Der erste Journalist der Zeitenwende
Vor 1.900 Jahren erschien der erste Reiseführer über die Lande der Teutonen. Sein Autor war Tacitus, er schrieb vom Hörensagen. Der erste Journalist nach Christi Geburt war auch der erste, der die seltsame Gemütsart der Germanen erklärte: Treue.
Der römische Politiker Tacitus ist Lateinern bekannt als erster Autor unserer Geschichtsschreibung: In den Annalen, die er zwischen 115 bis 117 verfasste, zeichnete er die römische Politik vom Tode des Kaisers Augustus bis zum Selbstmord Neros nach.
Tacitus selbst, der um 55 in Rom geboren wurde und um 121 starb, hatte etliche römische Kaiser überlebt, darunter Vespasian, Titus und den blutigen Despoten Domitian.
Unter diesen machte er Karriere: als Redner, Politiker, Beamter und Autor. Kaiser Titus erhob ihn in den Senatorenstand. Kaiser Nerva machte ihn zum Konsul, unter Trajan wurde er Prokonsul für Asien, was damals in etwa dem heutigen Kleinasien entsprach. Etwa 121 starb er, vier Jahre nachdem Hadrian den Kaiserthron in Rom bestiegen hatte.
Die Geschichte der Schönen und Reichen
Tacitus schrieb Historia als Geschichte der Kaiser, der Schönen und Reichen. Einfache freie Bürger oder Sklaven kamen darin nicht vor. Auf diese Weise prägte er das Fach bis ins 19. Jahrhundert – bis soziale und ökonomische Triebkräfte in der Geschichtswissenschaft aufkamen.
Er war zugleich der erste Journalist. Denn er verband zwei wichtige Tugenden, auf die sich besonders namhafte Journalisten bis heute berufen: Er berichtete vom Hörensagen. Und er servierte seinen Lesern weniger Berichte, mehr Bewertungen. Er hob die Trennung von Meinung und Fakt auf, bevor sie sich in der jungen Branche der Schreiberlinge etablieren konnte.
117 erschien Germania
117 erschien sein Werk Germania. Man könnte das Pamphlet als erste Auslandsreportage, als ersten Reiseführer bezeichnen. Germania bezeichnete seinerzeit die Regionen östlich und nördlich des Limes: von den Galliern im Westen und Rätern im Süden an den Alpen, von Rhein und Donau begrenzt, im Norden das Weltmeer.
Gleich zu Beginn seines Traktats schrieb der Historienbarde: „Wer hätte Lust verspüren sollen, Asien oder Afrika oder Italien zu verlassen und Germanien aufzusuchen, dieses unwirtliche Land mit seinem rauhen Klima, trostlos zu bebauen und zu beschauen.“
Erst das Urteil, dann die Fakten
Ein weiteres klassisches Beispiel, wie man den Gegenstand der Darstellung von vorneherein verunglimpft: Er bezeichnete die Germanen als gefährlichste Feinde Roms. Damit war das Schema festgelegt, dass man heute in jeder Tageszeitung lesen oder auf jedem Fernsehkanal sehen kann: Erst kommt das Urteil, dann die entsprechende Begründung, faktisch getarnt.
Tacitus hat Germanien nie bereist, zumindest sind dafür keine Beweise überliefert. Der Limes am Rhein und südlich des Siedlungsgebiets der barbarischen Völker bis zur Donau bei Regensburg war für ihn eine Grenze zur Wildnis, „faktisch vollständig von Wald und schaurigen Sümpfen bedeckt“, wie uns der antike Autor wissen lässt.
Ein Trauma wie später Stalingrad
Seine Informationen bekam er wohl von römischen Soldaten und Kaufleuten, die sich in den unwegsamen Dschungel wagten, um mit Fellen, Bernstein und Silber zu handeln. Der ganze Report ist geprägt von Angst und Abscheu, vom Trauma der Varusschlacht, als die Germanen im neunten Jahr der Zeitrechnung drei römische Legionen samt deren Hilfstruppen vernichteten – auf eigenem Boden, im Teutoburger Wald im heutigen Ostwestfalen. Drei Legionen – das war ein Achtel des römischen Heeres.
