Stefan Heym – ein später Nachruf
Zwanzig Jahre nach dem Tod des Schriftstellers verlegt Bertelsmann eine digitale Werkausgabe – insgesamt 28 E-Books. Sie zeigen sein vielfältiges Werk: von historischen und zeitkritischen Romanen über Gedichte, Erzählungen, Reden, Essays bis hin zu Märchen. Anlass für einen Besuch in Weißensee.
Zu einigen Bänden wird bei Random House Audio auch ein Download von Audiodateien angeboten. Jeder Band enthält ein Nachwort der Literaturwissenschaftlerin Therese Hörnigk.
Die Werkausgabe macht auch länger nicht mehr lieferbare Titel wieder zugänglich und möchte Stefan Heym neu ins Bewusstsein der Leserinnen und Leser holen – als einen der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und als streitbaren Publizisten und kritischen Geist, der sich ideologisch nie vereinnahmen ließ.
Den Abschluss der Werkausgabe bildet die deutsche Erstveröffentlichung des 1944 auf Englisch erschienenen Romans Flammender Frieden (Of Smiling Peace) in der Übersetzung von Bernhard Robben. So weit die Ankündigung des Verlags.
Wie die Zeit vergeht
Wie die Zeit vergeht. Zwanzig Jahre liegt er schon zurück, der Tod Stefan Heyms während einer Reise nach Israel, kurz vor Weihnachten 2001. Bis zum hohen Alter von 87 Jahren hatte sich der streitbare Publizist eingemischt, hatte Stimme und Feder erhoben – für den dritten Weg, für echte Demokratie als Mittelweg der Erfahrungen in Deutschland (West) und Deutschland (Ost) nach dem Kriege und während der Teilung.
Noch spät, schon über achtzig Jahre alt, ging Heym in die Politik, zog als Parteiloser auf der Liste der PDS in den Bundestag ein. Weil er der Älteste unter den Abgeordneten ist, darf er den 13. Bundestag eröffnen – am 10. November 1994, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.
Ein Linker als Alterspräsident
Selten war eine Rede im deutschen Parlament von solcher Klarsicht geprägt. Und selten zeigte sich die moralische Schwäche, der fehlende Anstand der Unionsparteien, ihr Mangel an demokratischem Selbstverständnis.
Denn als sich wie üblich die Fraktionen und die Ehrengäste zur Sitzungseröffnung durch den Alterspräsidenten erheben, bleiben die Abgeordneten der Union demonstrativ sitzen. Nach der Rede verweigern sie den Applaus – bis auf Rita Süßmuth. Einige christliche Abgeordnete verlassen den Saal – ein Linker als Alterspräsident, das geht zu weit!
Heym nimmt es gelassen, das kennt er von den Stalinisten. Er spricht über Willy Brandt und erinnert an die letzte Alterspräsidentin des Reichtags, Clara Zetkin. Heym hat die letzten Tage der Weimarer Republik selbst erlebt.
1931 flog er wegen eines antimilitaristischen Gedichts vom Gymnasium in seiner Heimatstadt Chemnitz. Das Abitur machte er in Berlin, begann ein Studium der Journalistik. Die Machtübernahme Hitlers zwang ihn 1933 ins Exil, erst nach Prag, dann in die USA. Als Sergeant der US-Armee kehrte er 1944 nach Europa zurück.
Eine Heymat zum Leben
Heym ist Sozialist, kein Stalinist, auch wenn er in Stalin eine Zeitlang den Retter Europas vor den braunen Horden sah. Sein Roman Crusaders (Kreuzfahrer von heute) zeigt die Binnensicht der US-Armee auf dem Vormarsch nach Deutschland. Er zeigt, wie der heiße in den kalten Krieg mündet, wie Scharfmacher auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs von der neuen Konfrontation profitieren.
Heimat, fast möchte man schreiben Heymat, ist das Land, in dem sich Leben lohnt. In dem der Mensch zum Menschen werde. Es gilt das Wort des Philosophen Ernst Bloch, der am Schluss seines Prinzip Hoffnung schrieb:
Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte; ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.
Das war Heyms Thema. Immer waren seine Romane höchst politisch, setzten Weltveränderung auf die Agenda. Durch die Crusaders geriet er auf die schwarze Liste der Kommunistenjäger in den USA. Er schickte sein Patent als Reserveoffizier und den Bronze Star an Eisenhower zurück und siedelte zunächst nach Tschechien über.
Doch die Prager Kommunisten, schon klar auf Linie Stalins, wollten mit dem ehemaligen US-Soldaten nichts zu tun haben. Also weiter nach Ostberlin, wo er den Genossen gleichfalls suspekt blieb.
Den Spiegel vorgehalten
Denn Romane wie Schwarzenberg oder Fünf Tage im Juni hielten ihnen den Spiegel vor: Mit Phrasen allein ist der Sozialismus nicht zu machen, ohne demokratische Rechte geht es nicht. Meinungsfreiheit, Pluralismus, Mitbestimmung – Stefan Heym vertrat einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.
Wie er 1968 in der Tschechoslowakei diskutiert wurde, bevor sowjetische Panzer rollten. Wie er 1989 im Osten Deutschlands auf den Spruchbändern stand, bevor sich westdeutsche Lastkraftwagen an der Grenze stauten und den Osten mit bunten Waren überschwemmten – und das Volk die D-Mark wählte.
Eine Demokratie, solide begründet
In seiner Rede im Bundestag am 10. November 1994 sprach Heym kurz über seine Flucht vor Hitler und darüber, wie er Deutschland zwölf Jahre später wiedersah – in amerikanischer Uniform. Er schilderte, wie er sehr bald bei den Autoritäten in Ostberlin aneckte.
