Das Trauerspiel von Afghanistan
Theodor Fontane schrieb 1859 diese Ballade. Er hielt sie für eine heroische Episode in exotischer Ferne. Er irrte. Vor den Briten hatten sich die Griechen, Perser und Inder die Zähne an den Stämmen des Hindukusch ausgebissen. Nach ihnen versuchten es die Osmanen, die Briten, die Sowjets und die Amerikaner. Sie bombten das Land ins Mittelalter zurück. Ohne Hoffnung?
Der Schnee leis stäubend vom Himmel fällt,
Ein Reiter vor Dschellalabad hält,
„Wer da!“ – „Ein britischer Reitersmann,
Bringe Botschaft aus Afghanistan.“
Afghanistan! er sprach es so matt;
Es umdrängt den Reiter die halbe Stadt,
Sir Robert Sale, der Commandant,
Hebt ihn vom Rosse mit eigener Hand.
Als Theodor Fontane diese Ballade im Jahr 1859 dichtete, stand das britische Weltreich beinahe im Zenit seiner Ausdehnung. Fontane machte das Debakel aus dem ersten anglo-afghanischen Krieg (1839-1842) zum Thema seiner Reime, von dunklem Heroismus durchdrungen. Exotische Bergvölker auf der einen Seite, heldenhafte englische Truppen auf der anderen:
Sie führen in‘s steinerne Wachthaus ihn,
Sie setzen ihn nieder an den Kamin,
Wie wärmt ihn das Feuer, wie labt ihn das Licht,
Er athmet hoch auf und dankt und spricht:
„Wir waren dreizehntausend Mann,
Von Cabul unser Zug begann,
Soldaten, Führer, Weib und Kind,
Erstarrt, erschlagen, verrathen sind.“
Fontane war nie in Afghanistan gewesen. Kein Wunder, galt es zu seiner Zeit doch als Rand der Erde. Zwischen Persien und Indien gelegen, bietet das Land nur im Süden fruchtbares, flaches Terrain. Im Norden und Osten liegt das unwegsame Gebirge des Hindukusch wie ein Sperrriegel. Daran war schon Alexander der Große gescheitert.
„Zersprengt ist unser ganzes Heer,
Was lebt, irrt draußen in Nacht umher,
Mir hat ein Gott die Rettung gegönnt,
Seht zu, ob den Rest ihr retten könnt.“
Sir Robert stieg auf den Festungswall,
Offiziere, Soldaten folgten ihm all’,
Sir Robert sprach: „Der Schnee fällt dicht,
Die uns suchen, sie können uns finden nicht.“
Mitte des 19. Jahrhundert war Afghanistan ein lockeres Königreich, dass die vielen verschiedenen Stämme unter paschtunischer Hoheit vereinte. Die Briten waren eingefallen, weil sie Angst vor den Russen hatten.
Denn nördlich des Hindukusch waren Zarenregimenter aufgetaucht, die möglichweise ein Auge auf das reiche Indien geworfen hatten. Schon Zar Peter der Große hatte es auf einen Hafen am Indischen Ozean abgesehen, weil Russlands Buchten in Nordeuropa und im Baltikum allesamt vom Eise bedroht sind.
Mitte des 19. Jahrhunderts erwies sich diese Furcht zwar als unbegründet. Dennoch rückten die Briten ein und überzogen das Land mit Krieg. Doch so einfach wie in Indien verlief diese militärische Expedition nicht. Zwar ist der flache Südteil des Landes mit Truppen relativ gut zu beherrschen. Die hohen, eisigen Pässe und die Berge jedoch, gehörten wilden Stämmen. Sie kannten das Terrain wie ihre Westentasche, nutzten geschickt seine Vorteile.
Und vor allem: Sie wussten, wie man den erbarmungslosen Winter im Hindukusch übersteht. Dann werden die Täler und Gipfel mit Schneemassen und Orkanen überzogen.
„Sie irren wie Blinde und sind uns so nah,
So laßt sie’s hören, daß wir da,
Stimmt an ein Lied von Heimath und Haus,
Trompeter, blas’t in die Nacht hinaus!“
Da huben sie an und sie wurden’s nicht müd’,
Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied,
Erst englische Lieder mit fröhlichem Klang,
Dann Hochlandslieder wie Klagegesang.