Und so ergibt sich bei der Lektüre eine erstaunliche Parallele zur Berichterstattung unserer Tage beispielsweise über Russland, die auf ähnliche Weise vom Trauma der Schlacht bei Stalingrad geprägt ist.
Derselbe arrogante Ton
Da kehrt derselbe arrogante Ton wieder, um die Ängste und Minderwertigkeitsgefühle zu übertünchen, derselbe Hochmut der Verlierer: Der Römer als Träger der Hochkultur, der Germane als Barbar: „trotzige blaue Augen, rotblondes Haar und hoher Wuchs, bei Durst und Hitze werden sie weich, aber gegen Kälte und Hunger sind sie durch das Klima und die kargen Böden abgehärtet“.
Bei Detmold steht das Hermannsdenkmal, für Hermann – Armin – Arminius, den Fürsten der Etrusker im Kampf gegen die römischen Eindringlinge. Es zeigt den Germanen als römischen Feldherren, ein historisierendes Klischee, reiner Unsinn, aber politisch opportun – berief sich das Deutsche Reich doch ausdrücklich auf klassische Vorbilder. Die preußischen Könige – ab 1871 die deutschen Kaiser – sahen sich in Ahnenlinie mit Cäsar, Vespasian und Titus, als neue Blüte neoklassizistischer Hochkultur.
Waldmenschen aus dem Osten
In den Augen der Römer hätte die Varusschlacht schlimmer nicht laufen können: Ein ungehobelter Haufen schmutziger Waldmenschen hatte die geordneten und geschulten Legionen des Kaisers niedergemezelt.
Das traf ins Mark der römischen Überlegenheitsfantasien. Dazu Tacitus: „Die Germanen hatten kaum Eisen im Gebrauch. Schwerter und Lanzen gab nur es wenige, nur Speere (Framen mit kurzer Eisenspitze) und Schild.“ Zur Schlacht ordneten sich die Germanen in keilförmigen Haufen, sie seien „meistens Krieger zu Fuß“.
Zunächst hatten Römer diese Wilden gut im Griff. Statthalter Varus hatte einen guten Teil der Wälder östlich des Rheins erobert. Sein Vasall Arminius jedoch wechselte in die Opposition, historisch sind die genauen Hintergründe verworren. Freilich – Tacitus gibt die Schuld am Krieg dem östlichen Nachbarn: „Diesem Volke behagt die Ruhe nicht.“
Wenn die Germanen nicht gerade mit Krieg beschäftigt seien, gehen die Männer auf die Jagd oder ruhen aus. „Die Sorge für Haus, Hof und Feld bleibt den Frauen, den Alten und allen Schwachen im Haushalt überlassen.“
Unerhört rückständig
Für römische Augen war das unerhört rückständig, denn die freien Bürger Roms ließen die Arbeit von Sklaven verrichten – zu denen auch Germanen gehörten. Überhaupt war Germanien wenig verlockend: „Getreide gedeiht gut, Edelobst dagegen gar nicht.“ Oder: „Viehherden sind der Germanen einziger und liebster Reichtum.“
Es gab weder Gold, noch Silber. Die Frage, warum die Römer überhaupt den Rhein überschritten hatten, lässt Tacitus unbeantwortet – er stellt sie nicht einmal.
Dennoch sind Details seiner Reportage interessant. Denn sie zeigen einen anderen Entwicklungsweg, den die Völker und Stämme Germaniens beschritten, ein anderes Verständnis von Herrschaft und Macht.
Nur Priester durften töten
Beispielsweise durften die germanischen Könige und Herzöge ihre Untertanen nicht töten, fesseln oder schlagen. Das war ausschließlich den Priestern vorbehalten – etwa für Menschenopfer, die sie Merkur widmeten. „Merkus genießt die höchste Verehrung“, schreibt Tacitus, und: „Herkules und Mars werden durch Tieropfer gnädig gestimmt“.