Er sagte: Dass einer mit seiner Biografie den zweiten Bundestag des wiedervereinigten Deutschlands eröffnen durfte, bestärkte seine Hoffnung, dass die neue Demokratie solider gegründet sei als die Weimarer Republik.
Heym sagte auch, dass das vereinigte Deutschland in der Welt „eine Bedeutung erlangt habe, der voll zu entsprechen wir erst noch lernen müssen.“ Er fragte: Gibt es Erfahrungen aus der ehemaligen DDR, die vom Westen übernommen werden sollten? Dafür sei „gegenseitige Toleranz und gegenseitiges Verständnis unserer unterschiedlichen Gedanken vonnöten.“ Orginalton Heym:
Die Menschen erwarten, dass wir uns als Wichtigstes mit der Herstellung akzeptabler, sozial gerechter Verhältnisse beschäftigen. Dies ist Aufgabe einer Koalition der Vernunft, die eine Koalition der Vernünftigen voraussetzt.
Schon ein Jahr später verlässt Heym den Bundestag, aus Protest gegen die geplante Erhöhung der Diäten für Abgeordnete. Seinen Leserinnen und Lesern bleibt er treu – wie sich selbst.
Auch nach der Wende erfolgreich
Als einer der wenigen DDR-Autoren ist Heym auch nach der Wende erfolgreich, wird im Inland und im Ausland als herausragender und authentischer Autor geschätzt. Er schreibt weiter, veröffentlicht auf Deutsch und Englisch. Seine Werke werden in viele Sprachen übersetzt.
Seine politische Publizistik gipfelt in Stalin verlässt den Raum, gipfelt in seinem Auftritt am Mikrofon zur großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz:
Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen. Den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung!
Und wenn sich jemand für das deutsche Jahrhundert, für deutsche Befindlichkeit interessiert, dem sei Heyms Nachruf nahegelegt, das beste Buch über Ost und West, über den heißen und den kalten Krieg, über McCarthyisten und Stalinisten, über Hoffnung und – wie er am 4. November 1989 sagte:
Einer schrieb mir – und der Mann hat recht: „Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.“ Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch. Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Lasst uns auch lernen zu regieren.
Ein Bericht für König David
Tausende schrieben Heym, seine Leserschaft zählte Millionen. Erich Honecker selbst soll genehmigt haben, dass Heyms König David Bericht in der DDR erscheinen durfte. Der Schriftsteller rechnet darin mit der brüchigen Macht der alten Männer ab, mit ihrer Arroganz und Selbstherrlichkeit, zwischen den Zeilen und ins biblische Judäa verlegt.
Dieses schmale Büchlein bekam Mitte 1989 ein junger Student in die Hände. So geriet der König David Bericht zum Roman eines persönlichen Aufbruchs. Auch der Student schreibt einen Brief an den Autor, der damals schon ein alter Mann war – und doch so jung geblieben.
Es war ein launiger Brief, ebenso launig beantwortet. Heym blieb immer Heym, immer der widerständige Geist, der vor den Nazis fliehen musste. Der US-Soldat mit dem untrüglichen Blick für den leisen Umschwung in der politischen Großwetterlage.
Nicht korrumpierbar
Der DDR-Autor, der als nicht korrumpierbar galt, der sich am 17 Juni 1953 offen gegen Ulbricht und seine Dogmatiker stellte. Der offen gegen den Einmarsch der Armeen des Warschauer Vertrages 1968 in Prag protestierte, der sich offen und ungeniert mit Robert Havemann zeigte und die Ausbürgerung Wolf Biermanns verurteilte. Und doch in der DDR blieb, allen Anfeindungen und Gerichtsverfahren zum Trotz.
Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muss unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut. Der Sozialismus – nicht der Stalinsche, der richtige –, den wir endlich erbauen wollen, zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes.
Ein Mann, ein Wort: Der in Deutschland blieb, auch nach Wende und Wiedervereinigung. Der Deutschland treu blieb, der an den Sinn von Geschichte glaubte, dessen Bücher bis heute nichts verloren haben. Sie sind echt und unverschnörkelt, kaum dass die Zeit ihnen etwas anhaben konnte.
So steht Stefan Heym aus dem Osten Deutschlands neben Heinrich Böll aus dem Westen der Republik; der amerikanische Sergeant und der Soldat der Wehrmacht, der das Kriegsende als Gefangener der US-Armee erlebte. Weniger andere Autoren der Nachkriegsgeschichte haben politisch und moralisch so stark gewirkt, die Veränderung in beiden Teilen Deutschlands so kraftvoll und ehrlich gefordert, geschrieben und gestützt. Deshalb bleiben Heyms Bücher lebendig, werden weiterhin gelesen, auch als E-Books.
Zelle Z1 nahe beim Eingang
Stefan Heym liegt auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, Zelle Z1, nahe beim Haupteingang. Es ist ein später Sommertag, noch sehr warm und hell. Leute schlendern vorbei, an seiner Grabstele halten sie kurz inne.
Eine Frau legt einen Stein obenauf zu den anderen. Es ist ein wunderbarer Ort, mitten unter uns, hier in Berlin. Grün und still und so voll Hoffnung. Denn Hoffnung nährt sich aus dieser Quelle: Was einmal gesagt ist, bleibt in der Welt – für alle Zeit.
Heyms Rede am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz auf Youtube
Rede Heyms zur Eröffnung des 13. Bundestages am 10. November 1994
Die Werkausgabe bei Bertelsmann
Webseite der Internationalen Stefan-Heym-Gesellschaft
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