Andrej Sacharow: Von der Bombe in den Widerstand
Kremlkritiker Alexej Nawalny erhält den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments. Ein Leichtgewicht gegen den Namensgeber der Auszeichnung, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre.
Das erste Bild von Sacharow, das ich vor Augen habe: Großer Bahnhof in Moskau, irgendwann Mitte der 1980er Jahre. Aufmarsch der Parteibonzen, und doch ist dieses Mal alles anders: Michail Gorbatschow hat Glasnost und Perestroika verkündet.
Es tut sich was im Osten, und zahlreiche Delegierte wurden erstmals frei gewählt. Glasnost steht für Meinungsfreiheit, Perestroika für Umbau der Gesellschaft von unten – weg vom Stalinismus und Breschnewismus hin zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft.
Die Kamera zoomt auf einen alten, grauen Mann, und der Sprecher nennt diesen Namen Andrej Dimitrijewitsch Sacharow. Mutters Kommentar aus dem alten Ohrensessel: Das ist ein Hetzer! Sacharow war gerade aus der Verbannung aus Gorki nach Moskau gerufen worden, von Gorbatschow persönlich.
Und ich wunderte mich: Was weiß die Mutter über einen, der viele Jahre in der Verbannung verschwunden war? Der aus der totalen Versenkung aufgetaucht war, nach Jahren des Hausarrests in der russischen Pampa.
Die Jünger Gorbatschows
Eigentlich war Mutti unpolitisch, und wir Jüngere waren Jünger Gorbatschows. Sacharows Name geisterte gelegentlich durch die Westmedien, geheimnisvoll, denn der Mann galt als Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe. Ein bisschen wie Väterchen Frost – im Russischen: Djed Maros – , nur dass es um Nuklearwaffen ging.
Das elektrisierte uns, denn der Nato-Doppelbeschluss und die Reaktion des Warschauer Vertrages trieb seinerzeit Millionen auf die Straßen – in West und Ost. Auch viele aus meiner Generation, damals in Leipzig, hinterm Eisernen Vorhang. Rockkonzerte standen unterm Motto: No bomb, no radioactivity, never Hiroshima. Fridays for Future begann als Mondays for Future, Schwerter zu Pflugscharen, mit kleinen Gebetsgruppen in den Kirchen in Leipzig, Dresden und Jena.
Zunächst eine geradlinige Karriere
Der Vater der Fusionsbombe – ein Dissident? Zunächst verlief Sacharows Lebensweg so geradlinig wie nur möglich in Stalins rotem Zarenreich. Am 21. Mai 1921 in Moskau geboren, hatte er 1938 die Schule beendet und begann ein Physikstudium an der Lomonossow-Universität. Im Krieg wurde die Universität teilweise nach Aschchabat in Turkmenistan verlegt, wo Sacharow sein Studium beendete.
Anschließend arbeitete er als Ingenieur in einer Munitionsfabrik in Uljanowsk an der Wolga. Nach dem Sieg der Roten Armee studierte Sacharow am Fian (Lebedew-Institut) der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und promovierte in Kernphysik.
Heißer Krieg, kalter Krieg
Dem heißen Krieg folgte der kalte, in dem es vor allem um die nukleare Keule ging. Zwanzig jahre lang – bis 1968 – arbeitete Sacharow in den geheimen Labors der sowjetischen Atomrüstung, unter anderem unter Igor Kurtschatow und Juri Chariton.
Ganz der sozialistische Physiker war Sacharow von der Idee überzeugt, dass ein nukleares Gleichgewicht die Welt vor dem Untergang retten könne. Er fühlte sich als Soldat des naturwissenschaftlich-technischen Krieges.
Sacharow war kein untergeordneter Soldat – kein Muschkote – in der sowjetischen Atomindustrie, er war einer ihrer hellsten und brillantesten Köpfe. Wesentlich waren seine Ideen für die erste Wasserstoffbombe Moskaus, die im August 1953 gezündet wurde – fast auf den Tag genau acht Jahre nach Hiroshima und Nagasaki.
