Lyrik (II): Die Schläfer von Metropolis
Vor 40 Jahren erschien die englische Lyrikerin Anne Clark wie ein Komet an der Spitze der Music Charts: The Power Game wurde ein Hit, später Sleeper In Metropolis, Heaven oder Hope Road. Spannend bis heute: Ihre leisen Töne – Rilke, Rückert und die Stille, die zwischen den Zeilen schwingt.
So schallte es 1982 aus den Boxen, vom Stakkato einer Hymne unterlegt:
A little less of what you want
And more of what you‘ve got
Is enough to keep you struggling
Without hatching other plots
…
Don‘t tell me how to live my life
Don‘t tell me what to do
Repression is always brought about
By people with politics and attitudes like you!
Die klare, beinahe schneidende Stimme von Anne Clark bohrte sich in die Hirne und die Herzen der jungen Leute, sie traf den Nerv ihrer Zeit – sprichwörtlich. In Großbritannien regierte Maggie Thatcher, in den USA Ronald Reagan – beide Exponenten der erzkonservativen Rechten. Im Kreml siechte der greise Leonid Breschnew dahin, ihr ultralinker Widerpart. Bis zum Aufstieg Gorbatschows sollten noch drei Jahre vergehen.
1982 war das Jahr, in dem Helmut Schmidt seinen Stuhl als Bundeskanzler für Helmut Kohl räumen musste. Und in Ostberlin saßen Erich Honecker und die Stalinisten fest im Sattel. Die Mauer durch Berlin und die Wachtürme an der innerdeutschen Grenze schienen für die Ewigkeit betoniert.
Die Agonie jener Jahre
An dieser Grenzlinie standen sich die Blöcke gegenüber, rüsteten ihre nuklearen Arsenale immer weiter auf. Helmut Schmidt ließ amerikanische Atomraketen stationieren, die Sowjets stellten ihre Systeme dagegen. Der Kalte Krieg drohte, in den heißen Erstschlag zu kippen.
Wie Mehltau, wie Blei legte sich die Bedrohung über die Menschen zu beiden Seiten der Grenze. Die Erkenntnis reifte: So kann es nicht weitergehen. Ein kleiner Funke genügte – und die irdische Zivilisation würde im atomaren Holocaust verglühen.
So begann die Hochzeit der Friedensbewegung – Schwerter zu Pflugscharen!
In Bonn gingen Hunderttausende auf die Straße, demonstrierten im Hofgarten. Im Osten entstanden unzählige kleine Gruppen – vor allem Jugendliche – die sich im Schutz der Kirche Gehör zu verschaffen suchten.
Die Friedensbewegung in Jena, Leipzig, Dresden und Ostberlin stellte den Sinn der atomaren Aufrüstung generell in Frage – im Osten wie im Westen. Das Politbüro reagierte mit Ausweisungen, Abschiebungen und Haft. 1981 starb in Gera der junge Bürgerrechtler Matthias Domaschk durch die Hiebe von Stasi-Schergen.
Verse, wie die Schläge eines Hammers
Und plötzlich diese Verse, wie Schläge eines Vorschlaghammers. Anne Clark, im Mai 1960 in Croydon im Süden Londons geboren, brachte den Frust der Jugend – ihre weltweite Frustration – auf den Punkt. Die elektronischen Takte, mit der sie ihre Lyrik unterlegte, rüttelten auf, rüttelten die Glieder zum Tanz, das war neu und vor allem – echt!
Aufgepasst, hingehört: Hier spricht Dir jemand aus der Seele! Schert Euch doch zum Teufel mit Euren Ideologien, Theorien und Rüstungsetats. Thatcher, Reagan, Breschnew und Honecker – das ist doch eine Mischpoke, sind Seiten derselben Medaille!
Lyrik galt damals als tot oder bestenfalls langweilig, politische Lieder blieben auf Barden mit Klampfe und Mundi beschränkt. Nun kam Anne Clark, deren Rhythmen eine völlig neue Mischung aus Reimen und Noten boten.
Waren das Songs? Eher nicht. Waren das Gedichte? Hm, auch nicht. Zu konkret, zu sehr Hymne und zu wenig den seichten Melodien der Disco-Ära angepasst.
In dem wunderbaren Dokumentarfilm I‘ll walk out into tomorrow, den Claus Withopf 2018 vorlegte, beschreibt sie ihre Kunst so:
I just make music and poetry.
So einfach kann man das sehen. Im Grunde ist es völlig schnuppe, in welche Schublade der Musikkritiker oder der Lyrikkritiker sie passen soll: Ihre Wirkung war unerhört – und seitdem unerreicht.
Und die Ursache? Sie lag in Croydon, damals ein Vorort der armen Pauper, die von Thatchers harten Einschnitten bei den Sozialleistungen an den Rand der Gesellschaft gespült wurden.
Die Gewalt englischer Vorstädte
Die Ödnis solcher englischen Vorstädte ist von Monty Python mit viel Sarkasmus und schwarzem Humor beschrieben worden. Die Realität war erbarmungslos, das gab es nichts zu lachen.
