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H. S. Eglund

Schriftsteller • Writer • Publizist

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© H.S. Eglund
  • Der Jahrhundertreport: Heyms Autobiografie. © H.S. Eglund
  • Eingangsportal des Jüdischen Friedhofs in Weißensee. © H.S. Eglund
  • Heyms Grabstele, im Licht des späten Sommers. © H.S. Eglund
Samstag, 11. Dezember 2021

Stefan Heym – ein später Nachruf

Zwanzig Jahre nach dem Tod des Schriftstellers verlegt Bertelsmann eine digitale Werkausgabe – insgesamt 28 E-Books. Sie zeigen sein vielfältiges Werk: von historischen und zeitkritischen Romanen über Gedichte, Erzählungen, Reden, Essays bis hin zu Märchen. Anlass für einen Besuch in Weißensee.

Zu einigen Bänden wird bei Random House Audio auch ein Download von Audiodateien angeboten. Jeder Band enthält ein Nachwort der Literaturwissenschaftlerin Therese Hörnigk.

Die Werkausgabe macht auch länger nicht mehr lieferbare Titel wieder zugänglich und möchte Stefan Heym neu ins Bewusstsein der Leserinnen und Leser holen – als einen der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und als streitbaren Publizisten und kritischen Geist, der sich ideologisch nie vereinnahmen ließ.

Den Abschluss der Werkausgabe bildet die deutsche Erstveröffentlichung des 1944 auf Englisch erschienenen Romans Flammender Frieden (Of Smiling Peace) in der Übersetzung von Bernhard Robben. So weit die Ankündigung des Verlags.

Wie die Zeit vergeht

Wie die Zeit vergeht. Zwanzig Jahre liegt er schon zurück, der Tod Stefan Heyms während einer Reise nach Israel, kurz vor Weihnachten 2001. Bis zum hohen Alter von 87 Jahren hatte sich der streitbare Publizist eingemischt, hatte Stimme und Feder erhoben – für den dritten Weg, für echte Demokratie als Mittelweg der Erfahrungen in Deutschland (West) und Deutschland (Ost) nach dem Kriege und während der Teilung.

Noch spät, schon über achtzig Jahre alt, ging Heym in die Politik, zog als Parteiloser auf der Liste der PDS in den Bundestag ein. Weil er der Älteste unter den Abgeordneten ist, darf er den 13. Bundestag eröffnen – am 10. November 1994, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer.

Ein Linker als Alterspräsident

Selten war eine Rede im deutschen Parlament von solcher Klarsicht geprägt. Und selten zeigte sich die moralische Schwäche, der fehlende Anstand der Unionsparteien, ihr Mangel an demokratischem Selbstverständnis.

Denn als sich wie üblich die Fraktionen und die Ehrengäste zur Sitzungseröffnung durch den Alterspräsidenten erheben, bleiben die Abgeordneten der Union demonstrativ sitzen. Nach der Rede verweigern sie den Applaus – bis auf Rita Süßmuth. Einige christliche Abgeordnete verlassen den Saal – ein Linker als Alterspräsident, das geht zu weit!

Heym nimmt es gelassen, das kennt er von den Stalinisten. Er spricht über Willy Brandt und erinnert an die letzte Alterspräsidentin des Reichtags, Clara Zetkin. Heym hat die letzten Tage der Weimarer Republik selbst erlebt.

1931 flog er wegen eines antimilitaristischen Gedichts vom Gymnasium in seiner Heimatstadt Chemnitz. Das Abitur machte er in Berlin, begann ein Studium der Journalistik. Die Machtübernahme Hitlers zwang ihn 1933 ins Exil, erst nach Prag, dann in die USA. Als Sergeant der US-Armee kehrte er 1944 nach Europa zurück.

Eine Heymat zum Leben

Heym ist Sozialist, kein Stalinist, auch wenn er in Stalin eine Zeitlang den Retter Europas vor den braunen Horden sah. Sein Roman Crusaders (Kreuzfahrer von heute) zeigt die Binnensicht der US-Armee auf dem Vormarsch nach Deutschland. Er zeigt, wie der heiße in den kalten Krieg mündet, wie Scharfmacher auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs von der neuen Konfrontation profitieren.

Heimat, fast möchte man schreiben Heymat, ist das Land, in dem sich Leben lohnt. In dem der Mensch zum Menschen werde. Es gilt das Wort des Philosophen Ernst Bloch, der am Schluss seines Prinzip Hoffnung schrieb:

Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte; ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.

Das war Heyms Thema. Immer waren seine Romane höchst politisch, setzten Weltveränderung auf die Agenda. Durch die Crusaders geriet er auf die schwarze Liste der Kommunistenjäger in den USA. Er schickte sein Patent als Reserveoffizier und den Bronze Star an Eisenhower zurück und siedelte zunächst nach Tschechien über.

Doch die Prager Kommunisten, schon klar auf Linie Stalins, wollten mit dem ehemaligen US-Soldaten nichts zu tun haben. Also weiter nach Ostberlin, wo er den Genossen gleichfalls suspekt blieb.

Den Spiegel vorgehalten

Denn Romane wie Schwarzenberg oder Fünf Tage im Juni hielten ihnen den Spiegel vor: Mit Phrasen allein ist der Sozialismus nicht zu machen, ohne demokratische Rechte geht es nicht. Meinungsfreiheit, Pluralismus, Mitbestimmung – Stefan Heym vertrat einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz.

Wie er 1968 in der Tschechoslowakei diskutiert wurde, bevor sowjetische Panzer rollten. Wie er 1989 im Osten Deutschlands auf den Spruchbändern stand, bevor sich westdeutsche Lastkraftwagen an der Grenze stauten und den Osten mit bunten Waren überschwemmten – und das Volk die D-Mark wählte.

Eine Demokratie, solide begründet

In seiner Rede im Bundestag am 10. November 1994 sprach Heym kurz über seine Flucht vor Hitler und darüber, wie er Deutschland zwölf Jahre später wiedersah – in amerikanischer Uniform. Er schilderte, wie er sehr bald bei den Autoritäten in Ostberlin aneckte.

Er sagte: Dass einer mit seiner Biografie den zweiten Bundestag des wiedervereinigten Deutschlands eröffnen durfte, bestärkte seine Hoffnung, dass die neue Demokratie solider gegründet sei als die Weimarer Republik.

Heym sagte auch, dass das vereinigte Deutschland in der Welt „eine Bedeutung erlangt habe, der voll zu entsprechen wir erst noch lernen müssen.“ Er fragte: Gibt es Erfahrungen aus der ehemaligen DDR, die vom Westen übernommen werden sollten? Dafür sei „gegenseitige Toleranz und gegenseitiges Verständnis unserer unterschiedlichen Gedanken vonnöten.“ Orginalton Heym:

Die Menschen erwarten, dass wir uns als Wichtigstes mit der Herstellung akzeptabler, sozial gerechter Verhältnisse beschäftigen. Dies ist Aufgabe einer Koalition der Vernunft, die eine Koalition der Vernünftigen voraussetzt.

Schon ein Jahr später verlässt Heym den Bundestag, aus Protest gegen die geplante Erhöhung der Diäten für Abgeordnete. Seinen Leserinnen und Lesern bleibt er treu – wie sich selbst.

Auch nach der Wende erfolgreich

Als einer der wenigen DDR-Autoren ist Heym auch nach der Wende erfolgreich, wird im Inland und im Ausland als herausragender und authentischer Autor geschätzt. Er schreibt weiter, veröffentlicht auf Deutsch und Englisch. Seine Werke werden in viele Sprachen übersetzt.