Seine Dritte Idee
Kurz zur Phyik der Fusionsgranate: Sacharow entwickelte einen Booster, in dem eine kleine Kernspaltungsbombe als Zünder wirkt. Wie beim russischen Blätterteig Sloika ordnete er den Brennstoff Lithiumdeuterid um den Zünder an, vergleichbar einer Zwiebel.
Sein Vorschlag, die Bombe zweistufig zu bauen, wurde im Westen als Teller-Ulam-Design bekannt. In Russland firmierte sie als Sacharows Dritte Idee. Sie erlaubte es, Bomben mit einer Sprengkraft von mehreren Megatonnen Trinitrotoluol (TNT) zu bauen.
Solche Megabomben wurden 1955 erstmals in Kasachstan getestet. 1961 schließlich, im Jahr von Gagarins Raumflug, testete die Sowjetunion die sogenannte Zar-Bombe, die auf Sacharows Ideen fußte. Sie hatte 50 bis 60 Megatonnen TNT Sprengkraft und ist die größte bislang gezündete Nuklearwaffe weltweit.
Vordenker der Kernfusion
In den 1950er Jahren arbeitete Sacharow mit Igor Tamm zusammen an der gesteuerten Kernfusion. Sein Konzept des thermonuklearen Reaktors mit magnetischem Einschluss des Plasmas bildet die Grundlage der sowjetischen Tokamak-Reaktoren. Von ihm stammen Ideen zur Kalten Fusion und zur Aufheizung des Fusionsbrennstoffs durch gepluste Laser.
Nach 1965 arbeitete Sacharow vornehmlich zur Teilchenphysik, Kosmologie und Gravitation, militärische Aufgaben traten in den Hintergrund. Dennoch blieb er quasi unter Verschluss, galt er doch als einer wichtigsten Geheimnisträger der sowjetischen Atomrüstung.
Hochgeehrtes Mitglied der Akademie
Sacharow war schon 1953 in die Akademie der Wissenschaften der UdSSR berufen worden, als jüngster Vollmitglied überhaupt. Stalins bester Bombenbauer erhielt den Titel Held der Sozialistischen Arbeit, den Stalinpreis und zweimal den Leninorden.
Aufgrund der Atomversuche in Kasachstan und auf Nowaja Semlja in der Sowjetunion, im Pazifik durch die USA und die Franzosen gab Sacharow seine – für viele Wissenschaftler typische – Blindheit gegenüber der politischen Realität auf. Denn die Versuche hatten Tote gefordert: Soldaten, Offiziere, unbeteiligte Bauern und Fischer.
Die in die Atmosphäre geschleuderten radioaktiven Partikel erhöhten das Risiko von schädlichen Mutationen am Erbgut der Menschen überall auf der Welt. Ende 1958 wurde die Zahl der Toten durch genetische Defekte – bedingt durch Atomtests – auf rund 80.000 geschätzt.
Die Wahrscheinlichkeit von Mutationen
Jeder weitere Test – mit immer größeren Bomben – erhöhte die Zahl der möglichen Mutationen exponentiell. Sacharow berechnete die Zahl auf 10.000 Opfer pro Megatonne. Nach seiner Statistik waren bis 1958 bereits 50 Megatonnen getestet worden, was einer halben Million Toten entsprach.
1958 veröffentlichte er den Aufsatz Der radioaktive Kohlenstoff nuklearer Explosionen und die schwellenunabhängigen biologischen Effekte. Darin warnte er eindringlich vor weiteren Tests. 1961 versuchte er Chrustschow persönlich die Idee auszureden, eine Wasserstoffbombe mit 100 Megatonnen in der Atmosphäre zu testen.