Der Hindukusch schwingt sich bis 7.700 Meter hoch, er zieht sich im Osten bis ins Grenzgebiet zwischen Pakistan und China. Faktisch bildet er den westlichen Ausläufer des Himalaya. Hindu-kusch steht für Hindu-Mörder, ein Begriff, den der Arzt Ibn Battuta auf seinen Wanderungen prägte. Battuta war ein Zeitgenosse von Marco Polo, ihm waren die vielen Hindu-Sklaven in der Region aufgefallen.
Sie bliesen die Nacht und über den Tag,
Laut, wie nur die Liebe rufen mag,
Sie bliesen – es kam die zweite Nacht,
Umsonst, daß ihr ruft, umsonst, daß ihr wacht.
Die hören sollen, sie hören nicht mehr,
Vernichtet ist das ganze Heer,
Mit dreizehntausend der Zug begann,
Einer kam heim aus Afghanistan.
Die erste neuzeitliche Auseinandersetzung der Afghanen mit einer westlichen Großmacht endete im Fiasko: „Im Dezember 1841 begann sich die britische Garnison mit rund viertausend Soldaten, begleitet von nahezu dreimal so vielen Frauen, Kindern und afghanischen Bediensteten durch den Schnee und über die Bergpässe zurückzuziehen”, schrieb Winston Churchill achtzig Jahre später in seiner History of the English-Speaking Peoples. „Fast alle wurden ermordet oder versklavt. Nur ein einziger Überlebender erreichte Indien, am 13. Januar [1842].”
Im darauffolgenden Jahr wurde eine Strafexpedition geschickt, um die britische Ehre wiederherzustellen – durch brutale Massaker. Danach blieb Afghanistan – wie Indien und das spätere Pakistan – unter britischem Einfluss. Ausgenommen der Hindukusch, der wie eine uneinnehmbare Festung nördlich von Kabul thronte – und noch immer thront.
Das Ende des britischen Imperiums
Das britische Imperium bekam Risse, als der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Im mittleren Osten wurde die politische Karte völlig neu gezeichnet. Der Aufstand der Araber gegen die Osmanen wurde zwar von Lawrence von Arabien und der Armee von General Allenby genutzt, um bis nach Mossul, Basra und Damaskus vorzustoßen. Doch konnten die Briten nicht verhindern, dass ihr Einfluss in der Region zwischen dem Mittelmeer und Indien schwand.
Neue Königreiche entstanden: Saudi-Arabien, Irak, Syrien und Jordanien. Der Iran war durch seine Ölvorräte eng mit den Engländern verbunden, die seit 1911 ihre Flotte auf moderne Ölkessel umgestellt und gemeinsam mit den Persern die Ölförderung in Schwung gebracht hatten. Afghanistan lag damals im Schatten sowohl des Iran, als auch Indiens.
Mit dem Zweiten Weltkrieg brach das britische Weltreich endgültig zusammen. Iran und Saudi-Arabien stiegen zu regionalen Großmächten auf, finanziert durch den Ölhunger Europas und Amerikas. Indien erreichte 1949 die Unabhängigkeit.
Auch in Afghanistan herrschten wieder die einheimischen Eliten der Paschtunen. In den 1950er und 1960er Jahren galt das malerische Land als Mekka der Globetrotter und Kiffer, weil auf den Feldern Schlafmohn (Opium) und Cannabis blühten.
Ähnliche Konflikte wie im Iran
Das änderte sich mit der zunehmenden sozialen Spaltung der afghanischen Gesellschaft. Wie im Iran bildete sich eine sehr vermögende Oberschicht heraus, der Millionen ärmster Bauern gegenüber standen. Eigentlich ist das Land am Hindukusch reich an Bodenschätzen, Wasser und fruchtbaren Äckern.
Die wirtschaftliche Entwicklung wurde durch den omnipotenten Handel mit Opium und Haschisch jedoch verzögert. Auch blieb die jahrhundertelange Unterdrückung der Landbevölkerung unverändert. Nur wenige Straßen und Eisenbahnen wurden gebaut. Vor allem im gebirgigen Norden und im Osten blieb die Lage prekär.
