Ende einer Dienstfahrt
Adolf Eichmann war der oberste Scherge in der Nazihierarchie der Judenmörder. Als Beamter auf Lebenszeit wurde er nach dem Krieg von der Regierung Adenauer geschützt. Bis ihn der Mossad aufspürte und zur letzten Reise lud – nach Israel, um ihn vor Gericht zu stellen.
Am 23. Mai 1960 trat Israels Ministerpräsident David Ben-Burion vor die Knesset in Tel Aviv. Sein Statement ging um die Welt: Der oberste Beamte der Abteilung IV B4 des ehemaligen Reichssicherheitshauptamts (RSHA) befindet sich in Gewahrsam in Israel und erwartet seinen Prozess.
IV B4 war das Referat für Judenangelegenheiten der Nazimordmaschine. Dort liefen die Fäden der sogenannten Endlösung zusammen. Leiter des Referats war Adolf Eichmann.
Der Mossad schlug zu
In einer Nacht- und Nebelaktion hatte der israelische Geheimdienst Mossad in Buenos Aires zugeschlagen. 15 Jahre lang waren die Agenten jedem Hinweis nachgegangen, Eichmann könnte am Leben sein und sich verstecken.
Denn eigentlich galt er als tot. Eichmann wurde seit Frühjahr 1945 vermisst, es gab keine offiziellen Hinweise auf seinen Verbleib. Sein Frau Vera Liebl – sie war Deutsche, er Österreicher – ließ ihn für tot erklären und brach nach Argentinien auf. Dort heiratete sie ein zweites Mal. Die Söhne Eichmanns nahm sie mit nach Buenos Aires, wo die Familie fortan lebte.
Ricardo Klement, der neue Gatte von Frau Eichmann, war den deutschen Behörden bekannt. Die Organisation Gehlen, unter den Altnazis in Südamerika bestens vernetzt, hatte schon 1958 die CIA informiert, dass Klement ein falscher Name war.
Er deckte den meistgesuchten Nazimörder Adolf Eichmann, der im Nürnberger Prozess als Organisator der Deportationen von Millionen Juden in die Gaskammern von Treblinka und Auschwitz bekannt wurde.
Adenauer legte sich quer
Auf Wunsch der Bundesregierung unter Kanzler Adenauer gab die CIA ihr Wissen nicht an den Mossad weiter. Adenauer befürchtete, dass Eichmann im Falle seiner Verhaftung über Hans Globke aussagen könnte.
Globke war Staatssekretär im Kanzleramt, sozusagen Adenauers rechte Hand. Unter den Nazis hatte der geschmeidige Jurist die Gesetze zur Entrechtung und Vernichtung der Juden formuliert.
1958 lebte Eichmann bereits acht Jahre in Argentinien, unter falschem Namen, unter dem Schutz Adenauers und des Auswärtigen Amtes, denn die deutsche Botschaft in Buenos Aires kannte sowohl den Mann als auch seine Vergangenheit. Die zweite (Schein)-Heirat von Vera Liebl lief über ihren Tisch, als sei Eichmann tatsächlich zum Kriegsende verschollen wie Martin Bormann, Hitlers rechte Hand, oder Josef Mengele, der Todesarzt von Auschwitz.
Eine preußische Erfindung
Bislang ist wenig untersucht, wie wichtig das Beamtentum für die brutale Effektivität der Nazimaschine war. Vom preußischen Soldatenkönig eingeführt, verband der Beamte die Arbeit für den Staat mit einer quasi militärischen Unterordnung unter seinen Dienstherren.
Der alte Fritz perfektionierte die Kaste des Staatsknechts weiter, auf diese Weise baute er eine effiziente Verwaltung auf – zu überschaubaren Kosten. Denn den Beamten stand nur eine besondere Altersversorgung zu, während sie im aktiven Dienst eher überschaubare Bezüge erhielten.
Im Deutschen Reich und Bismarcks Verwaltung seit 1871 wurden die Beamten zu den Pfeilern des preußischen Staates. Sie bildeten eine wachsende Schicht, die sich aufgrund ihre Bezüge und ihrer Versorgungsansprüche deutlich von den Angestellten der Industrie und den Arbeitern abhoben.