1966 unterzeichnete er einen Brief, der vor der Rehabilitierung Stalins warnte. Im Kreml fand seit 1964 ein weiterer Machtwechsel statt: von Chrustschow zu Breschnew. Im April 1966 vereinte Breschnew die Führung von Staat und Partei in seiner Hand – als Generalsekretär der KPdSU.
Ein unbeliebtes Superhirn
Den allermeisten von Sacharows Kollegen aus der Wissenschaft war sein politisches Engagement unverständlich. Denn als hochdotiertes Mitglied der Akademie der Wissenschaften gehörte der Physiker zur Elite, mit Dienstwagen, geräumiger Wohnung in Moskau, Telefon, Zugang zu gesonderten Geschäften und medizinischer Versorgung wie fürs Politbüro.
Als er 1968 die Invasion in der Tschechoslovakei verurteilte, machte sich das Superhirn gänzlich unbeliebt. Im Juli 1968 veröffentlichte er das Memorandum Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit, in dem er sich für Abrüstung und die internationale Kontrolle der Kernwaffen einsetzte.
Kurz darauf wurde er aus dem sowjetischen Atomprogramm entlassen. Doch Sacharow – ein nüchterner Logiker, mit einer gewissen Verbissenheit ausgestattet, wenn er sich im Recht wusste – ließ sich nicht mundtot machen. Nach wie vor war er Mitglied der Akademie und Träger höchster Staatspreise, einige seiner Privilegien blieben ihm erhalten – Telefon, Reisen, ein Auto mit Fahrer.
Der Physiker als Staatsfeind
1970 gründete er ein Komitee zur Durchsetzung der Menschenrecht und verlangte die Demokratisierung der Sowjetunion. Im April 1971 protestierte er gegen die Praxis Moskaus, unliebsame Kritiker in der Psychatrie verschwinden zu lassen. Ende Oktober 1974 informierte Sacharow die ausländische Presse über den Hungerstreik von politischen Häftlingen in mehreren Lagern.
Die Regierung reagierte mit wachsender Repression. Sacharow kümmerte sich um politische Häftlinge und setzte sich für das Selbstbestimmungsrecht von Krimtataren, Mescheten, Armeniern, Kurden und Georgiern ein. 1974 trat er für seine Ziele selbst in den Hungerstreik.
Am 10. Dezember 1975 wurde Sacharow der Friedensnobelpreis verliehen. Das Nobelkomitee würdigte sein Engagament für eine rechtsstaatliche und offene Gesellschaft. Weil ihm Moskau verbot, den Preis in Oslo selbst in Empfang zu nehmen, reiste seine Frau nach Norwegen. Fortan stufte der KGB den Atomphysiker als Staatsfeind ein.
1979 protestierte Sacharow offen gegen den sowjetischen Überfall auf Afghanistan. Deshalb wurde er am 22. Januar 1980 verhaftet und nach Gorki verbannt. Dort – unter Aufsicht des KGB – arbeitete er am Entwurf einer neuen sowjetischen Verfassung.
Der Havemann des Ostens
In seiner Autobiografie Mein Leben (erschienen im Piper Verlag, 1991) beschreibt Sacharow eindringlich die Schikanen des KGB. Beim Lesen wird man an die Schilderungen erinnert, die Robert Havemann und Wolf Biermann von der Überwachung durch die Stasi in Grünheide gaben.
In Gorki unter Arrest festgesetzt, blieb Sacharow dennoch wirksam: durch die wachsenden Kreise der Dissidenten innerhalb der Sowjetunion und durch Kontakte mit Journalisten aus Westeuropa, die sich irgendwie Zugang zu ihm verschafften.
Und im Lande veränderte sich alles: Nach dem Tod Breschnews und seiner Nachfolger Tschernenko und Andropow trat Michail Gorbatschow auf die Weltbühne, als neuer Chef des Kremls. Der Fall Sacharow wurde zum Püfstein für die Aufrichtigkeit, mit der Gorbatschow politische Reformen propagierte.
