit eine starke Anziehungskraft. Sie zwingt uns, zweimal hinzuschauen.“

Ausbruch aus der Norm des Kollektivs

Wenn Schönheit die kollektive Norm des Wünschenswerten, des Erstrebten umfasst, beschreibt Hässlichkeit die Abweichung von dieser Norm, die Antithese. „Niemand möchte sich mit Häßlichkeit identifizieren“, meint Vollmar.

Und doch steht Hässliches, Monströses offenbar hoch im Kurs: Seit Hieronymus Bosch und Vincent van Gogh gehören hässliche Motive zu den anerkannten Elementen der Kunst. Obwohl Hexen und Juden (und andere Feindbilder) über Jahrhunderte als hässlich galten, um sie auszugrenzen, sind betont hässliche Charaktere in Film und Fernsehen von magischem Wert: Gollum oder Sauron aus Herr der Ringe, die Sith in Star Wars, das Biest in Beauty and the beast, Mary Shelleys Frankenstein, der Glöckner von Notre Dame von Victor Hugo oder Salvatore in Der Name der Rose, so herrlich verkörpert von Ron Perlman.

Das Monströse kultivieren

Seit dem Einzug der Computertricks wird die Filmindustrie, werden die Computer Games überflutet von nie zuvor erschauten Monstern. Sie kultivieren das Abstoßende, das rebellische Element, das sich der Schönheit verweigert – und garantieren Aufmerksamkeit. „Zweimal hinschauen“, wie Klausbernd Vollmar sagt, bevor er aus Shakespeares Macbeth zitiert: „Foul is fair and fair is foul.“ Schönheit vergeht, das Hässliche bleibt.

Denn die Welt ist nicht schön, sie ist mitunter hässlich, sehr sehr hässlich. Um das zu verstehen, muss man genauer hinschauen, sich das Hässliche erschließen. Man muss die Angst überwinden, die sie impliziert.

Zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Kulturen wurde Hässlichkeit verschieden genormt und interpretiert. Heute bietet sich durch die Omnipotenz von Hässlichkeit in den Medien die Chance, die Ängste und Vorbehalte zu überwinden.

Eine Übung in Toleranz

Diente Hässlichkeit früher vor allem dazu, auszugrenzen und Feindbilder zu pflegen, tragen die modernen Medienmonster nicht selten menschliche Züge. Sie spiegeln die Dämonen, die in jedem von uns stecken. So wird „zweimal hinschauen“ zur Toleranzübung.

Für die Cineasten unter uns: Paradebeispiele sind die Genese der Monster in Alien, der kleinen Felldinger in Gremlins, der Schaben in Men in Black oder der außerirdischen Grünlinge in Mars Attacks. Ganz großes Kino …

Verwirrende Distanz

Schönheit verspricht Schutz und Sicherheit, Hässlichkeit verwirrt und zwingt, die emotionale Distanz durch offenes Herz und freien Geist zu überwinden. Sie kann sogar Spaß machen, wie die sehr erfolgreiche Rocky Horror Picture Show beweist. Und bei Beauty and the Beast steckt hinter der Fratze des Monsters ein Prinz, wie beim Froschkönig.

Dieses Nugget hinter der hässlichen Fassade zu entdecken, ist Goldgräbertum, oft mühselig und fruchtlos, aber manchmal, mit viel Glück …

Ganzheitlichkeit akzeptieren

Der Podcast ist verhältnismäßig lang, mehr als eine halbe Stunde. Der feinen Gesprächsführung von Clanmother Rebecca ist zu verdanken, dass er nie langweilig oder zum einseitigen Monolog gerät. Die Suche nach Verständnis für das Hässliche, sagt sie sinngemäß, ist die Chance, die es für den Betrachter birgt. „Hässlichkeit zu akzeptieren, bedeutet, die Ganzheitlichkeit zu akzeptieren“, bringt sie es auf den Punkt. „Denn sie gehört zum Leben.“

Die Welt – in uns und um uns – ist nicht nur in Schönheit und Licht und wunderbaren Farben gemalt. Sie ist real und somit durchaus hässlich. Die Angst davor zu überwinden – bis zur Angst vorm hässlichen Tod – öffnet neue Horizonte.

Urängste befragen und bewältigen

So gesehen sind betont abstoßende Subkulturen wie Punk oder Gothic keine bloße Absage an den Mainstream und die Hochglanzgesellschaft. Sie markieren die Suche nach einem Lebensweg, der tiefe Urängste befragt und zu bewältigen sucht.

Denn das Konzept der Schönen und Reichen allein reicht nicht aus, um mit der realen, der echten und wirklichen Welt klar zu kommen.

Im Podcast benutzt Klausbernd Vollmar den interessanten Begriff des Zeitgeists, der auch im Englischen Zeitgeist heißt. Längst wissen wir doch, dass eine schöne und glatte Fassade oft nur den hässlichen Kern verbirgt.

Der Hohepriester der reichen Schönen mit dem verdorbenen Selbst ist Raymond Chandler, Autor klassischer Krimis um Privatdetektiv Philip Marlowe. Er hat die emotionale Distanz der Hässlichkeit vermessen wie kaum ein anderer. Hier ein Beispiel, aus Der lange Abschied:

Ein Bursche in Shantung-Jacke und offenem Hemd tauchte hinter ihr auf und grinste mir über ihren Kopf weg zu. Er hatte kurzes rotes Haar und ein Gesicht wie eine kollabierte Lunge. Er war der hässlichste Kerl, den ich je zu Gesicht bekommen hatte.

Lesen Sie das zweimal, mindestens. Eine kollabierte Lunge … Denken Sie darüber nach, öffnen Sie Geist und Herz. Dann werden Sie mühelos erkennen, wie viel Schönheit sich in dieser Passage versteckt.

Podcast: Ugliness (36:10 min.) – Unbedingt reinhören!

Website von Tea, Toast & Trivia

Hier geht es zu Klausbernd Vollmars Blog The World according to Dina.

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