Nach der Revolution von 1919 und später in der Weimarer Republik zeigte sich deutlich die konservative Haltung der Beamten, die ihre Arbeit für den Staat über die Demokratie und den Parlamentarismus stellten.
Nahtloser Übergang zur NSDAP und zur SS
Die Beamtenschaft in Deutschland (und nach dem sogenannten Anschluss 1938 auch in Österreich) stellte sich weitgehend hinter die NSDAP, etliche Staatsdiener wurden schon zu einem frühen Zeitpunkt Mitglied in Hitlers Partei und in der SS.
1933 hatte Hitler mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums alle Juden vom Staatsdienst ausgeschlossen, sofern sie nicht im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten. Auch Sozialisten oder Kommunisten wurden entfernt. Alle Beamte mussten sich als Arier nachweisen, wollten sie ihren Job behalten – und auf den NS-Staat schwören.
Adolf Eichmann (geboren 1906) war 1927 der Frontkämpfervereinigung Deutsch-Österreichs beigetreten. Der gelernte Elektrotechniker arbeitete zunächst als Sachbearbeiter für die Firmen Vacuum Oil und Elektrobau in Wien. Im April 1932 wurde er Mitglied der österreichischen NSDAP (Mitgliedsnummer 889.895) und der SS (Nummer 45.326).
Im Juli 1933 wurde die NSDAP in Österreich verboten. Deshalb floh Eichmann nach Bayern, zur Österreichischen Legion in Klosterlechfeld und später nach Dachau, zur paramilitärischen Ausbildung bei der SS. Hier meldete er sich im Oktober 1934 freiwillig zum Sicherheitsdienst (SD) der SS nach Berlin. Seine Karriere in der Machtzentrale der Nazis begann.
Der COO oder CGC des Judenmords
Eichmann war still, effizient und fantasiereich. So stieg der Musterbeamte steil auf. Als Anfang der 1940er Jahre am Wannsee die Vernichtung der europäischen Juden – die sogenannte Endlösung – beschlossen wurde, übernahm er den Job.
Nach heutiger Begrifflichkeit könnte man ihn als COO (Chief Operating Officer) des Judenmords bezeichnen, vom NS-Staat autorisiert und bezahlt, oder besser als CGC (Chief of Gas Chambers). Eichmann wirkte beinahe unsichtbar: Nach dem Krieg gab es nur sehr wenige Fotos von ihm und keine Fingerabdrücke.
Öffentlich aufgefallen war er durch die Aussagen von Dieter Wisliceny, die ein amerikanischer Ankläger für den Nürnberger Prozess aufnahm. Wisliceny saß damals im Knast in Bratislava, wo ihn die Slowaken vor Gericht stellten. Er wurde 1948 gehängt.
Wisliceny war Subalterner in Eichmanns Team in der Abteilung IV B4 des RSHA. Er bestätigte, dass Eichmann nie im Rampenlicht stand wie seine Bosse: Heydrich, Kaltenbrunner und Himmler.
Die Legende vom Selbstmord
Eichmann habe nie selbst einen Menschen getötet. Er war ein stiller, sehr sorgfältiger Beamter, der Akten schrieb und gewaltige logistische Aufgaben löste: die Erfassung, Sammlung und den Transport von Millionen Menschen aus ganz Europa in die Todeslager im Osten.
Er sortierte Akten, organisierte Deportationen und führte Befehle aus. Akribisch hielt Eichmann jeden Befehl seiner Vorgesetzten fest, um sich von Schuld rein zu halten. Doch Eichmann war nicht der graue, staubige Beamte, der nicht wusste, was er tat. Wisliceny zitierte ihn, als er Eichmann Ende Februar 1945 zum letzten Mal in Berlin begegnete: „Er sagte, er würde lachend ins Grab springen, weil fünf Millionen Menschen auf seinem Gewissen für ihn eine außergewöhnliche Befriedigung seien.“
Mit Wislicenys Aussage entstand auch die Legende, Eichmann habe aus Angst vor den Alliierten Selbstmord verübt und sei in den Wirren der letzten Kriegswochen verschollen. Seine Aussage zeigte Eichmann als erbarmungslosen Schreibtischtäter.
