Lyrik (I): Der ferne Hügel
Seit dem Amtseid von Joe Biden tobt in den Feuilletons ein Streit, ob Amanda Gormans Poem The Hill We Climb gute Lyrik ist, und wer es übersetzen darf. Ein grauer Tag brachte die Erkenntnis: Gute Lyrik schaut Dir über die Schulter wie ein Freund. Sie schmeckt hell - wie ein Schluck vom Elixier des Lichts.
Spätwinterliche Tiefdruckgebiete sind ein Gräuel. Lange währte der Winter, war lange eisig und dunkel, und dazu die lange Ödnis des Lockdowns. Kurz keimte die Sonne, brachte helle, warme Tage. Und nun erneut der Absturz in die Finsternis.
Früher, als es noch gedruckte Zeitungen gab, wühlte man sich an solchen Tagen durch die Feuilletons. Heute kriegt man die Newsletter von Volltext und Perlentaucher, komprimierte Listings der aktuellen Debatten.
Doppelplusungut für weiße Übersetzer
Ganz offenbar herrscht in den Hirnen der Redakteure gleichfalls tiefer Druck. Denn ersthaft wird gestritten, ob Amanda Gormans Gedicht The Hill We Climb wirklich gelungen ist. Und ob es übersetzt werden sollte, und vor allem: Von wem? Zwei weißhäutige Übersetzer*innen wurden bereits abgelehnt.
Sie erhielten das Prädikat Doppelplusungut, ihr Profil passe nicht. Gemeint ist: Ihre Hautfarbe ist falsch, ihnen fehlt der Migrationshintergrund. Dabei wendet sich Amanda Gorman ausdrücklich gegen die Trennung der Geschlechter, der Rassen, der Portemonnaies. Sie sagt WE, WIR, wie Barak Obama: „Yes, we can!“
Der Streit geht also weiter. Amanada Gormans Gedicht (und andere Gedichte von ihr) stehen turmhoch darüber. Denn ihr Fundament reicht tief, sehr tief. Lyrik ist so alt wie des Menschen Gedächtnis, älter als die Schrift, älter als alle Schriften. Sie ist Oral History, das unmittelbar gesprochene Wort in akzeptabler Form, um es aus dem Alltagsgeschwätz zu heben.
Lyrik ist das ewige Lied des Menschen, von dem Beethoven sagte: „Wir Sterbliche mit den unsterblichen Seelen“.
Der glückliche Sisyphos
Was ist gute Lyrik? Die Suche nach dem Hügel, den es zu erklimmen gilt? Dieser Hügel bleibt immer fern. Nicht der Gipfel ist das Ziel, sondern der Aufstieg. Ein Experte für dieses Thema ist Reinhold Messner, von dem der schöne Satz stammt: „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.“
Immer neu antreten. Immer aufs Neue bereit für den Aufstieg, auch wenn er mühselig ist. Weil er mühselig ist. Das Ziel bleibt unerreichbar, es ist Fata Morgana und Utopia und Ultima Thule zugleich, und an grauen Tagen liegt es unsichtbar hinter dem bleichen, regenverhangenen Himmel.
Gute Lyrik ist wie ein warmer, heller Strahl des Sonnenlichts, das Dich trifft, wie ein Blick aus den Augen eines Freundes. So gesehen, war Gormans Poem wirklich gut, richtig gut. Denn die junge Frau hatte den Mut, den Popanz der Amtseinführung eines US-Präsidenten in den Schatten zu stellen.
Mal was neues, etwas wirklich neues: Hoffnung auf ein anderes Amerika, auf eine andere Politik. Einen Moment lang wurde der politische Apparat geerdet, verpflichtet und auf neue Weise vereidigt. Ich war an Carl Sandburgs berühmtes Gedicht erinnert: I am the people, the mob, the crowd, the mass! Und an Walt Whitmans For you these from me, O Democracy, to serve you!
Jeder pickt sich heraus, was er braucht
Das war die laute, die medienwirksame Seite des Auftritts der jungen Frau. Die Debatte, wer das Gedicht übersetzen darf, ist dagegen völlig unwürdig. Denn bekanntlich lässt sich nichts so schwer übersetzen wie Lyrik oder Liedtexte, und am Ende pickt sich ohnehin jeder heraus, was er braucht.
Lyrik ist Gebrauchsware, Ausdruck des Augenblicks – egal, ob im Licht der Scheinwerfer oder abseits in dunkler Ecke. Mir geriet dieser Tage ein schmales Bändchen in die Finger, Gedichte von Klara Günther: Aus der Dunkelheit ins Licht. Anders als Frau Gorman ist Frau Günther völlig unbekannt. Das hat mit der Qualität der Gedichte nichts zu tun, denn jede Leserin und jeder Leser empfängt ein Gedicht auf eigene Weise, unter eigenen Vorzeichen.
Zu feige zum Suicid
Auch Klara Günther hatte den Mut zum Gedicht, und allein deshalb ist das Büchlein wert, angeschaut zu werden. Denn nach wie vor treibt mich die Frage um: Was ist gute Lyrik? Das Thema von Amanda Gorman ist die soziale, kulturelle und politische Emanzipation von Schichten, die nicht zum ökonomischen und politischen Establishment gehören.