Ein Teil der Sueben (Schwaben) opferte der Isis, der altägyptischen Göttin der Geburt und der Magie, auch als Totengöttin bekannt. Diese Religion hatte sich von den Ägyptern über die Griechen und Römer erhalten.
Die Germanen liebten Vorzeichen und Losorakel, das haben sie sich bis heute bewahrt. Der Vogelflug wurde gedeutet, ebenso die Mahnungen von Pferden, vor allem der schneeweißen Rosse in heiligen Hainen und Lichtungen.
Ein Volk ohne Steuern
Anders als die Römer mit ihren sozial sehr fest gefügten Kasten pflegten die Germanen einen eher demokratischen Umgang: Der Thing der Freien entschied über alle wichtigen Fragen. Die Fürsten hatten keine Befehlsgewalt, nur Vorschlagsrecht. Sie wurden gewählt und waren in ihren Gauen als Richter tätig.
Auch kannten die Germanen damals noch keine Steuern. „Man gibt seinem Fürsten unaufgefordert etwas ab“, weiß Tacitus zu berichten. Die Kehrseite der Medaille: Ein solch hinterwäldlerisches Gemeinwesen konnte niemals die stolze Größe Roms erreichen. Tacitus: „Nicht einmal behauene Steine oder Ziegel benutzen die Germanen, nur unbehauenes Holz.“ Und: „Einige Stämme der Germanen sind in Tierfelle gekleidet.“ Die Kinder seien „mangelhaft bekleidet und ungepflegt“.
Plötzlich wechselt der Ton
Doch plötzlich wechselt der Ton. Wenn Tacitus von den Frauen der Germanen schreibt, scheint er eine ferne, nebulöse Geliebte zu beschwören, ein Wunschbild. Das hat er mit den Romanen von Konsalik gemeinsam, in denen Russinnen nur als sexhungrige Hexen oder sittsame Engel skizziert sind.
Tacitus wählte die Engel: „Den Frauen der Germanen ist eine gewisse Heiligkeit und Sehergabe eigen“, lässt er uns wissen. So erwähnt er Veleda, die unter Vespasian als göttliches Wesen verehrt wurde. Veleda vom Stamm der Brukterer hatte germanische Siege gegen die römischen Fremdherren prophezeit.
Und der römische Schreiber lobte ausdrücklich die germanische Zucht: „Gleichwohl halten die Germanen strenge Zucht in der Ehe, und wohl keine ihrer Sitten verdient höheres Lob, denn fast als die einzigen von allen nichtrömischen Völkern begnügen sie sich mit nur einer Gattin.“
Die Mitgift brachte der Mann in die Familie der Frau ein. Zudem kannten die Germanen bereits die Primogenitur, die Vererbung des Besitzes an die ältesten Söhne. Man erbte auch die Freundschaften und die Feindschaften des Vaters oder von Blutsverwandten.
Ein Saft, so ähnlich wie Wein
Andererseits galt: „Geselligkeit und Gastfreundschaft pflegt kein anderes Volk eifriger“, wie Tacitus schreibt. „Irgendeinem Menschen, wer es auch sei, kein Obdach zu gewähren, gilt als Sünde.“
Schon damals erkennt er den Hang der Germanen zum Gelage: „Tag und Nacht durchzutrinken ist für niemanden eine Schande.“ Ihr Lieblingsgetränk ist ein „Saft aus Gerste oder Weizen, der infolge von Gärung eine gewisse Ähnlichkeit mit Wein hat“.
Und als erster Literat überhaupt erwähnt Tacitus die Treue der Germanen. Sie seien von blinder Leidenschaft für das Würfelspiel besessen. „Wer verliert, geht freiwillig in die Knechtschaft, er lässt sich binden und verkaufen. Sie selbst nennen es Treue.“
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