Auf ihn traf genau zu, was der französische Germanist Robert d‘Harcourt erforschte: „Das deutsche Beamtentum arbeitet mit beneidenswerter Effizienz, allerdings im Unrecht genauso wie im Recht“, schrieb er nach Kriegsende. „Es hat nichts anderes gelernt, als sich einfach einem Räderwerk gleich zu drehen.“
Das Buch vom Chef des Mossad
Erhellend sind die Informationen von Isser Harel, dem Gründer und ersten Chef des Mossad. In seinem Buch The House in Garibaldi Street (erschienen 1975) hat er die Suche nach Eichmann akribisch nachgezeichnet.
Harel war David Ben-Gurion gegenüber für die Jagd auf die Altnazis verantwortlich: allesamt ehemalige deutsche Staatsbeamte wie Adolf Eichmann, Josef Mengele oder Franz Stangl, Kommandant des Todeslagers von Treblinka.
Rudolf Höß, der Lagerchef von Auschwitz, war den Russen bereits in die Hände gefallen. Er wurde 1947 in Krakau abgeurteilt und gehängt – in Auschwitz, dem Ort seiner unglaublichen Verbrechen. Der Galgen steht dort noch heute.
Die Israelis wussten, dass viele Nazis mit Hilfe katholischer oder protestantischer Orden nach Südamerika geflohen waren. Mit dem Segen des Papstes wurden ihnen beispielsweise Rot-Kreuz-Pässe ausgestellt, um sie nach Argentinien oder Brasilien zu schleusen.
Eichmann war Katholik. Nachdem er 1945 für kurze Zeit unter falschem Namen von den Amerikanern interniert worden war, gelang ihm die Flucht. Er tauchte bei Bauern unter, bis er 1950 über die sogenannte Rattenlinie von Rom nach Genua und per Schiff nach Argentinien fliehen konnte.
Unter Peróns Fittiche
Dort schlüpfte er unter die Fittiche von Diktator Juan Perón, der sich offen mit Altnazis zeigte. Es gibt ein Foto von Eichmann, als er im persönlichen Eisenbahnwagen des argentinischen Staatschefs sitzt – neben Perón.
Dieses und weiteres aufschlussreiches Bildmaterial wurde im Report von Isser Harel sowie in Minister of Death – The Adolf Eichmann Story präsentiert, das 1960 von Quentin Reynolds, Ephraim Katz und Zwy Aldouby veröffentlicht wurde.
In Argentinien lebten Altnazis und Juden auf seltsame Weise – beinahe Tür an Tür. Viele europäische Juden waren vor den Nazis nach Südamerika geflohen, schon vor 1933 oder der Kristallnacht 1938. Als Perón 1955 gestürzt wurde und ins Exil ging, verbesserte sich das Verhältnis Argentiniens zum jungen Staat Israel.
Möglicherweise wäre Eichmann spätestens dann nach Deutschland ausgeliefert worden, wenn es einen Antrag aus Bonn gegeben hätte. Aus den oben erwähnten Gründen hielten die Beamten im Kanzleramt Adenauers – etliche ehemalige Kollegen von Eichmann in Diensten der Nazis – die Füße still.
Ein Ersuchen aus Israel wiederum hätte Eichmann über das weitverzweigte Netzwerk der Nazis in Argentinien sofort erfahren und wäre abgetaucht, etwa nach Brasilien (wie Franz Stangl und Josef Mengele) oder nach Bolivien (wie Klaus Barbie, der „Schlächer von Lyon“).
Ein Tipp von Fritz Bauer
In Deutschland wurden etliche angeklagte Ex-Nazis freigesprochen, wenn sie sich auf „Befehlsnotstand“ berufen konnten. Noch 1968 sollte das Strafrecht geändert werden, um früheren Nazibeamte von juristischer Verfolgung freizustellen.