Die sozialen Probleme riefen die sozialen Erweckungsbewegungen des 20. Jahrhunderts auf den Plan: religiöse Gruppen oder Fundamentalisten nach sowjetischem Vorbild. Indien versuchte unter Gandhi und Neru einen eigenen Weg. Pakistan rutsche in eine islamisch geprägte Militärdiktatur ab.
Briten und Sowjets fielen gemeinsam ein
Der Iran musste Anfang der 1940er Jahre eine gemeinsame Invasion britischer und sowjetischer Streitkräfte erdulden. Denn Reza Schah Pahlavi hatte mit den Nazis geliebäugelt. Er wurde 1941 gewungen, abzudanken und den Pfauenthron an seinen Sohn Mohammad Reza Pahlavi zu übergeben.
In den 1960er und 1970er Jahren konnte sich der Schah nur halten, weil er ein grnadenloses Regime gegen seine Feine führte. Islamistische und kommunistische Fundamentalisten ließ er gleichermaßen foltern und hinrichten, die Bevölkerung außerhalb Teherans hungerte.
Die Amerikaner unterstützten ihn, denn der Iran war eine Großmacht des Ölzeitalters. Aus historischen Gründen standen die Perser den Arabern feindlich gegenüber, die ihre Ölquellen als Druckmittel gegen den Westen einsetzten.
Schocktherapie für den Westen
Der Ölschock von 1973 fuhr dem Westen so tief in die Knochen, dass er über die Gräueltaten der iranischen Geheimpolizei großzügig hinwegsah. 1975 kam der nächste Schock: In Saigon wehte die rote Fahne, der Vietminh warf die amerikanischen GIs aus dem Land.
Und dann 1979: Das verhasste Regime des Schahs von Persien brach zusammen, Ajatollah Chomeini kehrte aus dem französischen Exil zurück und errichtete die islamische Republik. Der letzte Schah überlebte die Revolution um ein Jahr, er starb 1980 in Kairo.
Die Geburt der Mudschahidin
Ein neuer Schock für den Westen: Chomeini wandte sich gegen die USA, die den Irak unterstützten. Saddam Hussein wollte das Chaos in Teheran ausnutzen und überzog den ölreichen Iran mit blutigem Krieg, der mehr als zehn Jahre dauern und mehr als eine Million Menschenleben fordern sollte.
Nun rückte Afghanistan in den Blickpunkt, die letzte Bastion der CIA in dieser Region. Dort hatten sich die sozialen Konflikte so weit verschärft, dass kommunistische Kräfte die Oberhand gewannen.
Nach Syrien oder Vietnam drohte auch Afghanistan ins Lager der Roten abzudriften. Zbigniew Brzezinski, gebürtiger Pole und Feind der Sowjets, war damals der Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter. Er empfahl, die aufsässigen Stämme gegen die sowjetfreundlichen Kräfte in Kabul mit Waffen und Geld zu unterstützen.
Die Sowjets verloren die Nerven
Brzezinski hatte die Region südlich der sowjetischen Grenze als Soft Underbelly bezeichnet, als weichen Unterbauch der Kommunisten. 1978 kam eine politische Gruppierung per Staatsstreich an die Macht, die sich an den Ostblock anlehnte. Sie plante eine Bodenreform und wollte wichtige Wirtschaftszweige verstaatlichen.
Dagegen lehnten sich eine starke Oberschicht auf, die sich unter der grünen Fahne des Propheten sammelte. Sie wollte verhindern, dass Afghanistan zu einem säkularisierten Staat nach dem Vorbild Syriens oder des Irak wurde. Ein Bürgerkrieg brach aus, an der bis zu 30 Mudschahidin-Gruppen beteiligt waren.
Die bedrohte Regierung in Kabul forderte sowjetische Militärhilfe, die Moskau zunächst verweigerte. Man fürchtete den Verlust von außenpolitischem Prestige. Das Debakel der Invasion in der Tschechoslowakei im Jahr 1968 hatte die Sowjets nahezu alle westlichen Verbündeten gekostet. Die kommunistischen Parteien in Frankreich, Italien, in Großbritannien und den USA waren auf Distanz gegangen.