Seine politische Publizistik gipfelt in Stalin verlässt den Raum, gipfelt in seinem Auftritt am Mikrofon zur großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz:

Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen. Den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung!

Und wenn sich jemand für das deutsche Jahrhundert, für deutsche Befindlichkeit interessiert, dem sei Heyms Nachruf nahegelegt, das beste Buch über Ost und West, über den heißen und den kalten Krieg, über McCarthyisten und Stalinisten, über Hoffnung und – wie er am 4. November 1989 sagte:

Einer schrieb mir – und der Mann hat recht: „Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen.“ Und das, Freunde, in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben, unter dem Kaiser, unter den Nazis, und später auch. Aber sprechen, frei sprechen, gehen, aufrecht gehen, das ist nicht genug. Lasst uns auch lernen zu regieren.

Ein Bericht für König David

Tausende schrieben Heym, seine Leserschaft zählte Millionen. Erich Honecker selbst soll genehmigt haben, dass Heyms König David Bericht in der DDR erscheinen durfte. Der Schriftsteller rechnet darin mit der brüchigen Macht der alten Männer ab, mit ihrer Arroganz und Selbstherrlichkeit, zwischen den Zeilen und ins biblische Judäa verlegt.

Dieses schmale Büchlein bekam Mitte 1989 ein junger Student in die Hände. So geriet der König David Bericht zum Roman eines persönlichen Aufbruchs. Auch der Student schreibt einen Brief an den Autor, der damals schon ein alter Mann war – und doch so jung geblieben.

Es war ein launiger Brief, ebenso launig beantwortet. Heym blieb immer Heym, immer der widerständige Geist, der vor den Nazis fliehen musste. Der US-Soldat mit dem untrüglichen Blick für den leisen Umschwung in der politischen Großwetterlage.

Nicht korrumpierbar

Der DDR-Autor, der als nicht korrumpierbar galt, der sich am 17 Juni 1953 offen gegen Ulbricht und seine Dogmatiker stellte. Der offen gegen den Einmarsch der Armeen des Warschauer Vertrages 1968 in Prag protestierte, der sich offen und ungeniert mit Robert Havemann zeigte und die Ausbürgerung Wolf Biermanns verurteilte. Und doch in der DDR blieb, allen Anfeindungen und Gerichtsverfahren zum Trotz.

Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muss unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut. Der Sozialismus – nicht der Stalinsche, der richtige –, den wir endlich erbauen wollen, zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes.

Ein Mann, ein Wort: Der in Deutschland blieb, auch nach Wende und Wiedervereinigung. Der Deutschland treu blieb, der an den Sinn von Geschichte glaubte, dessen Bücher bis heute nichts verloren haben. Sie sind echt und unverschnörkelt, kaum dass die Zeit ihnen etwas anhaben konnte.

So steht Stefan Heym aus dem Osten Deutschlands neben Heinrich Böll aus dem Westen der Republik; der amerikanische Sergeant und der Soldat der Wehrmacht, der das Kriegsende als Gefangener der US-Armee erlebte. Weniger andere Autoren der Nachkriegsgeschichte haben politisch und moralisch so stark gewirkt, die Veränderung in beiden Teilen Deutschlands so kraftvoll und ehrlich gefordert, geschrieben und gestützt. Deshalb bleiben Heyms Bücher lebendig, werden weiterhin gelesen, auch als E-Books.

Zelle Z1 nahe beim Eingang

Stefan Heym liegt auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee, Zelle Z1, nahe beim Haupteingang. Es ist ein später Sommertag, noch sehr warm und hell. Leute schlendern vorbei, an seiner Grabstele halten sie kurz inne.

Eine Frau legt einen Stein obenauf zu den anderen. Es ist ein wunderbarer Ort, mitten unter uns, hier in Berlin. Grün und still und so voll Hoffnung. Denn Hoffnung nährt sich aus dieser Quelle: Was einmal gesagt ist, bleibt in der Welt – für alle Zeit.

Heyms Rede am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz auf Youtube

Rede Heyms zur Eröffnung des 13. Bundestages am 10. November 1994

Die Werkausgabe bei Bertelsmann

Webseite der Internationalen Stefan-Heym-Gesellschaft

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© Deutscher Militärverlag
  • Sterbende Schlachtschiffe in Pearl Harbor: im Vordergrund die brennende West Virginia, dahinter die Tennessee. © Deutscher Militärverlag
  • Die Arizona sinkt brennend. Eine japanische Bombe hatte die Munitionskammer getroffen. © Deutscher Militärverlag
  • Nach einem Bombentreffer explodiert der Zerstörer Shaw. © Deutscher Militärverlag
  • Getroffene Schiffe im Trockendoch von Pearl Harbor. © Deutscher Militärverlag
  • Zerstörter Flugplatz auf der Fordinsel. © Deutscher Militärverlag
  • US-Präsident Franklin D. Roosevelt erklärt am 8. Dezember 1941 im Congress den Krieg gegen Japan. © Deutscher Militärverlag
Samstag, 4. Dezember 2021

Pearl Harbor: Ölkrieg im Pazifik

Der Angriff Japans vor 80 Jahren war strategisch motiviert: dem Inselreich drohte der Brennstoff auszugehen. Die komplexe Vorgeschichte erhellt, wie die Logik der knappen Ressourcen zum Krieg führte. An seinem Ende stand ein neues Zeitalter – die Atomkraft.

Dieser Tage flimmern wieder Schreckensbilder über Bildschirme und Displays: Achtzig Jahre – acht Jahrzehnte, ein langes Menschenleben – liegt der Überfall der Jagdbomber mit der roten Sonne an den Tragflächen nun zurück. Das Paradies als Schlachtfeld: Innerhalb weniger Minuten wurde der idyllische Perlenhafen von Oahu zum Massengrab.

Ein nationales Trauma

Für die Vereinigten Staaten bedeutet der 7. Dezember 1941 ein nationales Trauma, das seitdem nur vom 11. September 2001 übertroffen wurde. Die Dimensionen sind vergleichbar, und sind es wiederum nicht: Der Angriff auf Pearl Harbor forderte 2.403 Tote und 1.178 Verwundete. Der Terroranschlag auf das World Trade Center und das Pentagon im Herbst 2001 kostete insgesamt 2.996 Menschenleben, die Insassen von vier gekaperten Flugzeugen eingerechnet.

Viel ist über Pearl Harbor geschrieben worden. Die Berichte, Romane und Zeitschriften füllen Bibliotheken. Hollywood dreht darüber alle zehn Jahre ein aufwändiges Epos, denn der Angriff der Flieger des Tennos markierte den Kriegseintritt der USA. Am Folgetag erklärte der Congress den Krieg gegen Japan, Amerika konnte sich nicht länger heraushalten.

Unter Historikern tobt ein heftiger Streit, ob US-Präsident Franklin D. Roosevelt den Angriff bewusst provoziert habe. Nur auf diese Weise konnte er die Isolationisten im Congress und im Repräsentantenhaus neutralisieren. Nur auf diese Weise bekam er den Krieg, den er seit längerem vorbereitet hatte.

Umschlagplatz für Walöle

Denn seit Jahrzehnten schwelte die Rivalität der Amerikaner und der Japaner im Pazifik. Hawaii stand dabei im Mittelpunkt. Als 1821 die ersten amerikanischen Missionare auf den Inseln landeten, galten sie als wichtigster Hafen der Walfänger im Pazifischen Ozean – eine Domäne der Amerikaner.

