Zum Tod von Abraham Lincoln: O Captain! My Captain!
Als Walt Whitman die Nachricht erhielt, dass Präsident Lincoln ermordet worden war, erklärte er den 14. April zu seinem persönlichen Gedenktag – eine Erinnerung, angeregt durch den Bücherbaum.
Bücherbäume sind eine spannende Erfindung. Man geht hin, eigentlich schleicht man sich an: Mal sehen, welches Gold Nugget heute im Körbchen liegt. Und siehe da, eine Monografie über Abraham Lincoln, erschienen in der DDR.
Atemlos lesen wir den Autor: Jürgen Kuczynski (1904-1997), der Altmeister der Wirtschaftsgeschichte im Osten Deutschlands. Kuczynskis weitsichtige Gedanken in Dialog mit meinem Urenkel bekamen beinahe prophetische Bedeutung für die politische Wende Ende der 1980er.
Nun also Kuczynski über Old Abe, und dazu muss man wissen, dass Kuczynski als junger Mann Mitte der 1920er Jahre in den USA studierte. Damals, vor fast hundert Jahren, lag der amerikanische Bürgerkrieg, lag das Ende der Sklaverei in den Südstaaten und in den loyalen Border States gerade sieben Jahrzehnte zurück.
Material von Sandburg, Marx und Engels
Kuczynski nutzte Material von Carl Sandburg (1878-1967), vor allem dessen einzigartige, mehrbändige Biografie über Lincoln (der übrigens der erste republikanische Präsident der US-Geschichte war). Er bediente sich im Briefwechsel von Karl Marx und Friedrich Engels, die Zeitzeugen jener dramatischen Jahre waren und große Hoffnungen in den amerikanischen Aufbruch setzten, in den enormen Fortschritt in der Demokratisierung, den die Abschaffung der Sklaverei bedeutete.
Er stützte sich auch auf Berichte der sächsischen Gesandtschaft in den Vereinigten Staaten, denn der Dresdener Hof, damals noch unabhängiges Königreich unter der Ägide des preußischen Kaisers, hatte eigene Diplomaten drüben – vor allem wegen der großen, deutschstämmigen Gemeinde in Übersee.
Wer Karl May gelesen hat, weiß Bescheid. Ich sage nur: Old Shatterhand und Gunstick Uncle, der Präriepoet. Diese Unterlagen fand Kuczynski in Archiven in Dresden.
Der Zusammenhalt der Union
Zurück zu Old Abe, der sich mit seiner ausgeglichenen und mit den Südstaaten zunächst auf Ausgleich bedachten Politik großes Ansehen erwarb. Immer wieder argumentierte Lincoln für den Zusammenhalt der Union, stellte die Frage der Sklaverei zunächst hintenan. Erst als die Südstaaten aus dem Verbund ausscherten, die Sezession erklärten und das Feuer auf Fort Sumter eröffneten, revidierte Lincoln seine Zurückhaltung.
Zunehmend erkannte er, dass die Union nur erhalten werden konnte, wenn die Sklaverei fällt – ohne Einschränkung. Obwohl ihn das politische Establishment ablehnte – als Anwalt aus dem Mittleren Westen war er den Börsianern, Bankern und Industriellen in New York und Pennsylvania suspekt –, errang er 1865 seinen zweiten Wahlsieg als Präsident.
Im Laufe des Bürgerkrieges, der seine gesamte erste Amtszeit ausgefüllt hatte, war er vom nahezu unbekannten Westler zum echten Volkspräsidenten aufgestiegen. Kaum hatte er seine zweite Amtszeit angetreten – die er großmütig dem Frieden mit den geschlagenen Südstaaten widmen wollte –, traf ihn am 14. April 1865 die heimtückische Kugel seines Mörders.
Ein Meisterwerk voller Einblicke
Kuczynskis Monografie ist ein Meisterwerk, weil es einen detaillierten Einblick in die Vereinigten Staaten zwischen 1830 und 1865 gibt: in die Ströme der Zuwanderer, in die neuen Staaten im Westen, in die Konflikte mit Mexiko und den Monarchien Europas, in seine wirtschaftliche Entwicklung und die Hemmnisse, die sich aus der Sklaverei ergaben.
Der erste Präsident der USA, George Washington (1732-1799), war in seiner Zeit einer der größten Besitzer von Plantagen in Virginia gewesen, der selbst viele Sklaven besaß. Sklaven waren in den ersten Jahrzehnten die einzig verfügbare Quelle für billige Arbeitskraft, vor allem in der Landwirtschaft.