Die Ängste des KGB
Doch wuchs die Angst des KGB, dass sich Kabul an die Amerikaner wenden könnte, um dort die ersehnten Waffen zu bekommen. Denn Zwischenzeitlich war die prosowjetische Riege in Kabul entmachtet und durch konservative Kräfte ersetzt worden. Ihr Vormarsch konnte die islamischen Völker in Usbekistan, Kasachstan, Turkmenien und Tadschikistan anstecken. Zudem lockte der Zugang zum Indischen Ozean.
1979 war nicht nur das Jahr der iranischen Revolution. Es markierte auch den Tiefstand der Beziehungen zwischen der Nato und dem Warschauer Vertrag, durch den Nato-Doppelbeschluss vom 12. Dezember 1979.
Siebentausend Fallschirmjäger
Deshalb gab Kremlchef Leonid Breschnew den Befehl zum Einmarsch. So begann der nächste Akt im Trauerspiel von Afghanistan. Weihnachten 1979 überschritten sowjetische Divisionen die Grenze, motorisiert und bis an die Zähne beaffnet.
Rund siebentausend Fallschirmjäger sprangen über Kabul und Bagram ab. Zuvor eingesickerte Spezialkräfte des KGB stürmten den Präsidentenpalast und andere wichtige Ziele.
Die neue afghanische Führung wurde geschlachtet, politische Gefangene befreit und die Machtübernahme durch den Strohmann Babrak Karmal verkündet. Im Februar 1980 standen bereits 85.000 sowjetische Soldaten im Land, bis 1988 wuchs ihre Zahl auf rund 115.000.
Die CIA gibt nicht auf
Die Amerikaner sahen nicht tatenlos zu. Sie formten die Mudschahidin, die Krieger Gottes, die sich aus den weitgehend ungebildeten Stämmen des Nordens und Ostens rekrutierten. Diese zähe Guerilla erhielt Geld und Waffen aus den USA, Saudi-Arabien und Pakistan. In der Operation Cyclone schleuste die CIA mehrere Milliarden US-Dollar ins Land, als verdeckte Militärhilfe, die Kämpfer wurden in Pakistan ausgebildet.
Um den Widerstand gegen die sowjetischen Besatzer anzuspornen, hatten die USA unter anderem mehrere Millionen Dollar in sogenannte Lehrbücher investiert. Sie verherrlichten die Gewalt, islamistischen Fundamentalismus und verfälschten Zitate aus dem Koran.
Solche Bücher wurden in afghanischen Flüchtlingslagern in Pakistan verwendet, um Nachwuchs für die Mudschahidin zu rekrutieren. Auch die späteren Taliban verwendeten die in den USA produzierten Bücher. Um nicht gegen das Bilderverbot der Taliban zu verstoßen, wurden menschliche Gesichter aus den Seiten heraus geschnitten.
Keine Gnade, auf beiden Seiten nicht
Der Krieg zwischen Sowjets und islamischen Gruppen kannte keine Gnade. Die Mudschahidin machten keine Gefangenen. Sowjetische Truppen brannten die kargen Siedlungen nieder und überließen die Menschen dem Hunger und dem eisigen Winter.
Doch nicht einmal schwere Kampfhubschrauber brachten den Erfolg. Aus dem Westen erhielten die Gotteskrieger handliche Stingerraketen, die man von der Schulter abfeuern konnte.
Sieben größere islamische Gruppen bildeten den Kern des Widerstands, ihr Hauptquartier befand sich in Pakistan. Der wichtigste Warlord war der berüchtigte Gulbuddin Hekmatyar, den die USA und Westdeutschland offen unterstützten. Untereinander waren die Warlords zerstritten, doch der gemeinsame Feind einigte sie.
Zwar hielten die Sowjets die Städte, im Landesinneren waren sie beinahe ohne Chance. Im Hindukusch erwiesen sich die Höhlen und Schächte der Mudschahidin als uneinnehmbar, selbst schweres Kriegsgerät und totale Überlegenheit in der Luft versagte. 1982 hatte sich der Krieg festgelaufen, verkam zum Terror auf beiden Seiten.
Afghanistan, der Alkohol und Tschernobyl
1985 waren Breschnew und zwei seiner greisen Nachfolger in kurzer Folge gestorben. Michail Gorbatschow wurde der neue, starke Mann im Kreml. Er trat mit dem Versprechen an, den irren Krieg in Afghanistan zu beenden.