Wie in einem Brennglas bündelten sich die Widersprüche der Lower Class People in der Familie Clark. Ihre Mutter war eine irische Katholikin, der Vater schottischer Protestant. Religion spielte im Alltag keine Rolle, „ich wuchs ohne Religion auf“, wie Anne Clark im Film sagt. „Mein Vater wollte darüber nicht sprechen.“
Der Vater machte Zeit seines Lebens für Gelegenheitsjobs den Buckel krumm, die Mutter haderte mit der immerfort knappen finanziellen Situation. Befragt nach ihren Erinnerungen, hat Anne Clark in erster Linie die Gewalt vor Augen: physische Gewalt zwischen den Eltern, zwischen den Kindern und den Eltern, zwischen ihr und ihrem Bruder.
Jobs und erster Auftritt mit Depeche Mode
Mit sechzehn schmeißt sie die Schule, um verschiedene Jobs anzunehmen. So arbeitete sie als Helferin in einer psychiatrischen Anstalt, wo die Patienten weggesperrt wurden und vegetierten. Sie arbeitete in einem Plattenladen – damals der Fluchtpunkt für viele Jugendliche, die sich innerlich aus dem System verabschiedet hatten. Im Warehouse Theater organisierte sie Auftritte für alternative Bands wie Siouxsie and the Banshees.
Anfang der 1980er trat sie erstmals selbst auf – zusammen mit der soeben gegründeten Band Depeche Mode. Sie textete unter anderem für die BBC und begann, ihre eigene Kunst zu machen – just music and poetry.
Am Anfang habe ich meine Texte zu Punk aufgeführt. Aber ich war immer großer Fan der deutschen Krautrockszene, Tangerine Dream, Kraftwerk – diese Musik beeinflusste mich und die Musiker, mit denen ich arbeitete, enorm. Ich mag auch Klassik sehr gern … Ich versuche, ganz verschiedene Musikstimmungen zusammenzubringen.
Das erläuterte sie im Januar 2018 in einem Interview, anlässlich von Withopfs Dokumentarfilm. Bei der Premiere in der Kulturbrauerei in Berlin humpelte sie auf Krücken zur Bühne (trotz eines Bruchs hatte sie die Reise auf sich genommen) und ließ den Moderator wissen, sie sei kein Star, sondern just an artist.
Erste LP: The Sitting Room
Im Jahr 1982 kam ihre erste Langrille (Langspielplatte) in die Läden: The Sitting Room. Ihre aufrüttelnden Verse wurden mit Keyboards, Synthesizern und Samplern unterlegt. Es folgten die Alben Changing Places, Joined Up Writing und Hopeless Cases – beinahe im Takt der Jahre. Einige ihrer Tracks wurden zu Meilensteinen der modernen Musik, etwa Sleeper in Metropolis, Our Darkness oder Wallies.
Die Texte – Anne Clark‘s poetry – sind von unvergleichbarer Qualität. Ein Beispiel, aus Sleeper in Metropolis:
Outside the cancerous city spreads
Like an illness
It‘s symptoms
In cars that cruise to inevitable destinations
Tailed by the spotlight
Of society created paranoia
No alternative could grow where love cannot take root
No shadows will replace the warmth of your contact
Love is dead in metropolis
All contact through glove or partition
What a waste
The city – a wasting disease
Solche Großstädte gab es auch im Osten, sie gab es überall. Und überall gab es die gleiche Sehnsucht nach der Alternative; die Hoffnung – vielleicht eine naive Hoffnung, na und!? – auf Liebe und Licht.
Die schalen Aussichten auf den grauen Alltag der Eltern und das Damoklesschwert der atomaren Vernichtung erzeugten eine explosive Mischung – die sich in den Dance floors entlud. Einer ihrer Songs auf der Platte Changing Places trägt den bezeichnenden Titel: Poem For A Nuclear Romance.
What will it matter then
When the sky is not blue but blazing red
The fact that I simply love you?
When all our dreams lay deformed and dead
We‘ll be two radio-active dancers
Spinning in different directions
And my love for you will be reduced to powder
…
You don‘t have to sleep to see nightmares
Just hold me close – the closer still
And you‘ll feel the probabilities pulling us apart.
New Wave bringt Anne Clark ganz nach oben in die Charts, alle Sender spielen ihre Stücke, mal mit Text, mal ohne. Doch 1986 bricht der Erfolg über sie herein. Ihr Manager macht sich mit der Tourkasse auf und davon, die Plattenfirma rührt keinen Finger. Über Nacht steht sie vor dem Nichts – und einem riesigen Berg von Schulden.
Sie geht nach Norwegen, in die schneebedeckte Weite der skandinavischen Berge und Täler, suchte really, simple living. I forgot the music. Die Gewalt, die in der Musikindustrie steckt – die in jedem Geschäft steckt, bei dem es um viel Geld geht, überraschte sie, ließ sie eine Weile verstummen.