Denn dem Erdöl war der Tran aus Walfett vorausgegangen. Er fütterte die Ölfunzeln in den USA und Europa. Doch nach der Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Walbestände überfischt. Immer weiter gen Norden – bis zu den Aleuten – stießen die Walfänger vor, um Beute zu machen. Längere Fahrten zu den Jagdgründen und höheres Risiko machten das Geschäft immer schwieriger, die Rentabilität sank.

Eine fehlgeschlagene Heirat

Dafür gewann süßes Rohr an Bedeutung, der Hafen von Honolulu wurde ab 1860 zum größten Handelsplatz für Zucker, der nach Kalifornien exportiert wurde. Die Plantagen gehörten den Nachfahren der Missionare, einem kleinen elitären Zirkel weißer Amerikaner.

Dem eingeborenen Adel – den Alii Nui – waren ihr wirtschaftlicher Reichtum und ihr politisches Selbstbewusstsein ein Dorn im Auge. 1881 versuchte der letzte König von Hawaii, seine Tochter mit einem japanischen Prinzen zu verheiraten, um den Einfluss der Amerikaner zu bremsen. Allerdings kam das für den kaiserlichen Hof in Tokio nicht in Frage. Arrogant blickten die Insulaner aus dem Reich der aufgehenden Sonne auf die unkultivierten, halbwilden Insulaner Polynesiens herab.

Japanischer Einfluss wuchs

Seit der sogenannten Meji-Restauration 1868 hatte Japan innerhalb weniger Jahrzehnte ungeheure Industrien nach westlichem Vorbild aus dem Boden gestampft. Verarmter Landadel und herrenlose Samurai bildeten ein enormes Reservoir für billige Arbeitskräfte.

Ab 1880 stieg die Welle der Auswanderer, die nach Hawaii strebten. Sie verdingten sich als Arbeiter auf den Zuckerplantagen, weil die einheimische Bevölkerung für die harte Arbeit nicht zu taugen schien.

So wuchs der Einfluss Japans, weil die Auswanderer durch spezielle Büros und Shinto-Priester weiterhin dem Mutterland verbunden blieben. Die japanischen Plantagenarbeiter auf Hawaii galten als gut bezahlt – im Vergleich zu den Kulis in Shanghai oder Hongkong.

Sie spendeten riesige Summen, um dem Kaiser im fernen Tokio ihre Treue zu beweisen. Das Geld floss in die Aufrüstung, zugleich spann die japanische Gesandtschaft in Honolulu ein feines, politisches Netz. Hawaii sollte Teil des neuen japanischen Imperiums nach britischem Vorbild werden.

Die Nachfahren der Missionare hielten dagegen: 1898 wurde Hawaii offiziell von den USA annektiert, um Japanern (oder Briten) zuvorzukommen. Oahu wurde zum größten Stützpunkt der amerikanischen Flotte außerhalb des Territoriums der Vereinigten Staaten.

Die wichtigste Seemacht Asiens

Doch Japans Gier nach Land und Ressourcen wuchs: 1905 besiegte das Kaiserreich den großen Konkurrenten Russland, schwang sich zur wichtigsten Seemacht Asiens auf. Der Krieg, die gewaltige Kriegsmaschine mit ihren gigantischen Schlachtschiffen, Flugzeugen und Panzern, verstärkte den Hunger nach Rohstoffen – allen voran Öl.

Japan selbst ist arm an Rohstoffen. Aus diesem Grund fielen japanische Truppen Anfang der 1930er Jahre in China ein, besetzten nach und nach weite Teile des Landes. Allerdings bot China nur geringe Öllager. Große Quellen befanden sich in Indonesien und in Burma, damals britische Kolonie – zu diesem Zeitpunkt unerreichbar für die Soldaten des Tenno.

Die Rivalität im Pazifik spitzte sich zu. Erdöl erwies sich als Brennstoff von höchster strategischer Bedeutung. Als Japan weitere Truppen nach Indochina entsandte, verhängten die USA am 25. Juli 1941 ein Ölembargo und froren alle japanischen Guthaben bei amerikanischen Banken ein.

Reserven für 18 Monate

Die staatlichen Ölreserven Japans reichten nur für 18 Monate. Danach wären die Öfen in den Fabriken und Schiffen sprichwörtlich ausgegangen. Die Kriegsmarine wäre in den Häfen von Kagasaki, Kagoshima oder Tokyo zur Untätigkeit verdammt gewesen, kein Flugzeug mit roter Sonne am Flügel könnte mehr abheben.

Denn das Ende des Ersten Weltkrieges hatte auch das Ende des Kohlezeitalters markiert. Seitdem waren sämtliche Rüstungsprogramme auf Öl gebaut. Die Entwicklung des Flugwesens war ohne flüssigen Treibstoff mit hohem Heizwert undenkbar. Henry Fords Motorisierung der Fahrzeuge, ab 1911 zunächst mit Lastkraftwagen für die US-Armee, brauchte Millionen Verbrennungsmotoren, die Benzin und Diesel schluckten.

1911 begann das Zeitalter des Erdöls

Überhaupt gilt 1911 als Geburtsjahr der Ära des Erdöls. In diesem Jahr beschloss die britische Marine, sich von Kohlefeuerungen für ihre Schlachtschiffe und Kreuzer zu verabschieden. Im Wettrennen mit der Kaiserlichen Marine in Wilhelmshaven, Hamburg und Bremerhaven ging es zunächst um größere Geschütze, um mehr Feuerkraft. Denn auf See ist diejenige Flotte im Vorteil, die das Feuer auf größere Distanz eröffnen kann – und selbst außerhalb der gegnerischen Reichweite bleibt.

In seinen Memoiren The World Crisis über den Ersten Weltkrieg gibt Winston Churchill einen eindrucksvollen Bericht, wie die Umstellung auf Ölfeuerung in der Admiralität in Londin vorangetrieben wurde. Churchill war damals First Lord der Admiralität, also der politische Chef der Royal Navy. Er sah voraus, dass sich im nächsten großen Krieg vor allem Deutschland und Großbritannien gegenüber stehen würden. Für den Inselstaat war die Überlegenheit seiner Flotte vital.

The big punch

Die Briten erkannten, welche Bedrohung die maritimen Abenteuer der Kaiserlichen Marine – etwa der Panthersprung nach Agadir 1911 – bedeuteten. Deshalb legten sie eine neue Schiffsklasse auf, die Geschütze mit 15 Zoll Rohrweite tragen und Geschosse mit bis zu 1.920 Pfund Gewicht abfeuern konnten. Ihre Reichweite betrug 35.000 Yards (rund 32.000 Meter). Churchill fand für diese Feuerkraft einen Ausdruck, den er sich beim Boxen lieh: the big punch.

Diese gigantischen Geschütze erforderten gigantische Türme auf gigantischen Decks über gigantischen Rümpfen. Solche Schlachtschiffe der Superklasse mit Kohle zu feuern, war unmöglich. Um mindestens 25 Knoten zu schaffen, brauchten sie Maschinen mit 50.000 PS.

Ein Schlachtschiff der älteren Lion-Klasse (mit Geschützen von zwölf Zoll Rohrweite und mit Kohleöfen) benötigte rund 100 Mann, um die Kohle von einer Bunkerkammer zur nächsten zu trimmen. Mehr als 21 Knoten waren nicht drin.

Ölgetriebene Schiffe brauchen keine Heizer und keine Handlanger mit Staublunge, die sich unter Deck quälen. Mithilfe von Rohren und Pumpen lässt sich der flüssige Brennstoff problemlos an jeden beliebigen Punkt des Schiffes bringen – auch bei schwerer See.