Ein Jahr später explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl. Die gesamte Wirtschaftskraft der Sowjets wurde aufs Äußerste beansprucht, um das Schlimmste zu verhüten. Das erhöhte den Druck, das Abenteuer am Hindukusch schleunigst zu beenden.
Ab Mai 1988 zogen sich die Sowjets zurück. Ein Jahr später waren die offiziell 100.300 Soldaten der Roten Armee zurück in ihrer Heimat. Afghanistan hatte über eine Million Tote zu beklagen, fünf Millionen Menschen waren wegen des Krieges aus dem Land geflohen. Auf sowjetischer Seite starben etwa 13.000 Soldaten. Später revidierte der russische Generalstab diese Zahl nach oben, auf mehr als 26.000 tote Soldaten.
Gorbatschow bezeichnete die Invasion und den fast zehnjährigen Krieg in Afghanistan später als einen der drei wichtigsten Gründe für den Zerfall der Sowjetunion: „Afghanistan, der Alkohol und Tschernobyl“.
Das Vakuum nach dem Abzug
Kaum hatten die Sowjets ihre Truppen heimgeführt, begann der nächste Akt des Trauerspiels: der Bürgerkrieg unter den Mudschahidin. Die Sowjetunion und die USA hatten sich 1988 in Genf verpflichtet, fortan die Finger von dem gepeinigten Land zu lassen – mehr oder weniger.
Bereits im Januar 1989 hatten die Mudschahidin die Hauptstadt Kabul umzingelt, es wurde über eine sowjetische Luftbrücke versorgt. Die Antikommunisten hatten in Peschawar in Pakistan eine Gegenregierung gebildet. Bis zum Frühjahr 1992 brachten die Mudschahidin weite Teile von Afghanistan unter ihre Kontrolle.
Der Streit der Warlords
Ende April 1992 marschierten sie kampflos in Kabul ein. Das Land wurde in verschiedene Sektoren unterteilt, um die Einflussbereiche der Warlords zu markieren. Nachdem Kabul in ihre Hände gefallen war, flammten die Kämpfe zwischen den Gotteskriegern erneut auf.
Der Bürgerkrieg erreichte eine neue Stufe. Die fundamentalistischen Taliban gingen als Sieger hervor und errichteten einen islamistischen Gottesstaat.
Der Iran spielte dabei zunächst kaum eine Rolle. Erst 1989, als der Krieg gegen den Irak vorbei war, initiierten die Mullahs in Teheran, dass sich die schiitischen Mudschahidin in Afghanistan vereinten. Saudi-Arabien hatte stets die sunnitischen Gotteskrieger unterstützt, sogar eigene Kämpfer ins Land geschickt.
Empfang für Hekmatyar in Bonn
Die Bundesrepublik Deutschland stellte 1981 rund 60 Millionen Mark für afghanische Flüchtlinge in Pakistan bereit. Afghanische Warlords wurden in Bonn empfangen, unter ihnen Hekmatyar. Angesichts der Hungersnot erhielt der afghanische Widerstand über 100.000 Mark von der Bundesregierung.
Zudem unterstützten CSU-nahe Kreise die islamistische Miliz Hekmatyars finanziell. Die Fundamentalisten durften 1980 in Bonn ein Büro eröffnen, um Unterstützer im Westen anzuwerben.
Der Bundesnachrichtendienst hatte es sich zur Aufgabe gemacht, in Afghanistan die neueste Waffentechnik der Sowjets zu analysieren. Eigens dafür wurde in Pakistan ein Büro gegründet, getarnt als Lazarett. Das war bald überflüssig, denn im Oktober 1990 übenahm die Bundeswehr sämtliche Bestände der Nationalen Volksarmee – und stieg zu einem der größten Händler für sowjetische Militärtechnik weltweit auf.
Die StVO der DDR übernommen
Auch die Deutsche Demokratische Republik war an dem Konflikt beteiligt. Sie bildete Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere der afghanischen Streitkräfte aus, ferner Polizeikräfte – wie später die westliche Allianz nach 2002. Die Nationale Volksarmee unterstützte die afghanische Armee zudem mit Nachrichtentechnik.
