Die ungemalten Bilder der Bärbel Bohley
30 Jahre deutsche Einheit: Staatstragend und offiziell ging es zu – in den Medien und bei den Festakten in Potsdam und Berlin. Von Freiheit war die Rede, von Chancengleichheit und statistischen Differenzen zwischen Ost und West. Worum ging es damals wirklich? Ein Besuch bei Bärbel Bohley in Berlin.
Still ist es, regnerisch und kühl, richtiger Novembermist. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof unweit des früheren Tränenpalastes an der Friedrichstraße stehe ich an einem Findling, aufgerichtet für Bärbel Bohley, die hier seit 2010 liegt. Mehr als tausend Leute hatten damals den Trauergottesdienst in der Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg besucht, ihre Beerdigung geriet zum medialen Ereignis.
Im Herbst 2020 liegt ein Gebinde des Regierenden Bürgermeisters am Beet, angeschmuddelt durch den Regen. Keine weiteren Blumen, nichts. Efeu statt Lorbeeren? Wächst das Gras des Vergessens über ihrem Grab?
Bärbel Bohley war Bürgerrechtlerin, Frauenrechtlerin, emotional, nahe am Wasser gebaut und in ihrem Engagement vor allem ihm verpflichtet: dem Frieden. Klingt pathetisch, war es aber nicht. Nicht in ihrem Fall, denn nichts lag ihr ferner, als die patriarchale Geste des Siegerkranzes. Und nichts so nah wie die Friedenstaube von Picasso, Maler wie sie.
Eine erstaunliche Wandlung
Zwanzig Jahre vor ihrem Tod – im September 1989 – gehörte Bohley zu den Mitgründern des Neuen Forums in der DDR. Dem war eine erstaunliche Wandlung vorausgegangen, denn die im Spätmai 1945 geborene Berlinerin ging zunächst den geraden Weg des DDR-Sozialismus: Abitur, Lehrabschluss als Industriekauffrau, danach Ausbilderin für Lehrlinge.
Doch etwas im Alltag der DDR, ihrer Industrie, der „materiellen Produktion“ muss ihr gegen den Strich gegangen sein. Denn 1969 beginnt sie ein Studium an der Kunsthochschule in Weißensee, macht 1974 ihr Diplom als Malerin – und lebt fortan freischaffend.
Solo Sunny im Atelier
Das war in der DDR genauso ungewöhnlich wie suspekt – Solo Sunny im Atelier. Mit der Arbeiterklasse als Erfüllungsgehilfin der „historischen Mission“ konnte Bohley wenig anfangen. Als Künstlerin stellte sie sich bewusst an den Rand der Gesellschaft. Und machte sich andererseits vollkommen abhängig vom staatlichen Kunstbetrieb. Einen freien Kunstmarkt gab es faktisch nicht, Aufträge kamen nur von den Kirchen oder von offiziellen – staatlichen – Stellen.
Zunehmend sieht sich die Malerin ins Abseits gedrängt, ihre Werke passen nicht zum hochgelobten „sozialistischen Realismus“. Bohley betreibt Selbstverwirklichung, der Militarismus der DDR ist ihr zuwider, ebenso das Regime der alten Männer in Ostberlin und Moskau. Sie nimmt Kontakt zu den Grünen in Westdeutschland auf.
Das Schlachtfeld des Dritten Weltkriegs
Anfang der 1980er Jahre rüsten Nato und Warschauer Vertrag mit Atomraketen auf, die beiden Deutschländer sind das Schlachtfeld des Dritten Weltkriegs. In Bonn laufen Hunderttausende zu den großen Ostermärschen, aus den Westmedien erfährt der Ossi von Sitzblockaden mit Heinrich Böll und Petra Kelly.
1982 gründet Bärbel Bohley die Gruppe „Frauen für den Frieden“, trägt den Protest gegen das nukleare Wettrennen nach Ostberlin. Ein Jahr später nimmt sich die Stasi ihrer an, denn sie stört die Kreise der mächtigen Männer im Politbüro. Nach der U-Haft im Stasiknast in Hohenschönhausen wird sie in Bann und Acht getan: Keine Aufträge mehr, darf zwar malen, aber nix verkaufen.
Exil in England
Ein Jahr vor der Wende wird Bärbel Bohley ins Exil nach England abgeschoben – allerdings mit einem Pass der DDR. Sechs Monate bleibt sie auf der Insel, dann kehrt sie freiwillig in die DDR zurück. „Ich wollte wieder zurück“, bekennt sie später. „Denn wenn man etwas in eine Sache investiert hat, dann kann man es nicht aufgeben. Ich habe mich in der DDR auch zu Hause gefühlt, nicht weil ich sie liebe, sondern weil ich viele Freunde dort habe oder hatte. Insofern war es wirklich ein Ort, den man verändern muss. Ich habe im Westen gelernt, dass eine Opposition, zu der man sich bewusst bekennt, einfach in die DDR gehört und das hat die DDR-Opposition vorher nicht gemacht.“
Die Opposition in der DDR unterschätzt
Doch, hat sie, vielfach. Opposition hat es in Ostdeutschland seit Gründung der DDR gegeben: Opposition in den Reihen der SED, in den Reihen der Kirchen, in der Bauernschaft, unter Künstlern und sogar Militärs. Die Proteste gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahr 1976 kamen aus der DDR selbst. Robert Havemann blieb bis zu seinem Tod 1982 in Grünheide, ließ sich nicht vertreiben. Auch Schriftsteller wie Stefan Heym blieben bewusst in der DDR, trotz aller Widrigkeiten durch die SED und ihre Schergen. Rudolf Bahro, der 1977 mit dem Buch „Die Alternative“ Aufsehen erregt hatte, wurde in Bautzen hinter Schloss und Riegel gesetzt – und dann gleichfalls in den Westen verkauft.