Einer der aktivsten Ankläger und Nazijäger in Deutschland war der Jurist Fritz Bauer, seinerzeit Staatsanwalt in Hessen. Er musste erleben, wie seine Klagen oft am Filz der Altnazis scheiterten. Denn die deutschen Gerichte waren weitgehend mit Juristen besetzt, die schon dem Dritten Reich gedient hatten.
Nach Angaben von Isser Harel war es ein Tipp Bauers, der die Aktion gegen Eichmann in Gang setzte. Die Quelle war ein Mann namens Lothar Hermann, ein blinder Jude aus Deutschland, der in Olivos lebte, einem Vorort von Buenos Aires.
Über die Söhne aufgespürt
Seine Tochter war mit einem jungen Mann namens Nicolas Eichmann liiert, Sohn des Ehepaars Ricardo und Vera Klement. Nicolas ist die spanische Adaption von Klaus, dem Vornamen von Eichmanns ältestem Sohn.
Ab Januar 1958 begann der Mossad, Eichmann in Olivos auszuspähen. Denn Ricardo Klement legte ein merkwürdiges Verhalten an den Tag. Gut getarnt in der ärmlichen Umgebung der Siedlung für kleine Angestellte und Arbeiter vornehmlich deutscher Abstammung, machte er sich rar, beinahe unsichtbar. So bekam ihn Hermanns Tochter nie zu Gesicht, eine Einladung ihrer Eltern zum gegenseitigen Kennenlernen blieb unbeantwortet.
Zugleich wurde Eichmanns Familien in Deutschland und Österreich von israelischen Agenten – die meist ehemals Deutsche waren und sich gut auskannten – überwacht. Auch hier erlebten sie eine seltsame Mauer des Schweigens, die den Kriegsverbrecher und Obersturmbannführer der SS umgab.
Rund 70 Leute beteiligt
Nach Angaben von Isser Harel waren an der Aktion weltweit rund 70 Personen beteiligt, darunter Dr. Hans Friedenthal (1936 bis 1939 zweiter Vorsitzender der Deutschen Zionistischen Organisation) und Moshe Agani (Repräsentant der Jewish Agency 1938 in Wien). Beide kannten Eichmann persönlich und halfen, ihn zweifelsfrei zu identifizieren. Denn die Agenten lieferten Fotos, um jede Verwechslung auszuschließen.
Eichmann tarnte sich in Olivos auf beinahe perfekte Weise. Geflohenen Nazigrößen wurde meist unterstellt, dass sie über Geld und Schmuck verfügten und Luxus pflegten. Eichmann fiel in die Rolle des kleinen Angestellten zurück, fuhr jeden Tag pünktlich zur Arbeit und kehrte ebenso pünktlich heim. Er ging faktisch nie vor die Tür, und lebte seit acht Jahren völlig unauffällig mit seiner Familie.
Hilfreich war die Sensationslust der Medien. Nach dem Krieg tauchten immer wieder Berichte auf, Eichmann sei entdeckt worden: So meldete Ende der 1950er Jahre eine Zeitung, Eichmann befände sich in Kuwait, wo er für eine Ölfirma arbeite.
Das schien damals plausibel, denn viele Altnazis hatten Zuflucht in arabischen Staaten gesucht und gefunden, die Israel feindlich gegenüberstanden. Beispielsweise bauten deutsche Techniker und Ingenieure an Raketen für Nasser in Ägypten. Das lief so lange ungestört, bis der Mossad Briefbomben schickte.
Per Flugzeug oder per Schiff?
Nachdem der Mossad Eichmann in Argentinien entdeckt und zweifelsfrei identifiziert hatte, war zu entscheiden, wie er aus Argentinien nach Israel käme. Seinerzeit gab es keine Direktflüge von Tel Aviv nach Buenos Aires. Das sind 9.500 Meilen, solche Entfernungen waren damals nonstop nicht möglich.
Ein Flug konnte nur mit Zwischenstopps erfolgen: etwa im brasilianischen Recife und in Dakar in Senegal in Westafrika. Transport per Schiff schied aus, weil dieser Weg rund sechzig Tage in Anspruch genommen hätte. Etliche Zwischenhalte wären notwendig, mit dem enormen Risiko, dass alte und junge Nazis versuchten, Eichmann zu befreien.