Die Stasi soll ungefähr tausend Afghanen für den Geheimdienst ausgebildet haben. Zudem half die DDR im Bildungssektor: durch Schulen und Lehrmaterialien.
Ein Treppenwitz der Geschichte: Im Jahr 2000, zehn Jahre nach dem Ende der DDR, wurde in Afghanistan die Straßenverkehrsordnung der DDR eingeführt. Der Grund: Viele afghanische Soldaten waren in der DDR ausgebildet worden.
Nine Eleven und der nächste Krieg
Die Angriffe auf das World Trade Center und das Pentagon in New York und Washington, D.C., am 11. September 2001 läutete das nächste Kapitel des afghanischen Trauerspiels ein. Nach den Briten und den Sowjets war es nun an den Amerikanern, ihre Irrtümer mit viel Blut zu bezahlen.
Afghanistan versank zu dieser Zeit noch immer im Chaos, hatte sich weder politisch, noch wirtschaftlich oder sozial gefestigt. Nach Angaben der CIA gewährten die Taliban mutmaßlichen Terroristen Unterschlupf, allen voran Osama bin Laden, nach Angaben der CIA einer der Drahtzieher der Anschläge.
Nun zogen die Vereinigten Staaten in den Krieg gegen den Terror, die Nato im Schlepptau. Auch dieser Krieg endete im Patt, wieder erwies sich der Hindukusch als uneinnehmbar.
Die Amerikaner und ihre westeuropäischen Hilfstruppen stehen fast doppelt so lange im Land wie seinerzeit die Sowjets. Seit 2001 bis 2020 starben rund 3.600 Soldaten der westlichen Allianz. Allein zwischen 2014 und 2018 wurden 30.000 einheimische Sicherheitskräfte getötet. Niemand hat genaue Zahlen über die Verluste der Zivilbevölkerung: Sie dürften in die Hunderttausende gehen.
Irrtum, Arroganz und Enttäuschung
Nun – im Jahr 2021 – macht sich auch die jüngste fremde Besatzungsmacht aus dem Staub. Der Abzug des Kontingents der Bundeswehr hinterlässt allein 59 tote Soldaten (Stand Ende 2020), deren Zinksärge mit großem Pomp heim ins Reich überführt wurden.
Viele deutsche Afghanistankrieger kehrten und kehren traumatisiert in ihre Heimat zurück. Sie teilen diese Erfahrung mit sowjetischen und amerikanischen Kollegen.
Es war der gleiche Irrtum, die gleiche Arroganz und die gleiche Lüge, die sie ins Land brachte. Und die gleiche bittere Enttäuschung, nach völlig sinnlosen Opfern, diesem Land den Rücken zu kehren. Nicht Freiheit oder Sicherheit wurden am Hindukusch verteidigt, sondern das dicke Geschäft des Krieges.
Altes und neues Chaos
Nach wie vor herrschen die Taliban. Die Interessen fremder Mächte haben die zaghafte Modernisierung in den 1950er und 1960er Jahren zunichte gemacht. Ausländische Besatzer haben den Islamisten in die Hände gespielt, haben die Gotteskrieger geboren, ernährt und aufgebaut.
Nun geben regionale Leitmächte den Ton an: der Konflikt zwischen Iran und Saudi-Arabien sowie die Fundamentalisten in Pakistan. Experten schätzen, dass rund 28.000 Pakistani auf der Seite der Taliban und von Al-Qeida kämpften. Hinzu kamen etwa dreitausend Milizionäre aus arabischen Ländern oder Zentralasien. Von geschätzten 45.000 Soldaten, die gegen die gemäßigte Regierung in Kabul kämpften, waren nur etwa 14.000 Afghanen.
Die Taliban stellen die Frauen faktisch unter Hausarrest, zudem verüben sie systematische Massaker an der Zivilbevölkerung, vor allem unter gebildeten Schichten. Der islamistische Terror stützt sich auf ungebildete Gotteskrieger, die nach vier Jahrzehnten Krieg nichts anderes kennen, als Tod und Zerstörung.
Heißes Pflaster für großes Geld
Daran hat der Einsatz der westlichen Allianz seit Oktober 2001 faktisch nichts geändert. Nur vier Wochen nach dem Tod von knapp 3.000 Amerikanern in New York rückten hochgerüstete Spezialeinheiten ein, die sogenannte Afghanistan-Schutztruppe (International Security Assistance Force: Isaf).