Höherer Energieinhalt als Kohle

Entscheidend war der höhere Energiegehalt des Öls: Bei gleicher Menge Brennstoff erlaubte es vierzig Prozent mehr Reichweite. Ölbefeuerte Schiffe sind viel schneller als Kohledampfer, auch können sie schneller beschleunigen, also besser manövrieren.

Die Briten erkannten, dass man die Öltanks auf See befüllen kann, durch spezielle Lieferschiffe. Kohle konnten die Kriegsschiffe nur in speziell dafür ausgestatteten Häfen aufnehmen, mit viel Handarbeit und langer Liegezeit. Faktisch ein Viertel der Flotte lag immer im Hafen, um Kohle zu bunkern.

Der Ausgang des Ersten Weltkrieges gab den Briten recht. Neben den Ölkesseln der Marine sah der Erste Weltkrieg weitere Neuerungen in der Waffentechnik: 1917 wurden erstmals Panzer eingesetzt, um den Stellungskrieg in Flandern aufzubrechen. Das erste Flugzeug tauchte am Himmel auf, zunächst als fliegende Kiste aus Papier, Holzleisten und Bespannung mit Draht.

Zugriff auf die Ölfelder

Bis Mitte der 1930er Jahre waren weltweit alle Kriegsschiffe mit Kohlefeuerungen außer Dienst gestellt. Flugzeuge, Panzer, motorisierte Verbände und die wachsenden Flotten erzeugten regelrechten Ölhunger. Henry Ford hatte die vollmechanisierte Fertigung von Lastkraftwagen eingeführt, als Vorbild der modernen Autofabrik.

Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges im November 1918 brachen die militärischen Aufträge weg. Nun schlug die Stunde des Individualverkehrs: Fotos aus dem Jahr 1913 zeigen London voll mit Pferdegespannen. Zehn Jahre später gab es keine Gespanne mehr: Am Picadilly Circus, am Strand und auf der Mall fuhren nur noch Automobile. In Berlin, Hamburg, München, Paris und New York sah es ähnlich aus.

Erdöl wurde zur Basis der Macht

Mit der Umstellung der britischen Flotte hatte Ihre Majestät den ersten Ölkonzern aus der Taufe gehoben: British Petrol, das die Ölquellen im Irak und im Iran für die Krone verfügbar machen sollte. Der Nahe und der Mittlere Osten bekamen strategische Bedeutung – als Ölfelder. Nicht die romantischen Beschreibungen des Lawrence von Arabien machten die Wüste interessant, sondern der Treibstoffhunger in Vorbereitung des nächsten Krieges. Fortan galt die Verfügbarkeit von Öl als Basis von militärischer – und politischer Macht.

In den USA wurden erste Quellen in Texas entdeckt, dort stiegen wohlhabende Rinderbarone in das Geschäft ein. Russland hatte große Ölfelder bei Baku am Kaspischen Meer ausfindig gemacht, sie wurden später zum Lebenselixier der Roten Armee. Auch in Venezuela und Kanada wurde Öl entdeckt. Saudi-Arabien stieg ab 1938 zur Ölmacht auf, nachdem Bohringenieure der Standard Oil of California im Wüstensand fündig geworden waren.

Der Irrtum des General Tojo

Ohne Erdöl hatte Japan keine Chance, imperiale Träume zu verwirklichen. Das wussten seine Generäle und Admiräle. General Hideki Tojo war 1941 der oberste Kriegsherr Japans, als Premierminister nur dem Tenno (Kaiser) unterstellt. Er befahl den Angriff auf Pearl Harbor, wo die Pazifikflotte der USA ankerte.

Tojo hatte sehr aufmerksam verfolgt, wie der Krieg auf der anderen Seite der Erde verlief: In Nordafrika standen Hitlers Armeen kurz vor Kairo. Der Zugang zu den Ölfeldern in Mesopotamien schien in Reichweite. Allerdings leisteten die Briten Widerstand – sowohl in der Luftschlacht um England als auch in der libyschen Wüste.

Deshalb war Hitler gezwungen, seine Pläne von der Eroberung Englands in den Wind zu schlagen. Die letzte Chance auf Öl – Deutschland besaß wie Japan keine eigenen Quellen – verhießen die Krim und die dahinter liegenden Ölfelder von Baku sowie der Iran, damals größter Öllieferant der Briten.

So befahl Hitler im Sommer 1941 den Überfall auf die Sowjetunion, bis zum Herbst schien der Sieg der Nazis fast erreicht. Im Dezember standen Moskau und Leningrad scheinbar kurz vor dem Fall. Siegessicher walzte die Wehrmacht gen Süden, zu den Ölfeldern der Sowjets.

Kein Winter auf Hawaii

Zwar stand der grimmige Winter vor der Tür, aber Schnee und Frost kümmerten weder Hitler noch General Tojo. Der japanische Premier sah Hitler siegen, und auf Schnee musste er ohnehin keine Rücksicht nehmen. Auf Hawaii herrscht immer Sommer.

So dampften seine Flugzeugträger gen Osten, gen Oahu. Zeitgleich mit dem Bombardement begann eine beispiellose Operation, um halb Asien zu besetzen und die Rohstoffe für die japanische Kriegswirtschaft zu beschlagnahmen. Es war Admiral Isoroku Yamamoto, oberster Planer und Befehlshaber der japanischen Angriffsformation vor Hawaii, der den Irrtum seines Chefs erkannte. Als er den Befehl gab, den erfolgreichen Angriff zu beenden und abzudrehen, sagte er nachdenklich:

Ich fürchte, wir haben einen schlafenden Tiger geweckt.

Er sollte recht behalten. Schon im Folgejahr begannen die Amerikaner, ihre wirtschaftliche Macht auszuspielen und Flugzeuge und Trägerschiffe wie Autos zu bauen – in Fließfertigung. Dabei stützten sie sich auf eigene Ölvorräte, die in Texas, Kalifornien, Pennsylvania, Colorado und Utah reichlich sprudelten.

Mehr als 1,1 Billionen Barrel

Nach Angaben von Addallah Dschuma hat die Menschheit bisher rund 1,1 Billionen Barrel Erdöl gefördert. Dschuma war von 1995 bis 2008 Chef des weltgrößten Ölkonzerns Aramco.

Wie viel Öl die Kriege verschlungen haben, wie viel Öl notwendig war und ist, um die globale Rüstung zu unterhalten, um die Mordsmaschine am Laufen zu halten, hat bislang niemand untersucht. Der Krieg hat das Erdöl gebracht und neue Kriege ums Öl – zuletzt in Kuwait, Iran und Afghanistan.

Öl verseucht die Erde

Hinzu kommen Katastrophen wie der Untergang des Tankers Exxon Valdez 1989 vor Alaska. Damals wurden 2.000 Kilometer Küstenlinie kontaminiert. Im April 2010 brannte und sank die Bohrplattform Deepwater Horizon im Golf von Mexico. Mehr als eine halbe Million Tonnen Rohöl liefen aus, verseuchten die Golfküste bis ins Delta des Mississippi. Leckagen in Tankern setzen jedes Jahr weltweit rund 100.000 Tonnen Öl in die Meere frei.

In Nigeria – einem der größten Ölförderer der Welt – sind die Pipelines derart leck geschlagen, dass die Mündung des Niger von Ölschlamm zerstört ist. Experten schätzen, dass dort mehr als zwei Millionen Tonnen Rohöl ausgelaufen sind – und weiter auslaufen. Ähnlich sieht es auf den Ölfeldern Westsibiriens aus, wo veraltete Pipelines großflächige Brachen verursachen und die Grundwässer vergiften.