Als Harel die Entführung plante, war Eichmann – zunächst unbemerkt – aus Olivos verzogen, in ein neues Haus in der Garibaldistraße von San Fernando, eine gute Stunde nördlich von Buenos Aires. Die Spur war noch warm, so dass ihn die Agenten auch dort aufspürten – wiederum durch die Observierung seiner mittlerweile erwachsenen Söhne.
Eine Sondermaschine zum Jubiläum
Isser Harel hatte mittlerweile einen Weg gefunden, Eichmann außer Landes zu bringen. Ende Mail 1960 wollte Argentinien den 150. Jahrestag seiner Gründung feiern. Die Regierung legte großen Wert auf die Teilnahme einer israelischen Delegation. Dadurch ergab sich die überraschende Möglichkeit, Eichmann per Flugzeug zu verfrachten.
Isser Harel selbst flog inkognito nach Buenos Aires, um die Aktion vor Ort zu leiten. Mehrere Teams wurden über komplizierte Routen eingeschleust. Einen Mann wie Eichmann verschwinden und ausfliegen zu lassen, war eine sehr spezielle Aufgabe. Alles musste verdeckt erfolgen, um den vorsichtigen Eichmann nicht zufällig zu warnen und zur Flucht zu animieren.
Am 11. Mai 1960 passte der Mossad seinen Arbeitsweg ab. Wie jeden Tag nahm Ricardo Klement alias Adolf Eichmann den Zug und danach den Bus, um nach Hause zu kommen. Fast vor seinem Haus in der Garibaldistraße wurde er von den Agenten überwältigt und im Auto zu einem angemieteten Versteck gebracht. Er war das letzte Mal, dass der ehemalige Beamte und Sachbearbeiter von der Arbeit kam.
Beim ersten Verhör gab Eichmann überraschenderweise sofort zu, wer er war. Er nannte seine NSDAP-Nummer und seine SS-Nummer, auch stimmten einige körperliche Merkmale mit den Informationen aus der Nazizeit überein.
Die Nazis kamen eine halbe Stunde zu spät
Mit dem Sonderflugzeug von El Al wurde Klement am 21. Mai 1960 unerkannt aus Argentinien ausgeflogen, getarnt als israelischer Staatsbürger, der in Buenos Aires einen Autounfall hatte. Er wurde unter Drogen gesetzt, damit er sich nicht wehrte.
Zu dieser Zeit hatte die Altnazis bereits alle Häfen, Grenzübergänge und Flughäfen überwacht, weil sein Verschwinden sofort die Runde machte und alte Seilschaften alarmierte.
Sein Sohn Klaus bestätigte Jahre später in einem Interview mit der deutschen Illustrierten Quiz, dass die Altnazis zu spät Wind von dem Sonderflugzeug bekamen, das auf dem Flughafen von Buenos Aires wartete. Als sie auf dem Vorfeld erschienen, um ihren Kumpanen zu befreien, war die Maschine bereits eine halbe Stunde in der Luft.
Sicher in Tel Aviv gelandet
Nachdem der Flieger (über Dakar) am 22. Mai 1960 unbehelligt in Tel Aviv gelandet war, wurde Eichmann der Polizei übergeben, die ihn im Camp Iyar internierte. Danach informierte Harel vier Leute: Fritz Bauer in Frankfurt am Main, Golda Meir und Chaim Laskow (Chef der Armee), die sich in Tel Aviv aufhielten.