Zwei Jahrzehnte später, Anfang 2021, beschränkt sich ihre Kontrolle auf die wichtigsten Städte. Weite Landesteile sind sogenannte No-go-Areale. Dass Pakistan hinter den Taliban steht, offiziell ein Verbündeter der Nato, stört die westliche Allianz nicht.
Auch nicht, dass der Krieg im wesentlichen durch Opium finanziert wird, dessen horrende Erlöse in Westeuropa und den USA viel Geld in die Kassen der Taliban spülen. Hinzu kommen Petrodollars aus Ryiad und Teheran, um die Günstlinge der Saudis und der Ayatollahs zu päppeln.
Niemand hat Interesse am Frieden
Fazit: Afghanistan zu befrieden, war und ist niemals ein Ziel gewesen – weder der Sowjets, noch des Westens. Die medienwirksame Ermordung von Osama bin Laden während der Operation Neptuns Speer sollte von den militärischen Misserfolgen ablenken.
Sie sollte aber auch die wirtschaftlichen Erfolge verschleiern. Denn die Rüstungsindustrie – in den USA, in Frankreich, in Großbritannien und in Deutschland – verdiente prächtig, ebenso die Drogenkartelle und die Mineralölwirtschaft, die bei jedem militärischen Konflikt kräftig kassiert.
Im Februar 2020 unterzeichneten die Vereinigten Staaten und die Taliban einen Friedensvertrag, um den Abzug der Nato zu regeln. Er ist das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt wurde. Nach dem Abzug der Isaf wird der Bürgerkrieg mit neuer Härte aufflammen.
Schwere Zeiten für die Taliban
Dass die Taliban zum islamischen Staat zurückkehren, könnte sich für sie jedoch als Pyrrhussieg herausstellen. Denn die von religiöser Inbrunst getragenen Gotteskrieger müssen nun die Herausforderungen des Friedens meistern.
Dass islamistische Fundamentalisten dazu kaum in der Lage sind, beweisen die Saudis in Ryiad und die Mullahs in Teheran gleichermaßen. Um von innenpolitischer Instabilität und sozialen Problemen abzulenken, suchen sie den außenpolitischen Konflikt, etwa gegen Jemen oder gegen Israel oder gegeneinander. In der modernen, vernetzten Welt haben mittelalterliche Theokraten keine Chance, nicht auf Dauer.
Die Taliban sind im Krieg geboren. Im Frieden müssen sie sich mäßigen und viel schwierigere Probleme lösen. Ob das gepeinigte Land dafür ausreichend Ruhe findet, bleibt offen.
Zehn Millionen Minen
Drückend ist die Last der Kriege: Nach Angaben der Uno stecken zehn Millionen Minen in der trockenen Erde von Afghanistan. Kabul ist die am stärksten verminte Stadt der Welt. Die Sprengsätze stammen teilweise von den Sowjets, zum Teil aus den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Iran.
Die Taliban setzten pakistanische Landminen ein. 2002 starben 1.286 Afghanen durch Minen, die Dunkelziffer liegt um etliches höher. Ungezählt sind Krüppel und Leichtverletzte.
Landwirtschaft liegt am Boden
Zudem liegt die Landwirtschaft am Boden. Die ehemals umfangreichen Viehbestände existieren nicht mehr. Obwohl nur sechs Prozent der Landfläche nutzbar sind, arbeiten zwei Drittel der Afghanen in der Landwirtschaft.
Die Arbeitslosigkeit erreicht mehr als 25 Prozent. Afghanistan gehört zu den Schlusslichtern in der Welt, wenn es um das Bruttoinlandsprodukt oder verschiedene Modelle geht, die den Entwicklungsstand zu bewerten.
Die Wälder sind zerstört, die Böden ausgelaugt, das Grundwasser versiegt. Die karge Landwirtschaft ist sehr anfällig gegen Dürren und andere Naturkatastrophen. Der Klimawandel schlägt besonders hart zu. Manche Flüsse und Seen sind mittlerweile völlig ausgetrocknet. Teile der Bevölkerung sind auf Hilfen angewiesen, um nicht zu verhungern oder zu verdursten.