Die Logik der Verwüstung

Am Ende kehrte der Krieg von Pearl Harbor nach Japan zurück: In Hiroshima und Nagasaki explodierten Atombomben, markierten ein neues Zeitalter – the biggest punch at all. General Tojo wurde als Kriegsverbrecher gehenkt. Es folgten neue Kriege – um nukleare Macht und Lagerstätten für Uran, zuletzt im Kongo und in Mali.

Der Kalte Krieg zwischen Nato und Ostblock drehte sich um die nukleare Keule. Seit seinem Ende wachsen die Halden von radioaktivem Schrott weiter – faktisch überall auf der Welt. Namen wie Three Mile Island, Tschernobyl und Fukushima stehen für die Katastrophen dieser Ära.

Die Logik ist die Gleiche wie beim Erdöl: Vernichtung und Verwüstung der Erde und der Lebensgrundlage von Millionen Menschen – der Menschheit überhaupt. So kann es nicht weitergehen, diese Logik führt in den Untergang. Brennstoffe, durch schmutzigen Bergbau und schmutzige Kriege gewonnen, können keinen Frieden bringen: weder politischen Frieden, noch soziale Gerechtigkeit noch ökologische Versöhnung mit der Natur.

Das solare Zeitalter klopft an die Tür

Erst Sonne und Wind – die global für alle Menschen gleichermaßen verfügbar sind – lösen das Energieproblem auf nachhaltige Weise. Darin besteht die eigentliche Lehre der Zeitalter von Kohle, Öl und Gas, Uran und Plutonium.

Die Kriege in Europa und im Pazifik – Pearl Harbor, El Alamein, Stalingrad und Hiroshima – zeigen, wie politische Macht durch fossile und nukleare Brennstoffe zementiert wurde – und wird.

Diese Spirale zu durchbrechen, dafür lohnt sich das Nachdenken – zum Beispiel achtzig Jahre nach dem Überfall auf Hawaii. Denn Gedenken heißt nicht nur, sich zu erinnern, wenn Zeitzeugen längst verblichen sind.

Es heißt vor allem: zu verstehen, zu lernen. Geschichte hat nur diesen Sinn: Sie zu erzählen, um die alten Fehler nicht zu wiederholen. Was wir aus den alten Geschichten machen, was wir aus ihnen lernen, das entscheidet über die kommenden Jahre. Über die Frage, welche Zukunft überhaupt möglich ist.

Es geht um den Weg der nachfolgenden Generationen, die es vielleicht schaffen – ohne Öl, ohne Atom, ohne Krieg. Einzig mit der Kraft der Sonne, mit der Kraft von Wind und Wasserstoff. Anders sind Frieden und Wohlstand – für alle – nicht vorstellbar.

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© H.S. Eglund
Samstag, 27. November 2021

Video: Das Erbe der Diamanten

Südlich von Lüderitz an der heißen Küste des atlantischen Ozeans erstreckt sich ein riesiges, leeres Gebiet, der südliche Teil der Wüste Namib, offiziell als Sperrgebiet deklariert. Einst gab es dort zahlreiche Minen für Diamanten, begehrte Ware für die Börsen in Joburg, London und Antwerpen.

Die Glorie der Kolonisten, Händler und Goldgräber ist verweht, längst häuft der Wind weißen Sand über die verlassenen Schächte. Bei Kolmanskop stehen die Überreste eines Bergwerks, frei zur Besichtigung.

Der Eingang zum Minenschacht wurde gesprengt, die Häuser der Bergleute und ihrer Siedlungen verfielen. Nahebei rauscht der Ozean, nahebei brütet Sand. Nirgends findet das Auge einen Halt. Der Mensch hat ein kurzes Leben; doch die Wüste – sie hat alle Zeit.

Hier sehen Sie das Video. (Dauer: 0:58 Min.)
Zum Roman: Nomaden von Laetoli
Bestellungen beim ViCON-Verlag

Weitere Videos:
Video: Sossusvlei – Dünen aus rotem Sand (0:59 Min.)
Video: Das Meer in der Wüste (0:58 Min.)
Video: Sonnenaufgang überm Ngorongoro (1:00 Min.)
Video: Marabus – Buchhalter der Wildnis (0:56 Min.)
Video: Brandberg – Im Louvre der Felsmalerei (0:58 Min.)
Video: Gondar – Stadt der Könige (0:59 Min.)
Video: Im Osten der Indische Ozean (1:00 Min.)
Video: Die kurze Blüte der Serengeti (1:00 Min.)
Video: Die Löwen von Seronera (0:58 Min.)

Leseprobe im Video: Das frühe Ende einer Safari (4:57 Min.)
Leseprobe im Video: Die Attacke aus dem Norden (9:46 Min.)
Leseprobe im Video: Am Strand von Jambiani (6:12 Min.)

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© Mildred Klaus
  • H.S. Eglund stellte seinen neuen Roman vor. © Mildred Klaus
  • Beinahe war es wie in einer Höhle ... © Mildred Klaus
Freitag, 26. November 2021

Lesungen in der Höhle: Vernissage in Berlin

Nach Lesungen in Zürich stand Berlin auf dem Programm. Dort hat Eglund seinen neuen Roman auf zwei Veranstaltungen vorgestellt – vor außerordentlich interessiertem Publikum in besonderer Umgebung.

Beinahe wie ein Plot von Akira Kurosawa: Das Zentrum für Harmonische Bewegung (ZfHB) im Prenzlauer Berg in Berlin ist nach japanischem Vorbild ausgestattet – ein Dojo mit breiter Glasfront zum Garten.

Normalerweise wird hier Aikido und Karate trainiert, laufen Workshops zu Zen und Shiatsu. Am 20. und 21. November fanden dort die Berliner Vernissage und Lesungen zum neuen Roman Nomaden von Laetoli von H.S. Eglund statt.

Bequeme weiche Tatami

Trotz der verschärften Coronakrise und 2G-Regel fanden sich zahlreiche Interessenten ein, machten es sich im Dojo auf den weichen Tatami bequem. So gerieten die Lesungen zur abendlichen Literaturreise mit angeregtem Plausch.

Ein bisschen war es wie in einer Höhle: Für mehr als eine Stunde entführte der Autor sein Publikum weg aus Ostberlin in den Osten Afrikas, nach Laetoli, nach Addis Abeba und nach Jambiani an der Küste von Sansibar.

Die Wanderung des Menschen – als Art und als Individuum

Afrika als Sehnsuchtsort, hatte ViCON-Chefin und Verlegerin Conny Vischer – eigens aus Zürich angereist – zu Beginn der Veranstaltung eingeführt. Afrika als Startpunkt der Wanderung des Menschen über den Globus; Startpunkt der Wanderung jedes einzelnen Menschen durch sein eigenes Leben.

Nun zog die Geschichte von Martin Anderson, Aaron Miller und Sewe Akashi vor dem inneren Auge des Publikums vorbei, erregte Spannung und Anteilnahme. Die anschließende Diskussion war getragen von vielfältigen Eindrücken und Anekdoten der Leserinnen und Leser sowie des Autors.

Die Gespräche setzten sich in kleinen Gruppen fort, Bücher wurden signiert, und es dauerte bis spät in die Nacht, bis das Licht im Dojo erlosch.