Bei Klara Günther geht es um etwas anderes: „Zum Suicid zu feige, entschied ich mich, nach dem Licht zu suchen“, schreibt sie im Vorwort. Sie hätte ebensogut schreiben können: „Zum Suicid zu feige, schrieb ich ein Gedicht. Weitere folgten.“
Das ist authentisch, das trifft mich, denn ich habe innerhalb eines Jahres zwei gute Bekannte verloren. Sie haben den Kampf gegen die Depression nicht gewonnen, obwohl ich mir bei diesem Urteil nicht wirklich sicher bin. Vielleicht haben sie ihn auf ihre Weise entschieden, durch die letzte, eigene Tat. Als ultimative Verweigerung gegen das Grau des Alltags und den Irrsinn dieser Welt.
Die Illusion verweigert
Günthers Vorwort verweigert dem Leser jede Illusion: Wirklich gute Gedichte kommen nicht in die Welt, um das Publikum zu ergötzen. Sie sind unmittelbarer Ausdruck einer Not, von Leid, und manchmal einer Hoffnung, eines Ziels. Das gilt für Gorman, das gilt für Klara Günther (wie auch für Sandburg und Whitman).
Deshalb finden sie ihr Publikum, weil wir alle irgendwie im Aufbruch stecken, unser Leben lang. „Du wärst der denkende Mensch nicht, wärst Du nicht der leidende, gärende Mensch gewesen“, sagt Diotima zu Hyperion. Und in Patmos schreibt Hölderlin:
Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Im Finstern wohnen
Die Adler und furchtlos gehen
Die Söhne der Alpen über den Abgrund hinweg.
Furcht, Gefahr auf der einen Seite; Rettung und Licht auf der anderen. Gute Lyrik strahlt aus wie das Echo in den Schweizer Bergen, das sich an vielen Graten bricht. Ob es ein menschliches Ohr erreicht, und von dort ein Hirn, ein Herz, das entscheidet der Empfänger selbst und allein. Der Physiker spricht von Resonanz: schwingen in gleicher Frequenz. Klara Günther formuliert es auf diese Weise:
Gedichte
…
Verdichtet.
Gemalt mit Worten.
Sie auszudruecken
befreit mich
von innerem Druck.
So geraten die Gedichte zum Kommentar ihrer inneren Reise, die gegen die äußere Reise steht, oft im Widerspruch, im Zweifel, manchmal stimmig mit sich im Reinen. Gedichte sind Selbstbefreiung, zumindest wie Günther sie praktiziert, und sie ermuntern, nichts unversucht zu lassen:
Viel zu oft
habe ich mich
auf der Suche
nach mir
verlaufen
und in fremden Gärten
nach meinem Schatz
gegraben.
Gedichte werden aus Unzufriedenheit geboren, aus der Gischt stürmischer Wellen im Innern. Sie sind der Schaum unserer Tage – ohne Alltag, vom äußeren Anschein und anerzogener Disziplin entkleidet. Jede Leserin und jeder Leser muss entscheiden, ob dieses Senkblei in die Tiefe der Psyche auch ihre oder seine Tiefenströmung auslotet, berührt oder aufzuwühlen vermag.
Klara Günther pflegt keine besonders kunstvollen Wortschnörkel. Mir gefällt, das sie geradewegs auf ihr Ziel losstapft. Hier ein Beispiel aus dem Gedicht Zeit:
Ich glaube
es ist an der Zeit,
mich zu besinnen,
auf das,
was seit Jahrhunderten
oder Jahrtausenden
in mir ist.
Man kann das banal nennen: schon tausendmal gesagt – so oder auf ähnliche Weise. Das stimmt. In zehntausend Jahren menschlichen Ausdrucks ist alles Wesentliche bereits gesagt und erzählt, vom ersten Schamanen über Shakespeare bis zu zeitgenössichen Poetinnen in Washington oder im fränkischen Dorf.
Das ist überhaupt nicht schlimm. Im Gegenteil: Offenbar gibt es etwas unveränderliches, unzerstörbares, dass sich ähnlicher Worte bedient, um sichtbar und fühlbar zu werden. Jede neue Generation, jeder neue Mensch ist gefordert, seine Worte für den inneren Aufruhr zu finden. Sich mit Begriffen, Bildern und Gefühlen in der Welt – im Leben – auf neue Weise einzuordnen, zu verorten, den eigenen Kurs zu bestimmen.
Ins Risiko gehen
Freilich, das muss man nicht tun. Man muss keine Gedichte lesen, man muss diesen Blog von Eglund nicht lesen. Man kann Musik hören, sie entfaltet eine ähnliche Resonanz; man kann Bilder anschauen oder einfach nichts tun – eins mit sich und Haus, Auto und Netflix.
Alles schick. Nur eins dürfte nicht funktionieren: Leben ohne Risiko. Denn Leben ist Risiko, wie Klara Günther schreibt:
Wenn ich nichts riskiere,
riskiere ich
zu sterben bevor ich gelebt habe.
Der Tag ist grau und nass und kalt, widerlich kalt. Det is Berlin, Keule, riskante Sache. Irgendwie habe ich das Gefühl, auf meine Frage keine wirklich überzeugende Antwort gefunden zu haben: Was ist gute Lyrik? Bleibt also ein Thema, ich komme darauf zurück. Der Weg ist das Ziel, und Sisyphos ein glücklicher Mensch.
Gedichte von Klara Günther:
Aus der Dunkelheit ins Licht
Romeon Verlag, Kaarst, 2017
ISBN 978-3-96229-029-0
Lesen Sie auch:
Podcast: Hässlichkeit weitet Horizonte