
Das Schöne an Legenden ist, dass sie einen wahren Kern enthalten. © H.S. Eglund Das Alpinarium ist großzügig ausgestaltet, es lädt zu einer ganz eigenen Wanderung ein. © H.S. Eglund Schnaps aus Enzian: Blau, blau, blau ist der Bergtourist ... © H.S. Eglund Der Beginn des Bergtourismus. © H.S. Eglund Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war Tirol eine bitterarme Gegend. © H.S. Eglund Der Ort heute. © H.S. Eglund Das Zentrum des Ortes mit der Kirche. Sie überstand die Lawine von 1999. © H.S. Eglund Nach der Lawine wurde der Ort wieder aufgebaut. © H.S. Eglund
Mit Hemingway nach Galtür
Im Februar 1999 wurde Galtür von einer verheerenden Lawine getroffen. Auf den Trümmern entstand das Alpinarium, das die Vergangenheit mit der Gegenwart versöhnt. Und die kaum bekannte Geschichte der Skiregion erzählt – auch in der Literatur.
Galtür im Paznaun: In kaum einer anderen Region von Tirol liegen das Glück und das Leid der Alpen so nah beieinander wie in diesem Dorf. Nur rund 800 Menschen leben hier, und sie leben gut. Früher waren sie Bergbauern, denn Galtür liegt auf knapp 1.600 Metern Höhe, am Übergang des Paznaun zur Bielerhöhe und dem Montafon.
Die Gegend ist rau, denn nur im Sommer schafft es die Sonne bis in die Talsohle. Im Winter hängt sie so tief, dass die es kaum über die Gipfel der Silvretta schafft. Doch das ist ein Segen, denn Galtür gilt als schneesicher und gehört neben Ischgl zu den wichtigsten Skigebieten in Tirol. In der eisigen Saison tummeln sich hier tausende Touristen.
Das Ende der Idylle
Ende Februar 1999 ging vom nördlichen Hang zwischen Grieskopf und Grieskogel aus etwa 2.700 Metern eine gigantische Lawine ab. Es folgten weitere Lawinen, die Galtür und den Vorort Valzur verheerten. Tagelange Schneefälle waren vorausgegangen, mit mehreren Metern Neuschnee. Sofort lief eine der spektakulärsten Hilfsaktionen mit Helikoptern an. Doch für 31 Menschen kam jede Hilfe zu spät, sie fanden im Schnee ihr Grab.
Es dauerte bis zum Ende jenes Winters, dass die Bagger die festgefrorenen und festgepressten Schneeblöcke beräumen konnten. Erst danach ließen sich die Schäden einigermaßen schätzen: Galtür und Valzur waren faktisch komplett zerstört. Noch heute sind die Wunden nicht verheilt. Obwohl Galtür neu aufgebaut wurde, fehlt die historische Klammer, nur wenig blieb vom alten Dorf übrig.
Stattdessen ist die Gemeinde heute durch gewaltige Mauern gegen Lawinen geschützt, zudem wurden die oberen Hänge durch Fangzäune aus Stahl gesichert. Aus den Hilfsgeldern, die damals aus ganz Europa nach Galtür flossen, wurde auch das Alpinarium gebaut, mittlerweile ein echter Publikumsmagnet. Es erzählt die Geschichte von Schönheit und Gefahr, von der verwundbaren Existenz der frühesten Bauernsiedlungen bis heute, zum Zentrum des Skitourismus.
Wunderschöner Piz Buin
Denn die Gegend ist wunderschön. Bis hierher steigt das Paznauntal auf, bevor es zur Bielerhöhe mit dem Silvretta-Stausee übergeht. Etwas westlich liegt der Kopssee, eine fußläufige Stunde von Galtür, vorbei an malerischen Almen, immer das vielfältige Panorama der Alpen vor Augen, das sich mit jedem Schritt zu wandeln scheint – bis hoch zum vergletscherten Piz Buin, mit mehr als 3.300 Metern Höhe.
Hier im Dreiländereck von Tirol, Vorarlberg und dem Montafon herrschte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs noch die blanke Armut. Die Bergbauern hatten wenig zu lachen und noch weniger zu beißen. Im Frühjahr trieben sie die Kühe auf die Almen zur Sommerweide, im Frühherbst wieder ins Tal in die Winterställe. Oder sie lebten in kargen Hütten am Berg, den ganzen Winter über vom Tal abgeschnitten. Im Mittelalter wurden Steuern an die Herren von Landeck in Form von Käse abgeführt, Geld war bis in die Neuzeit knapp.