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  • Sacharow (links) im Gespräch mit Igor Kurtschatow, dem Chef der sowjetischen Atomforschung unter Stalin. © Piper Verlag
  • Sacharow und Kurtschatow beim Spaziergang. © Piper Verlag
  • Andrej Sacharow während seiner Verbannung in Gorki. © Piper Verlag
  • Treffen zwischen Willy Brandt und Sacharow in Moskau am 6. April 1988. © J.H. Darchinger, Friedrich-Ebert-Stiftung
  • Cover der Lebenserinnerungen von Andrej Sacharow, auf Deutsch 1991 bei Piper erschienen. © Piper Verlag
  • Sacharow als Motiv an der East Side Gallery in Berlin, gestaltet von Dmitri Wrubel. © H.S. Eglund
Sonntag, 7. November 2021

Andrej Sacharow: Von der Bombe in den Widerstand

Kremlkritiker Alexej Nawalny erhält den Sacharow-Preis des Europäischen Parlaments. Ein Leichtgewicht gegen den Namensgeber der Auszeichnung, der in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre.

Das erste Bild von Sacharow, das ich vor Augen habe: Großer Bahnhof in Moskau, irgendwann Mitte der 1980er Jahre. Aufmarsch der Parteibonzen, und doch ist dieses Mal alles anders: Michail Gorbatschow hat Glasnost und Perestroika verkündet.

Es tut sich was im Osten, und zahlreiche Delegierte wurden erstmals frei gewählt. Glasnost steht für Meinungsfreiheit, Perestroika für Umbau der Gesellschaft von unten – weg vom Stalinismus und Breschnewismus hin zu einer wirklich sozialistischen Gesellschaft.

Die Kamera zoomt auf einen alten, grauen Mann, und der Sprecher nennt diesen Namen Andrej Dimitrijewitsch Sacharow. Mutters Kommentar aus dem alten Ohrensessel: Das ist ein Hetzer! Sacharow war gerade aus der Verbannung aus Gorki nach Moskau gerufen worden, von Gorbatschow persönlich.

Und ich wunderte mich: Was weiß die Mutter über einen, der viele Jahre in der Verbannung verschwunden war? Der aus der totalen Versenkung aufgetaucht war, nach Jahren des Hausarrests in der russischen Pampa.

Die Jünger Gorbatschows

Eigentlich war Mutti unpolitisch, und wir Jüngere waren Jünger Gorbatschows. Sacharows Name geisterte gelegentlich durch die Westmedien, geheimnisvoll, denn der Mann galt als Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe. Ein bisschen wie Väterchen Frost – im Russischen: Djed Maros – , nur dass es um Nuklearwaffen ging.

Das elektrisierte uns, denn der Nato-Doppelbeschluss und die Reaktion des Warschauer Vertrages trieb seinerzeit Millionen auf die Straßen – in West und Ost. Auch viele aus meiner Generation, damals in Leipzig, hinterm Eisernen Vorhang. Rockkonzerte standen unterm Motto: No bomb, no radioactivity, never Hiroshima. Fridays for Future begann als Mondays for Future, Schwerter zu Pflugscharen, mit kleinen Gebetsgruppen in den Kirchen in Leipzig, Dresden und Jena.

Zunächst eine geradlinige Karriere

Der Vater der Fusionsbombe – ein Dissident? Zunächst verlief Sacharows Lebensweg so geradlinig wie nur möglich in Stalins rotem Zarenreich. Am 21. Mai 1921 in Moskau geboren, hatte er 1938 die Schule beendet und begann ein Physikstudium an der Lomonossow-Universität. Im Krieg wurde die Universität teilweise nach Aschchabat in Turkmenistan verlegt, wo Sacharow sein Studium beendete.

Anschließend arbeitete er als Ingenieur in einer Munitionsfabrik in Uljanowsk an der Wolga. Nach dem Sieg der Roten Armee studierte Sacharow am Fian (Lebedew-Institut) der Akademie der Wissenschaften der UdSSR und promovierte in Kernphysik.

Heißer Krieg, kalter Krieg

Dem heißen Krieg folgte der kalte, in dem es vor allem um die nukleare Keule ging. Zwanzig jahre lang – bis 1968 – arbeitete Sacharow in den geheimen Labors der sowjetischen Atomrüstung, unter anderem unter Igor Kurtschatow und Juri Chariton.

Ganz der sozialistische Physiker war Sacharow von der Idee überzeugt, dass ein nukleares Gleichgewicht die Welt vor dem Untergang retten könne. Er fühlte sich als Soldat des naturwissenschaftlich-technischen Krieges.

Sacharow war kein untergeordneter Soldat – kein Muschkote – in der sowjetischen Atomindustrie, er war einer ihrer hellsten und brillantesten Köpfe. Wesentlich waren seine Ideen für die erste Wasserstoffbombe Moskaus, die im August 1953 gezündet wurde – fast auf den Tag genau acht Jahre nach Hiroshima und Nagasaki.

Seine Dritte Idee

Kurz zur Phyik der Fusionsgranate: Sacharow entwickelte einen Booster, in dem eine kleine Kernspaltungsbombe als Zünder wirkt. Wie beim russischen Blätterteig Sloika ordnete er den Brennstoff Lithiumdeuterid um den Zünder an, vergleichbar einer Zwiebel.

Sein Vorschlag, die Bombe zweistufig zu bauen, wurde im Westen als Teller-Ulam-Design bekannt. In Russland firmierte sie als Sacharows Dritte Idee. Sie erlaubte es, Bomben mit einer Sprengkraft von mehreren Megatonnen Trinitrotoluol (TNT) zu bauen.

Solche Megabomben wurden 1955 erstmals in Kasachstan getestet. 1961 schließlich, im Jahr von Gagarins Raumflug, testete die Sowjetunion die sogenannte Zar-Bombe, die auf Sacharows Ideen fußte. Sie hatte 50 bis 60 Megatonnen TNT Sprengkraft und ist die größte bislang gezündete Nuklearwaffe weltweit.

Vordenker der Kernfusion

In den 1950er Jahren arbeitete Sacharow mit Igor Tamm zusammen an der gesteuerten Kernfusion. Sein Konzept des thermonuklearen Reaktors mit magnetischem Einschluss des Plasmas bildet die Grundlage der sowjetischen Tokamak-Reaktoren. Von ihm stammen Ideen zur Kalten Fusion und zur Aufheizung des Fusionsbrennstoffs durch gepluste Laser.

Nach 1965 arbeitete Sacharow vornehmlich zur Teilchenphysik, Kosmologie und Gravitation, militärische Aufgaben traten in den Hintergrund. Dennoch blieb er quasi unter Verschluss, galt er doch als einer wichtigsten Geheimnisträger der sowjetischen Atomrüstung.

Hochgeehrtes Mitglied der Akademie

Sacharow war schon 1953 in die Akademie der Wissenschaften der UdSSR berufen worden, als jüngster Vollmitglied überhaupt. Stalins bester Bombenbauer erhielt den Titel Held der Sozialistischen Arbeit, den Stalinpreis und zweimal den Leninorden.

Aufgrund der Atomversuche in Kasachstan und auf Nowaja Semlja in der Sowjetunion, im Pazifik durch die USA und die Franzosen gab Sacharow seine – für viele Wissenschaftler typische – Blindheit gegenüber der politischen Realität auf. Denn die Versuche hatten Tote gefordert: Soldaten, Offiziere, unbeteiligte Bauern und Fischer.

Die in die Atmosphäre geschleuderten radioaktiven Partikel erhöhten das Risiko von schädlichen Mutationen am Erbgut der Menschen überall auf der Welt. Ende 1958 wurde die Zahl der Toten durch genetische Defekte – bedingt durch Atomtests – auf rund 80.000 geschätzt.