Größter Produzent von Opium
Dagegen wuchs die Anbaufläche für Schlafmohn von 70.000 Hektar (1994) auf 200.000 Hektar (2016) an. Afghanistan ist der größte Opiumproduzent der Welt. Im Juli 2000 hatten die Taliban den Anbau verboten, so dass er binnen eines Jahres fast auf null sank.
Seit die Amerikaner im Land stehen, ging es mit dieser Branche wieder aufwärts. 2006 machte der Handel mit Opium beinahe die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus. Damals wuren mehr als sechstausend Tonnen geerntet – 92 Prozent der Weltproduktion.
Der Exportwert dieses Opiums liegt bei 3,1 Milliarden US-Dollar. Sein Straßenpreis in den USA und anderswo erreicht rund 38 Milliarden US-Dollar. Im Herbst 2007 wurden in Afghanistan 8.200 Tonnen Opium geerntet. Der afghanische Opiumfarmer erzielt etwa 122 US-Dollar pro Kilogramm. Somit ist Anbau von Schlafmohn für ihn etwa um das Zehnfache lukrativer als der Anbau von Weizen.
Zudem ist Afghanistan der größte Produzent von Haschisch, das aus Cannabispflanzen gewonnen wird. Pro Hektar werden 145 Kilogramm Cannabisharz gewonnen. In Marokko, das über die weltgrößte Anbaufläche für Cannabis verfügt, sind es pro Hektar nur 40 Kilogramm.
Reich an Bodenschätzen
Afghanistan ist reich an Bodenschätzen, vor allem Eisen, Kupfer, Kohle, Erdgas, Edelsteine und Erdöl. Allerdings sind zu ihrer Erschließung hunderte Millionen US-Dollar erforderlich.
In absehbarer Zeit hat das instabile Land keine Aussicht, dass sich die Investoren tummeln. Zumal die großen Produzenten von Erdgas und Erdöl – Iran, Irak, Saudi-Arabien oder Russland – kein Interesse an neuer Konkurrenz haben. Die Preise für diese Rohstoffe liegen dauerhaft am Boden und geraten durch saubere Energie aus Photovoltaik oder Windkraft zusätzlich unter Druck.
Sonne und Wind hat Afghanistan im Überfluss. Darin liegt eine gewaltige Chance, um ausreichend Energie für die Versorgung der Bevölkerung zu gewinnen. Zudem ist viel Wasser vorhanden. Allerdings ist die Erschließung von Wasserkraft durch Dämme und Talsperren ungleich teurer als Sonnengeneratoren oder Windräder.
Frieden – die einzige Hoffnung
Dennoch: Afghanistan hat nur eine Hoffnung – den Frieden. Kein Land der Welt, keine Herrschaftsform kann sich dem Sog der Modernisierung entziehen – auch wenn es noch mit einem Bein im Mittelalter steht. Die Isolationspolitik der Taliban hat keine Zukunft, wie sie in Teheran oder bei den Saudis ein Auslaufmodell ist.
Nur im Frieden wird sich das Chaos ordnen, langsam, mit dem Schrittmaß, den dieses geschundene Land mit seinen vielfältigen Völkern und Gegebenheiten braucht. Das beweist die geschichtliche Erfahrung. So etwas funktioniert nur von innen heraus. Und es braucht seine eigene Zeit. Gesellschaften, die sich heute ihrer Demokratie rühmen, brauchten dafür Jahrhunderte:
Zwei Warlords: Cromwell und Washington
Oliver Cromwell trat als Warlord in die englische Geschichte, als Fundamentalist, der sogar den englischen König köpfen ließ. Später setzte er sich quasi selber als Oberlord ein, um das Chaos zu beenden. Hätten damals die Franzosen interveniert, wäre die englische Revolution niemals erfolgreich gewesen.
Und der Freischärler George Washington lehnte sich hundert Jahre später gegen fremde Besatzer – die Briten – auf, um sein Land in die Freiheit zu führen. Auch er war – nach gültiger Definition – ein Warlord, ein irregulärer Kriegsherr, neudeutsch: Outlaw. Hätten ihn die Rotröcke damals in die Hände bekommen, hätten sie ihn als Aufrüher am nächstbesten Baum aufgeknüpft.
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