Reiche Ausländer kamen in die Berge
Der Wandel setzte ein, als reiche Engländer und Amerikaner im 19 Jahrhundert die Alpen als Reiseziel entdeckten. So kletterte Gertrude Bell in der Silvretta mit einheimischen Führern. Die renommierte Weltenbummlerin und Archäologin wurde später im Orient zur Legende, vergleichbar mit T. E. Lawrence.
Nach dem Ersten Weltkrieg brachten das starke Pfund und der starke Dollar den Reisenden aus Großbritannien und Übersee erhebliche Vorteile. Tirol galt als Schnäppchen, billiger und einfacher zu erreichen als die Schweiz.
Der junge Hemingway in Schruns
Mitte der Zwanziger Jahre kam der junge Ernest Hemingway nach Schruns, um Ski zu fahren. Er kannte die Alpen aus seiner Zeit als Ambulanzfahrer im Krieg, auf italienischer Seite. Seinerzeit lebte er in Paris, wo er seine Dollars gut in Francs tauschen konnte, ebenso in Geld für Reisen nach Deutschland oder Österreich.
Aus Schruns berichtete er unter anderem über den Wintersport, das war so etwas wie die erste Marketingkampagne für den Skizirkus. In einflussreichen Hochglanzmagazinen erschienen seine Depeschen. Dafür hat ihm Schruns eine Bürste gestiftet, reichlich verkitscht, aber Marketing lebt von der Imagepflege.
In seinem Reportagen beschreibt Hemingway, dass sich im Montafon die reiche Kundschaft zum Winterurlaub traf, ebenso gefallene Adelige, von den Revolutionen vertrieben und jede Menge windige Geschäftsleute.
Eine Kurzgeschichte über die einfachen Bauern
Am besten ist jedoch seine Kurzgeschichte „Gebirgsidyll“, denn sie widmet sich dem Leben der einfachen Leute in Galtür und seiner Umgebung. Mit dem für ihn typischen scharfen Auge kristallisiert er das bittere Elend heraus. Freilich, heute möchten die Marketingmanager von Galtür diese Zeiten vergessen machen, doch zeigt das Alpinarium auf eindrucksvolle Weise, welcher Wandel in den vergangenen hundert Jahren über das Paznaun und das Montafon hinweggegangen ist.
Das Automobil hat die Berge erobert, geteerte Straßen haben Trampelpfade und Pferde ersetzt. Hotels haben Bretterhöfe und Verschläge abgelöst. Geheime Wege über die Schweizer Grenze, die früher nur Schmuggler kannten, sind heute öffentlich als Wanderwege ausgezeichnet.
Doch zurück zu Hemingway, der vom Montafon über die Berge nach Galtür kam, am Ende eines längeren Aufenthalts in der schneereichen Region, „aus dem unnatürlichen Hochgebirgsfrühling an diesem Maimorgen“:
„Wollen Sie nicht etwas mit uns trinken?“ fragte ich den Wirt. Er setzte sich. „Diese Bauern sind Viecher“, sagte der Wirt.
„Den sahen wir vorhin bei einer Beerdigung, als wir in den Ort kamen.“
„Das war seine Frau.“
„Ach!“
„Er ist ein Viech. All diese Bauern sind Viecher.“
Gute Geschichten wurden in den alten Zeiten ebenso hoch geschätzt wie heute. Um die Sache etwas abzukürzen: Der Wirt ruft den Totengräber Franz zum Tisch, wo die beiden Amerikaner sitzen.
„Dieser Bauer!“ sagte der Wirt. „Heute brachte er seine Frau her, um sie zu begraben. Sie starb vorigen November.“
„Dezember“, sagte der Totengräber.
„Das kommt aufs selbe raus. Sie starb also vorigen Dezember, und er benachrichtigte die Dorfbehörde.“
„Am 18. Dezember“, sagte der Totengräber.
„Auf keinen Fall konnte er sie herbringen, um sie zu beerdigen, ehe der Schnee weggeschmolzen war.“
„Er lebt auf der anderen Seite von Paznaun“, sagte der Totengräber. „Aber er gehört zu unserer Gemeinde.“
„Er konnte sie überhaupt nicht herschaffen?“ fragte ich.