Die Wahrscheinlichkeit von Mutationen

Jeder weitere Test – mit immer größeren Bomben – erhöhte die Zahl der möglichen Mutationen exponentiell. Sacharow berechnete die Zahl auf 10.000 Opfer pro Megatonne. Nach seiner Statistik waren bis 1958 bereits 50 Megatonnen getestet worden, was einer halben Million Toten entsprach.

1958 veröffentlichte er den Aufsatz Der radioaktive Kohlenstoff nuklearer Explosionen und die schwellenunabhängigen biologischen Effekte. Darin warnte er eindringlich vor weiteren Tests. 1961 versuchte er Chrustschow persönlich die Idee auszureden, eine Wasserstoffbombe mit 100 Megatonnen in der Atmosphäre zu testen.

1966 unterzeichnete er einen Brief, der vor der Rehabilitierung Stalins warnte. Im Kreml fand seit 1964 ein weiterer Machtwechsel statt: von Chrustschow zu Breschnew. Im April 1966 vereinte Breschnew die Führung von Staat und Partei in seiner Hand – als Generalsekretär der KPdSU.

Ein unbeliebtes Superhirn

Den allermeisten von Sacharows Kollegen aus der Wissenschaft war sein politisches Engagement unverständlich. Denn als hochdotiertes Mitglied der Akademie der Wissenschaften gehörte der Physiker zur Elite, mit Dienstwagen, geräumiger Wohnung in Moskau, Telefon, Zugang zu gesonderten Geschäften und medizinischer Versorgung wie fürs Politbüro.

Als er 1968 die Invasion in der Tschechoslovakei verurteilte, machte sich das Superhirn gänzlich unbeliebt. Im Juli 1968 veröffentlichte er das Memorandum Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit, in dem er sich für Abrüstung und die internationale Kontrolle der Kernwaffen einsetzte.

Kurz darauf wurde er aus dem sowjetischen Atomprogramm entlassen. Doch Sacharow – ein nüchterner Logiker, mit einer gewissen Verbissenheit ausgestattet, wenn er sich im Recht wusste – ließ sich nicht mundtot machen. Nach wie vor war er Mitglied der Akademie und Träger höchster Staatspreise, einige seiner Privilegien blieben ihm erhalten – Telefon, Reisen, ein Auto mit Fahrer.

Der Physiker als Staatsfeind

1970 gründete er ein Komitee zur Durchsetzung der Menschenrecht und verlangte die Demokratisierung der Sowjetunion. Im April 1971 protestierte er gegen die Praxis Moskaus, unliebsame Kritiker in der Psychatrie verschwinden zu lassen. Ende Oktober 1974 informierte Sacharow die ausländische Presse über den Hungerstreik von politischen Häftlingen in mehreren Lagern.

Die Regierung reagierte mit wachsender Repression. Sacharow kümmerte sich um politische Häftlinge und setzte sich für das Selbstbestimmungsrecht von Krimtataren, Mescheten, Armeniern, Kurden und Georgiern ein. 1974 trat er für seine Ziele selbst in den Hungerstreik.

Am 10. Dezember 1975 wurde Sacharow der Friedensnobelpreis verliehen. Das Nobelkomitee würdigte sein Engagament für eine rechtsstaatliche und offene Gesellschaft. Weil ihm Moskau verbot, den Preis in Oslo selbst in Empfang zu nehmen, reiste seine Frau nach Norwegen. Fortan stufte der KGB den Atomphysiker als Staatsfeind ein.

1979 protestierte Sacharow offen gegen den sowjetischen Überfall auf Afghanistan. Deshalb wurde er am 22. Januar 1980 verhaftet und nach Gorki verbannt. Dort – unter Aufsicht des KGB – arbeitete er am Entwurf einer neuen sowjetischen Verfassung.

Der Havemann des Ostens

In seiner Autobiografie Mein Leben (erschienen im Piper Verlag, 1991) beschreibt Sacharow eindringlich die Schikanen des KGB. Beim Lesen wird man an die Schilderungen erinnert, die Robert Havemann und Wolf Biermann von der Überwachung durch die Stasi in Grünheide gaben.

In Gorki unter Arrest festgesetzt, blieb Sacharow dennoch wirksam: durch die wachsenden Kreise der Dissidenten innerhalb der Sowjetunion und durch Kontakte mit Journalisten aus Westeuropa, die sich irgendwie Zugang zu ihm verschafften.

Und im Lande veränderte sich alles: Nach dem Tod Breschnews und seiner Nachfolger Tschernenko und Andropow trat Michail Gorbatschow auf die Weltbühne, als neuer Chef des Kremls. Der Fall Sacharow wurde zum Püfstein für die Aufrichtigkeit, mit der Gorbatschow politische Reformen propagierte.

Ein Anruf aus Moskau

Ende Dezember 1986 ließ Gorbatschow die Verbannung Sacharows und seiner Frau aufheben. Er selbst bat den Physiker telefonisch, nach Moskau zurückzukehren und seine politische Arbeit fortzuführen.

Im Jahr 1988 stieg Sacharow in die Leitung der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften auf. Er wurde als Parteiloser in den Kongress der Volksdeputierten gewählt. Ein Jahr später gründete er die russische Gesellschaft Memorial, die die Geschichte des Gulags aufarbeitet.

Nur ein Jahr blieb dem ergrauten Wissenschaftler, aktiv zu sein. Seine Gesundheit war durch die Verbannung so stark angegriffen, dass er am 14. Dezember 1989 einen tödlichen Herzinfarkt erlitt. Seine Lebenserinnerungen, die er im späten Sommer 1989 beendete, lassen erkennen, dass er müde war und sich nach Ruhe sehnte. Geben wir ihm das letzte Wort:

Mein Schicksal war auf eine gewisse Art und Weise außergewöhnlich … Nicht aufgrund falscher Bescheidenheit, sondern aus dem Wunsch heraus, mich klar auszudrücken, möchte ich feststellen, dass mein Schicksal größer gewesen ist, als meine Persönlichkeit. Ich habe nur versucht, ihm auf Augenhöhe zu begegnen.

Der Preis des Europäischen Parlaments

Seit 1988 verleiht das Europäische Parlament des Sacharow-Preis, um den Einsatz für Menschenrechte zu ehren. Alexei Nawalny wurde in diesem Jahr ausgewählt, weil er in Russland gegen die Korruption und Putins Selbstherrlichkeit kämpft.

Alexej Anatoljewitsch Nawalny ist Jahrgang 1976, er ist Jurist und hat Börsenwesen studiert. 2010 erhielt er ein Förderstipendium, das ihn für vier Monate an die Yale-Universität führte.

2011 stieg er in die Politik ein, indem er eine Stiftung gegen Korruption gründete. Er agiert vor allem über soziale Medien und hat sich einen Namen als Blogger gemacht. Im September 2013 trat er zur Wahl des Bürgermeisters von Moskau an und erhielt 27 Prozent der Stimmen. Seitdem gilt er als Spitzenmann der Opposition gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und dessen Seilschaften.

Eine Vision für die Opposition

Nawalny hat einen guten Teil seines Renommées im Ausland aufgebaut, vor allem durch den gescheiterten Versuch, ihn zu vergiften. Nun ist er in den Weiten Russlands verschwunden, sitzt eine Haftstrafe ab, die ihm ein Gericht unter fadenscheinigem Vorwand aufgedrückt hat.

Von Nawalny ist nicht bekannt, welche positive Vision er gegen die Allmacht des Kremls setzt. Er fordert wichtige demokratische Rechte – in einer Gesellschaft, die Demokratie überhaupt nicht kennt, nicht im Sinne des Westens.