Ab 1830 wurden die USA jedoch zunehmend durch die Arbeit freier Bauern (Farmer) im Westen sowie durch die rasch aufstrebende Industrie geprägt. Im Mittelwesten griffen kundige Farmer zu moderner Landtechnik, um die großen Schläge zu bewirtschaften. Im Süden hingegen wurde Handarbeit konserviert, weil die Sklaven als billig galten und ungebildet blieben.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verdrängten die USA die französische Industrie, nur übertroffen von der Warenproduktion in Großbritannien und Deutschland. Die Nordstaaten hatten die Südstaaten in der wirtschaftlichen Entwicklung klar überholt: der Kapitalismus und das Maschinenzeitalter drohten, den beschaulichen Süden zu überrollen. Der Anlass, an dem sich der Konflikt schließlich zum Krieg entzündete, war die Sklaverei – die in den nördlichen und westlichen Staaten abgeschafft worden war.
Man möchte seufzen
Kuczynskis Darstellung ist darüber hinaus eine hervorragende Quelle, um die inneren Befindlichkeiten der amerikanischen Politik in den Bundesstaaten und in Washington, D.C. zu verstehen. Er zeigt, wie Lincoln seine begrenzten Möglichkeiten geschickt nutzte, um die Union nicht nur zu retten – sondern zu stärken, indem er das Land modernisierte.
Angesichts von Leuten wie George W. Bush, Donald Trump oder auch der blutarme Joe Biden möchte man seufzen, wie wenig Esprit und Wille zur politischen Gestaltung im modernen Amerika geblieben zu sein scheint. Andererseits ist es ernüchternd zu lesen, dass schon Old Abe gegen Parteiapparate und Bürokraten ankämpfte, wie er Kompromisse schloss und seine Erfolge mit großer persönlicher Anstrengung regelrecht durchboxte.
Ein unerhört modernes Buch
So gesehen, ist es ein unerhört modernes Buch. Denn es beweist einmal mehr, dass nichts die politische Veränderung aufzuhalten vermag, wenn die Zeit dafür gekommen ist. In seinen Zielen wurde Lincoln seinerzeit ganz maßgeblich von deutschen Einwanderern unterstützt, die nach der Niederschlagung der 1848er Revolution durch preußische Soldaten über den Großen Teich geflüchtet waren. Sie siedelten sich in Illinois an, in Iowa, in Wisconsin und in anderen Staaten des Mittelwestens, wo sie großen Einfluss erlangten.
In diesen turbulenten Zeiten, die wir durchleben – nicht weniger turbulent als Lincolns Tage –, geprägt durch Coronakrise, Ukrainekrieg, Klimakrise und soziale Herausforderungen, war die Lektüre des Bändchen wie ein großer Schluck aus der Pulle für Mut.
Ein großer Schluck aus der Mutpulle
Lincoln steht für den Wandel, steht für die Menschen, die sich entscheiden und bereit sind, dafür etwas zu riskieren. Es war Amerikas beste Stunde, und zugleich seine schwierigste. Hölderlins prophetische Worte tauchen aus den Zeilen auf: Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.
Und Lincolns Tod war Amerikas größter Verlust, höchstens zu vergleichen mit dem frühen Tod von Franklin D. Roosevelt kurz vorm Ende des Zweiten Weltkriegs. So wollen wir es halten mit Walt Whitmann (1819-1892), der Old Abe sein berühmtestes Gedicht widmete:
O Captain! my Captain! our fearful trip is done,
The ship has weather’d every rack, the prize we sought is won,
The port is near, the bells I hear, the people all exulting,
While follow eyes the steady keel, the vessel grim and daring;
But O heart! heart! heart!
O the bleeding drops of red,
Where on the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.
O Captain! my Captain! rise up and hear the bells;
Rise up—for you the flag is flung—for you the bugle trills,
For you bouquets and ribbon’d wreaths—for you the shores a-crowding,
For you they call, the swaying mass, their eager faces turning;
Here Captain! dear father!
This arm beneath your head!
It is some dream that on the deck,
You’ve fallen cold and dead.
My Captain does not answer, his lips are pale and still,
My father does not feel my arm, he has no pulse nor will,
The ship is anchor’d safe and sound, its voyage closed and done,
From fearful trip the victor ship comes in with object won;
Exult O shores, and ring O bells!
But I with mournful tread,
Walk the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.
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