„Nein, bis der Schnee schmilzt, kann er von da, wo er wohnt, nur auf Skiern herkommen. Also, heute brachte er sie zur Beerdigung, und der Priester wollte sie nicht beerdigen, als er ihr Gesicht sah. Mach du weiter und erzähl‘s!“ sagte er zu dem Totengräber. „Sprich hochdeutsch und nicht Dialekt!“
Priester waren damals genauso weltfremd wie heute. Und dieser wollte nicht kapieren, was doch offensichtlich war: Bergbauer Olz hatte seine Frau sehr geliebt.
„Also“, sagt Olz, „als sie starb, meldete ich es der Dorfbehörde und legte sie in den Schuppen oben auf die großen Holzscheite drauf. Als ich von den Holzscheiten zum ersten Mal holen kam, war sie steif, und ich lehnte sie gegen die Wand. Ihr Mund klaffte, und wenn ich bei Nacht in den Schuppen kam, um das große Holz zu zerkleinern, hängte ich die Laterne dran auf.“
„Hast du das oft getan?“
„Jedesmal, wenn ich bei Nacht im Schuppen arbeitete.“
„Das war sehr unrecht von dir“, sagte der Priester. „Hast du deine Frau geliebt?“
„Ja, ich habe sie geliebt“, sagte Olz. „Und wie ich sie geliebt habe.“
Soweit der tiefe Blick in die Bauernseele Tirols. Hemingway konnte die Geschichte kaum glauben, deshalb fragt sein Protagonist Nick Adams vorsichtshalber nach:
„Halten Sie das für wahr?“, fragte ich den Wirt.
„Natürlich ist es wahr“, sagte er. „Diese Bauern sind Viecher.“
Mehr als tausend Jahre alt
Galtür wurde vor rund tausend Jahren gegründet, von Bergbauern, die ihre kleinen Herden aus Ziegen und Rindern im Frühjahr auf die Almen brachten und im Herbst in die Ställe holten. Hier zu leben, war sehr schwer. Denn die Berge gaben wenig her, was der Mensch gebrauchen kann. Die Böden sind steil, karg und meistens unkultivierbar.
Nur im Sommer reicht die Sonne bis ins Paznaun, und nur die Sonnenhänge lassen sich als Futterwiesen bestellten. Ansonsten steht der Wald dicht und geht weiter oben schnell in baumlose Almen über. Bis zu den Gipfeln der Verwallgruppe, der Silvretta oder der Samnaungruppe, die braun und bleich und vergletschert in der Sonne glitzern.
Erste Straßen im 19. Jahrhundert
Das Tal des Paznaun lag am Rande der Alpen, fernab der Machtzentren Österreichs. Im Dreißigjährigen Krieg wurde Galtür geplündert. Der Ort ging in Flammen auf. Erst 1645 wurden die enormen Steuerschulden des geschändeten Dorfes erlassen.
Im 18. Jahrhundert wurde Galtür zum Wallfahrtsort gemacht. Die frühere Holzkirche wurde zwischen 1776 und 1778 zum steinernen Barockbau ausgebaut, wie sie heute noch zu sehen ist.
Die ersten Straßen wurden im 19. Jahrhundert gebaut. Dadurch wurde Galtür für Reisende und den langen Arm der Innsbrucker Steuerbeamten erschlossen. Damals bestand der Ort aus der Kirche und einem Dutzend Hütten, regelrechtes Fanal der Armut. Über die neue Straße wurden billige Lebensmittel gebracht, die Preise verfielen und die Bergbauern verarmten noch mehr. Zeitweise wurden die uralten Wege und hohen Pässe als Schmugglerpfade verwendet, um das nackte Überleben zu sichern. Die Gegend war so arm, dass die hungernden Kinder nach Oberschwaben verkauft wurden, um dort bei den Bauern unterzukommen. Auch dies ist im Alpinarium dokumentiert.
Erst die Ankunft ausländischer Bergsteiger und der Bau der Jamtalhütte – dem ersten Hotel am Platz – ging es bergauf. Der Tourismus wurde zum Motor für Wohlstand, die karge Landwirtschaft trat in den Hintergrund. Allerdings gibt es einige Berghöfe nach wie vor, und die Milch, der Käse oder die Wurst aus dieser Region sind ausgezeichnet.