Ein hoffnungsloser Fall
Aber nicht lange. 1987 erschien die LP Hopeless Cases. Das Stück Hope Road avancierte zum Hit in den USA. Auf dieser Platte findet sich auch das Instrumentalstück Poem Without Words, das sie trotz der Proteste ihrer Plattenfirma Virgin Records in zwei Variationen an den Anfang und das Ende stellte.
Hier, wie in Echoes Remain For Ever, hört man zum ersten Mal die Stille aus ihren Kompositionen. Zweifellos hat die majestätische Endlosigkeit der norwegischen Landschaft einen neuen Fluchtpunkt geschaffen – einen Ruhepunkt – aus dem Anne Clark in den Folgejahren viel Kreativität schöpfte.
Spätere Alben wie R.S.V.P. brachten bekannte Stücke in neuen Arrangements, auf verblüffende Weise wiederentdeckt. 1988 verlegt Anne Clark ihren Wohnsitz endgültig nach Norwegen, erst viel später wird sie nach Norfolk in England zurückziehen.
Eine Welt im Umbruch
Die Agonie zu Beginn der 1980er Jahre ist vorbei, plötzlich macht die Weltgeschichte einen Sprung: In Berlin fällt die Mauer, Deutschland wird wiedervereinigt. Für kurze Zeit scheinen die besten Hoffnungen wahr zu werden. Das Ende von Hochrüstung, Militärblöcken und Armeen scheint gekommen.
Erst 1991 legt Anne Clark eine neue Langrille vor: Unstill Life. Zwei Jahre später folgt The Law Is An Anagram Of Wealth. Die Träume wachsen nicht in den Himmel, und Anne Clark muss den frühen Krebstod eines geliebten Menschen verkraften. Nun werden ihre Lyrik und die Melodien weicher, reifer und bleiben dennoch unterschwellig in der Rebellion verhaftet, im Aufbegehren, in der Suche nach der Alternative.
Sie sucht Trost in den Liedern von Friedrich Rückert, die Gustav Mahler schon vertont hatte, fängt sich in der elegischen Metrik von Rilke – gleichsam das Pendant zur norwegischen Natur. Sie gibt unzählige Konzerte – nun auch im Osten Deutschlands, wo sie eine besonders treue Anhängerschaft hat – bis heute.
Meine Gefühle in der Zeit von 1987 bis 1991 schwankten zwischen Trostlosigkeit, Wut, Enttäuschung und völliger Ekstase darüber, am Leben zu sein. Ich erwachte und sah die Welt in einem ganz neuen Licht, und zwar nicht nur meine eigene, kleine Welt, sondern die ganze weite Welt!
Nicht nur ich machte große Veränderungen durch. Der Fall des Kommunismus war wie ein aufbrechender Damm. In Oslo bekam ich wöchentlich zighundert Briefe von Menschen, deren Leben sich buchstäblich über Nacht verändert hatte – Menschen aus der ehemaligen DDR, Polen, Russland … Ich hatte nicht nur ein immer noch phantastisches und loyales Publikum, sondern dieses Publikum war plötzlich auch riesig angewachsen!
Kein bisschen leiser
Seitdem reißt die Kette ihrer Veröffentlichungen nicht ab, setzt Anne Clark ihre lyrischen und musikalischen Experimente fort. Auch wenn Konzerte und Auftritte durch die Coronakrise vorerst auf Eis gelegt sind, lässt sich ihre Kreativität kaum bremsen. Für das Jahr 2022 – vierzig Jahre nach Erscheinen ihrer ersten Platte – sind wieder Auftritte avisiert.
Wir sind gespannt, sehr Denn die Rebellin ist längst nicht in die Jahre gekommen, zieht sich nicht auf die seichten Töne zurück. Hat sich was verändert? Von Maggie Thatcher führt eine direkte Linie zu Boris Johnson, von Ronald Reagan zu George W. Bush Jr. und zu Donald Trump. Okay, Honecker ist weg, bei uns folgten Angela Merkel und Olaf Scholz.
Don‘t tell me how to live my life
Don‘t tell me what to do
Repression is always brought about
By people with politics and attitudes like you!
Mit den Jahren sind die lyrics von Anne Clark lyrischer und ihre Musik melodiöser geworden, vielschichtiger, nachdenklicher. Weniger Hymne, mehr Stille. Eine Stille, für die es keine Worte und keinen Laut gibt – eine Stille, die das gute Ende in allem ist.
Anne Clarks offizielle Website
Anne Clark – I’ll Walk Out Into Tomorrow (bei good!movies)
Die Textzitate wurden entnommen aus:
Anne Clark: Notes taken, traces left – Fotografien, Texte, Interviews
Schwarzkopf & Schwarzkopf 2003, ISBN 3-89602-463-9
Ebenso interessant:
Lyrik (I): Der ferne Hügel
Mit Peter Hacks in Ferropolis
Stefan Heym – ein später Nachruf
Rudolf Bahro: „… die nicht mit den Wölfen heulen“
Brecht und Weigel: Vom Umgang mit den Welträtseln