Es gab oppositionelle Jugendgruppen in Jena und Ostberlin, die von der Stasi drangsaliert und abgeschoben wurden. Dass Bohley diese Gruppen nicht kannte oder nicht kennen wollte, hat wohl mit ihrem Egozentrismus zu tun.
Die Künstlerin war empfindsam, nach innen gekehrt und mitunter sehr selbstgerecht. Das war menschlich und schadete ihrem Engagement kaum. Vielleicht war es sogar notwendig.
Die Sache mit dem Pass
Dass Bärbel Bohley mit einem DDR-Pass nach England ausreisen und vor allem: wieder zurückkehren durfte, ist sehr, sehr seltsam. Eigentlich unvorstellbar, nach den Spielregeln jener Zeit.
Möglicherweise hat es mit dem Lernprozess in der SED zu tun: Dass es mehr Schaden bringt als Nutzen, wenn man die Leute aus dem Land verbannt. Sollen sie sich doch im Westen umschauen: Dort ist längst nicht alles Gold, was glänzt. Heute wissen wir: Wenig später wurde Millionen DDR-Bürgern diese Erfahrung erlaubt, und die allermeisten kehrten zurück.
Im September 1989 gehört Bohley zu den Gründern des Neuen Forums. Auch damit schreibt sie die innere Opposition in der DDR fort, denn das Neue Forum konstituierte sich in Grünheide, wo der bekannteste DDR-Dissident Robert Havemann bis zu seinem Tof 1982 im Arrest lebte. Havemann hatte es bis zuletzt abgelehnt, in den Westen zu gehen. Er war Kommunist und Dialektiker, vom Kapitalismus hatte er vor seiner Verhaftung durch die Nazis genug gesehen.
Kriegsopfer auf dem Balkan
Nach Wende und Wiedervereinigung wurde es still um Bärbel Bohley, um „Frauen für den Frieden“ und das Neue Forum. Bohley ging auf den Balkan, um Kriegsopfern zu helfen. Sie prozessierte gegen Gregor Gysi, der sie gegen die Stasi verteidigt hatte, und trat in Fernsehshows auf. Bekannt sind ihre Tränen bei der einen oder anderen Gelegenheit. Sie war nahe am Wasser gebaut.
Aber sie konnte auch handfest sein: Mit Hungerstreik und Mahnwache kämpfte sie darum, die Akten der Stasi öffentlich zugänglich zu machen. „Ich glaube nicht, dass die Strafjustiz in der Lage sein wird, Gerechtigkeit herzustellen“, sagte sie Anfang der 1990er. „Recht, so erscheint es uns jedenfalls manchmal, kommt als Ungerechtigkeit in den neuen Ländern an. Und darin sehe ich ein großes Problem. Unser Problem war ja nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen, unser Problem war, dass wir Gerechtigkeit wollten. Und insofern haben wir natürlich dem Westen unsere Probleme vor die Füße gekippt in der Hoffnung, dass mit dem westlichen Rechtsstaat auch Gerechtigkeit in die neuen Länder kommt.“ Ein Irrtum, vor dem sie auch das halbjährige Praktikum in England nicht bewahren konnte.
Vom Traum zum Albtraum
Der Aufbruch Bärbel Bohleys begann, als sie die Industrie verließ und Malerin wurde. Als sie begann, ihren Traum zu leben. Er endete, als sie 1989 den Pinsel aus der Hand legte, um sich nur noch der politischen Arbeit zu widmen.
In zwanzig Jahren von 1969 bis 1989 hat sie rund tausend Werke geschaffen: Gemälde, Zeichnungen und Grafiken. Viel naive Kunst, vieles mit treffendem Blick der DDR-Tristesse entrissen. „Ich bin keine politische Künstlerin“, bekennt sie 1990. „Ich bin ein politischer Mensch, der Kunst macht. Manchmal ist Kunst abwesend – dann ist Politik anwesend und bestürmt das Leben. Kunst ist für mich der Versuch eines utopischen Entwurfs vom Leben.“
Nach 1990 hat Bohley nur noch mit der DDR gekämpft, die längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet war. Sie hat – wie viele frühere Dissidenten – unablässig gegen die Stasi und das Unrecht der SED gestritten, als ob diese Wunden rückblickend heilbar sind. Man kann sagen: Ab 1990 hat sie sich nur noch an ihrem Albtraum abgearbeitet. Das hatte manchmal naive, manchmal manische Züge – daher die Tränen im TV.
Enttäuscht vom Desinteresse
Und vor allem war sie enttäuscht vom Desinteresse der Massen, der grauen Arbeiterklasse, der mehr an VW und Sony gelegen war, als an der Aufarbeitung des SED-Unrechts und des Stasistaats. Und die Kunst aus der DDR, mitsamt ihren Künstlerinnen und Künstlern, landete ebenso auf dem Müllhaufen der Geschichte, wie die ganze, kleine, graue DDR selbst.
Wohl deshalb drehte sie Deutschland den Rücken, zog sie nach Kroatien, wo sie mit großem Einsatz für den Wiederaufbau nach dem Jugoslawienkrieg kämpfte. Bilder hat sie keine mehr gemalt. Dabei wären gerade sie spannend gewesen: Bohleys Träume aus der neuen Zeit.
Hatte sie dafür keine Utopie?