Ein Anruf aus Moskau
Ende Dezember 1986 ließ Gorbatschow die Verbannung Sacharows und seiner Frau aufheben. Er selbst bat den Physiker telefonisch, nach Moskau zurückzukehren und seine politische Arbeit fortzuführen.
Im Jahr 1988 stieg Sacharow in die Leitung der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften auf. Er wurde als Parteiloser in den Kongress der Volksdeputierten gewählt. Ein Jahr später gründete er die russische Gesellschaft Memorial, die die Geschichte des Gulags aufarbeitet.
Nur ein Jahr blieb dem ergrauten Wissenschaftler, aktiv zu sein. Seine Gesundheit war durch die Verbannung so stark angegriffen, dass er am 14. Dezember 1989 einen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Seine Lebenserinnerungen, die er im späten Sommer 1989 beendete, lassen erkennen, dass er müde war und sich nach Ruhe sehnte. Geben wir ihm das letzte Wort:
Mein Schicksal war auf eine gewisse Art und Weise außergewöhnlich … Nicht aufgrund falscher Bescheidenheit, sondern aus dem Wunsch heraus, mich klar auszudrücken, möchte ich feststellen, dass mein Schicksal größer gewesen ist, als meine Persönlichkeit. Ich habe nur versucht, ihm auf Augenhöhe zu begegnen.
Der Preis des Europäischen Parlaments
Seit 1988 verleiht das Europäische Parlament des Sacharow-Preis, um den Einsatz für Menschenrechte zu ehren. Alexei Nawalny wurde in diesem Jahr ausgewählt, weil er in Russland gegen die Korruption und Putins Selbstherrlichkeit kämpft.
Alexej Anatoljewitsch Nawalny ist Jahrgang 1976, er ist Jurist und hat Börsenwesen studiert. 2010 erhielt er ein Förderstipendium, das ihn für vier Monate an die Yale-Universität führte.
2011 stieg er in die Politik ein, indem er eine Stiftung gegen Korruption gründete. Er agiert vor allem über soziale Medien und hat sich einen Namen als Blogger gemacht. Im September 2013 trat er zur Wahl des Bürgermeisters von Moskau an und erhielt 27 Prozent der Stimmen. Seitdem gilt er als Spitzenmann der Opposition gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Seilschaften.
Eine Vision für die Opposition
Nawalny hat einen guten Teil seines Renommées im Ausland aufgebaut, vor allem durch den gescheiterten Versuch, ihn zu vergiften. Nun ist er in den Weiten Russlands verschwunden, sitzt eine Haftstrafe ab, die ihm ein Gericht unter fadenscheinigem Vorwand aufgedrückt hat.
Von Nawalny ist nicht bekannt, welche positive Vision er gegen die Allmacht des Kremls setzt. Er fordert wichtige demokratische Rechte – in einer Gesellschaft, die Demokratie überhaupt nicht kennt, nicht im Sinne des Westens.
Das war bei Sacharow grundsätzlich anders. Der Physiker wirkte vornehmlich aus dem Innern der UdSSR, aus der Zentrale ihrer politischen und militärischen Macht. Nawalny hatte und hat diese Möglichkeiten nicht. Seine politische Wirksamkeit nach dem Ende seiner Haft wird wesentlich davon abhängen, ob er den Menschen in Russland mehr anbieten kann, als bloße Kritik an Putins Zirkeln.
Dennoch: Auf seine Weise, mit seinen Möglichkeiten und Unterstützern führt er die Arbeit fort, die von Dissidenten wie Andrej Sacharow begonnen wurde. Auch für das moderne Russland gibt es keine Alternative, wie Sacharow einst für die UdSSR sagte:
Ich bin sicher, dass der Schutz der Menschenrechte die einzige Grundlage ist, die Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, ihres politischen Glaubens, ihrer Religion oder ihres sozialen Status vereinen kann.
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