Premierminister David Ben-Gurion weilte im Kibbutz Sde Broker, seinem Landsitz in der Negev, wohin er sich gelegentlich zurückzog. „Wir haben Eichmann“, sagte Harel, als er bei Ben-Gurion vorsprach. „Er ist in Israel.“
Wenig später trat der Ministerpräsident vors Parlament, für seine legendäre Ansage: „Ich muss der Knesset mitteilen, dass vor kurzem einer der wichigsten Nazikriegsverbrecher vom israelischen Geheimdienst aufgespürt wurde … Adolf Eichmann befindet sich bereits in Haft in Israel und wird in Kürze vor Gericht gestellt.“
Die emotionale Wirkung war überwältigend. In der Knesset fielen sich Abgeordnete weinend in die Arme. Viele hatten ihre Angehörigen in den Todeslagern der Nazis verloren. Keine jüdische Familie in Israel – oder andernorts auf der Welt – die keine Opfer zu beklagen hatten. Manche – viele – Familien waren ausgelöscht, bis auf ein oder zwei Überlebende. Eichmann war das Synonym der Monster, er war das Gesicht der Täter. Nun hatten ihn die Überlebenden geschnappt.
Fortan war die Ruhe vorbei
Für die Altnazis in Südamerika – oder anderswo – war es mit der Ruhe vorbei. Josef Mengele, der SS-Arzt von Auschwitz, sollte ursprünglich mit Eichmann gekidnappt und nach Israel gebracht werden. Die Israelis wussten, dass auch er sich in Buenos Aires verborgen hielt.
Allerdings verschwand Mengele im April 1960 plötzlich aus seinem Appartement – zunächst spurlos. Er tauchte in Paraguay und später in Brasilien unter, ein gehetzter Mann, ständig in der Furcht vor Entdeckung. 1979 erlitt er im Badeort Bertioga (zirka 65 Kilometer von Sao Paulo entfernt) beim Schwimmen einen Schlaganfall und ertrank. Er wurde unter falschem Namen beerdigt. Sechs Jahre später exhumierten Fahnder die Leiche, durch den Abgleich der DNS wurde seine wahre Identität enthüllt.
Status als Beamter auf Lebenszeit bestätigt
Franz Stangl, ehemaliger Lagerkommandant von Sobibor und Treblinka, wurde Ende der 1960er in Brasilien aufgespürt und nach Deutschland ausgeliefert. 1970 wurde ihm in Düsseldorf der Prozess gemacht, mit Urteil lebenslänglich.
Die Publizistin Gitta Sereny hat ein eindrucksvolles Portrait dieses Beamten geschrieben, mit dem sie lange sprach, bis zum Tag vor Stangls Tod durch Herzinfarkt Ende Juni 1971. Ausdrücklich wies Stangl daraufhin, warum er sich – ein österreichischer Kriminalbeamter – den Nazis als willfähriger Knecht andiente: „Ich war einfach ein Polizeibeamter, der seine Arbeit tat. Die Deutschen bestätigten meinen Status als Beamter auf Lebenszeit. Ich wurde zum Kriminaloberassistenten ernannt.“
Auch Stangl war – nach eigenen Angaben – gläubiger Katholik. Er war einem Aufruf von Kardinal Innitzer gefolgt, nach dem „Anschluss“ mit den Deutschen zu kollaborieren.
Ohne Beamtentum hatte die Mordmaschine der Nazis niemals so reibungslos und verheerend funktioniert. Diese speziell deutsche und österreichische Ausprägung der Gewissenlosigkeit und Verantwortungslosigkeit war eine der psychologischen Fundamente des Dritten Reichs. Ein dem Staat auf Eid und Befehl verpflichteter Diener steht echter Demokratie entgegen. Das ist heute nicht anders als damals – freilich in abgeschwächter, moderner Form.
Keine echte Demokratie mit Beamten
Als Teil der exekutiven Befehlskette werden sich Beamte in den meisten Fällen gegen ihr Gewissen stellen, gegen die eigene Vernunft – wenn es der Befehl „von oben“ erfordert. Längst nicht so monströs wie bei Eichmann, Mengele oder Stangl sind solche Einstellungen bis heute in den meisten Ämtern oder nachgeordneten Institutionen (Geheimdienste, Polizei, Bundeswehr, Zoll, Bürgerämter – und Schulen) zu beobachten.
Man kann durchaus sagen, dass der deutsche Staat bis heute seine Nazivergangenheit nicht bewältigt hat. Erst die Abschaffung des Berufsbeamtentums wäre ein Schritt zu echtem demokratischen Selbstverständnis – nicht als Diener des Staates, sondern seiner Bürger.
Exemplarisch ist der Fall des ehemaligen Gestapochefs von Frankreich, auch als „Schlächer von Lyon“ bekannt: Klaus Barbie war für „Endlösung“ der niederländischen und französischen Juden verantwortlich. Auch er war ein Subalterner von Eichmann im RSHA. Barbie ermordete unter anderem Jean Moulin, den Chef der französischen Resistance. Heute wird Moulin in Frankreich als Held verehrt.
Der Fall Barbie: Kanzler Kohl will keine Debatten
Er tauchte Mitte 1945 ab, war zehn Jahre als Agent der Briten und der Amerikaner unterwegs. Die Amis lieferten ihn – trotz Kenntnis seiner Identität und seiner Gräuel – nicht an die Franzosen aus. Denn in Frankreich wurde er in Abwesenheit dreimal zum Tode verurteilt. Statt dessen durft Barbie 1951 auf der Rattenlinie mit Hilfe des Vatikan nach Bolivien fliehen.
Dort war er im Rang eines Oberstleutnants mit der Abwehr von Guevaras Guerilla befasst, als Experte im Kampf gegen Partisanen. Noch 1966 arbeitete er für den Bundesnachrichtendienst als Informant.
Beate und Serge Klarsfeld spürten Barbie Anfang der 1970er Jahre in Bolivien auf, nach einem Tipp der Staatsanwaltschaft München. Ein Versuch des Mossad, ihn zu töten, schlug fehl. Erst 1983 wurde er wegen Steuerhinterziehung verhaftet.
Die Auslieferung an Deutschland wurde durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) verhindert, der keine neue Debatte über Nazischuld entfachen wollte. Also wurde Barbie nach Frankreich ausgeliefert und zu lebenslanger Haftstrafe verurteilt, da die Todesstrafe mittlerweile abgeschafft worden war. Er starb im September 1991 im Knast in Lyon an Krebs.
Hannah Arendt: „Keine teuflisch-dämonische Tiefe“
Wie selbstverständlich die kleinen Beamten in den schwarzen Uniformen ins Räderwerk der Nazis passten, hat Hannah Arendt analysiert. Sie wohnte dem Prozess Eichmanns in Tel Aviv bei. Sie schrieb über den menschlichen Eichmann, dem man „beim besten Willen keine teuflisch-dämonische Tiefe abgewinnen kann“.
Denn während des Prozesses gab sich der Kriegsverbrecher als korrekter Biedermann, als liebender Familienvater, der seinen Bossen durch den Eid verpflichtet – und darum nicht zu belangen war. Eichmann selbst sah sich als „Rädchen im Getriebe“, als „administrative Instanz der Endlösung“, als Funktionär des „Krieges gegen die Juden“, durch Befehl und Eid gewissensgeschützt.
Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt
Besonders aufschlussreich ist die Einschätzung von Heinar Kipphardt, der mit seinem Drama Bruder Eichmann in den 1970ern und 1980ern für Furore sorgte. Darin zeichnet er den Weg des kleinen Angestellten aus der Industrie bis zum Chef des Judendezernats im Reichssicherheitshauptamt nach. „Genauer gesehen zeigt sich, dass die Eichmann-Haltung die gewöhnliche Haltung unserer heutigen Welt geworden ist, im Alltagsbereich wie im politischen Leben wie in der Wissenschaft, von den makabren Planspielen moderner Kriege, die von vorneherein in Genozid-Größen denken, nicht zu reden“, schrieb der Dramatiker.
Für ihn war Eichmann der folgsame Beamte, der gehorchende Diener des Staats, der Knecht, der Soldat, der nur Befehle ausgeführt hat; der durchschnittliche Bürger, der im System effizient funktioniert, der sein Gewissen an den Staat und den Führer delegiert: „die Selbstgerechtigkeit des Kleinbürgers und des Staats“.
Seinem Stück stellte er ein Zitat von Blaise Pascal voran: „Niemand tut so voll vollständig und so gut das Böse, als wenn man es mit gutem Gewissen tut.“
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