Das war bei Sacharow grundsätzlich anders. Der Physiker wirkte vornehmlich aus dem Innern der UdSSR, aus der Zentrale ihrer politischen und militärischen Macht. Nawalny hatte und hat diese Möglichkeiten nicht. Seine politische Wirksamkeit nach dem Ende seiner Haft wird wesentlich davon abhängen, ob er den Menschen in Russland mehr anbieten kann, als bloße Kritik an Putins Zirkeln.

Dennoch: Auf seine Weise, mit seinen Möglichkeiten und Unterstützern führt er die Arbeit fort, die von Dissidenten wie Andrej Sacharow begonnen wurde. Auch für das moderne Russland gibt es keine Alternative, wie Sacharow einst für die UdSSR sagte:

Ich bin sicher, dass der Schutz der Menschenrechte die einzige Grundlage ist, die Menschen ungeachtet ihrer Nationalität, ihres politischen Glaubens, ihrer Religion oder ihres sozialen Status vereinen kann.

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© H.S. Eglund
  • Grautöne, Unschärfen, scharfe Kontraste oder fließende Übergänge ... © H.S. Eglund
  • Der Blick über die Schulter des Anderen, auf den See. © H.S. Eglund
  • Die verschiedenen Bildformate wirken wie verschieden große Fenster, durch die das Auge blickt. © H.S. Eglund
  • Manchmal erzeugt die Unschärfe den Eindruck von Flüchtigkeit, einer Flüchtigkeit, die wiederum Bestand zu haben schein. © H.S. Eglund
  • Die Fotos laden ein, zu verweilen. Den Geschichten zu lauschen - ohne Worte. © H.S. Eglund
  • Seltsam aufgereiht wirken die Fotos. © H.S. Eglund
  • Jörg Möller präsentiert seine aktuellen Kataloge. Er selbst ist hier in Farbe zu sehen - ausnahmsweise. © H.S. Eglund
Montag, 1. November 2021

Fotograf Jörg Möller: Die Unschärfen im Blick

In der Brotfabrik in Weißensee gibt es noch wenige Tage eine sehr interessante Ausstellung zu sehen. Am Sonntag, den 7. November, um 16 Uhr beginnt die Finissage. Wer es bis dahin nicht schafft, dem seien die Kataloge empfohlen.

Seltsam, die dunklen Bilder in den hellen – fast grellen – Räumen. Ein Kontrast, der den Blick schärft. Denn Ablenkung entfällt.

Seit Anfang Oktober zeigt die Galerie der Brotfabrik in Berlin-Weißensee eine Exposition, die rund 80 Fotos von Jörg Möller aufreiht. Aufreiht, hm. Klingt merkwürdig, scheint aber so. Denn die Fotos – allesamt Schwarzweiß – wirken an den weißen Wänden wie aufgefädelt. Wie lange Reihen durch die Zeit, wie schmale Wege durchs Leben.

Seine Fotos lassen sich Zeit

Die Ausstellung vereint Fotos von 1998 bis heute, bietet biografische Motive und Bilder aus der Nacht. Möller lässt sich Zeit, seine Fotos lassen sich Zeit. Angenehm auch die Unschärfen; angenehm die Grautöne und manchmal die Reflexion einer Glasscheibe, die das Motiv des Suchers überlagert – wie der echte Blick nach draußen.

Obwohl die Räume sehr weiß sind und sauber, wirkt die Ausstellung weder clean noch steril. Zwar fehlt Farbe, dennoch laden die Bilder ein, einzutauchen. Der Betrachter sucht nicht den optischen Abstand, sondern Nähe.

Irgendwie stimmig, hier fehlt nichts. Jedes Bild erzählt eine spannende Geschichte, öffnet seltsame Blicke in die Welt, öffnet etwas, das hinter der Linse verborgen scheint. „Ich erzähle ohne Worte“, sagt Jörg Möller über seine Arbeit. „Schärfe und ausreichend Licht sind nicht immer wichtig. Manchmal geraten die Bilder unscharf – wie Erinnerungen.“

Bilder geschehen lassen

Wer Jörg Möller einmal beim Fotografieren zusehen durfte, der weiß: Er macht keine Bilder, er lässt sie geschehen. Manchmal belichtet er eine halbe Stunde lang, oder – wie an der zerklüfteten Küste von Lanzarote – mehr als eine und eine Viertelstunde. Nur das Licht des Vollmonds, das musste genügen.

Denn Kunstlicht ist eine Lüge, eine Illusion. Im Unterschied zum sterilen Mainstream ist Möller ein echter Purist. Meist fotografiert er mit Kameras, die schon 70 oder 100 Jahre auf dem Buckel haben.

Wie erwähnt: Licht und Schärfe sind kein Muss. Sie sind gegeben, oder eben nicht. Der Augenblick oder der verzögerte – der hinausgezögerte – Moment der langen Belichtung ist hell oder dunkel, scharf oder unscharf. Er ist – unverdorben und unberührt.

Das Auge darf sich gewöhnen

Dem Auge tut das gut, weil es sich gewöhnen kann. Wie in der Nacht oder in der Dämmerung. Deshalb braucht es Zeit, sich die Fotografien von Jörg Möller anzusehen. Sie sind ein bisschen wie der Blick über die Schulter des Menschen, der vor uns geht. Der vor uns sitzt. Der wir sein könnten oder sein werden.

Auf der Website der Brotfabrik findet sich ein wunderbarer Text von Ingeborg Ruthe, die zur Vernissage in die Ausstellung einführte:

Jörg Möllers »Nachbilder« erzählen von der Vagheit und der nächtlichen Stille abseits der Großstadtlichter. Die wie aus der Zeit gefallenen nächtlichen Szenerien zeugen vom Noch-Erkennbaren und gleichzeitig Unheimlichen einer Landschaft, eines Gebäudes, einer menschlichen Silhouette. Für den Fotografen ist der Raum dazwischen wesentlich, das Unausgesprochene, der Rest Unfassbarkeit seiner nächtlichen Langzeit-Belichtungen eigentlich banaler Situationen … Es ist die Sprache der Zeichen, die solch eine Fotografie bestimmt, so voller Beiläufigkeiten, auch kryptisch, die eine geradezu mystische Aufladung erfahren.

Hier geht es zur Website der Ausstellung in der Brotfabrik. (bis 7. November 2021)

Website des Fotografen Jörg Möller aus Berlin.

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Mittwoch, 27. Oktober 2021

Nomaden von Laetoli: Vernissage mit zwei Lesungen in Berlin

Am 20. und am 21. November 2021 finden in Berlin zwei Veranstaltungen zum neuen Roman von H.S. Eglund statt. Verlag und Autor laden ein, das Werk kennenzulernen sowie mit dem Autor zu diskutieren. Beide Veranstaltungen sind kostenfrei.

Nach dem erfolgreichen Start in Zürich findet die Berliner Vernissage am 20. November 2021 um 19 Uhr im Zentrum für Harmonische Bewegung statt. Das Zentrum befindet sich in der Schwedter Straße 16 (Nähe U-Bahnhof Senefelderplatz). Dort liest Eglund aus seinem neuen Roman Nomaden von Laetoli und wird mit dem Publikum diskutieren. Die Veranstaltung ist kostenfrei. Es gilt das 2G-Hygienekonzept.

Am 21. November 2021 um 17 Uhr findet eine zweite Lesung am gleichen Ort statt. Auch diese Veranstaltung ist kostenfrei, auch hier gilt das 2G-Hygienekonzept.

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Der Roman im ViCON-Verlag

Blog & Website des Autors H.S. Eglund

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  • Der Gemeinschaftsstand der Schweizer Buchbranche war vergleichsweise gut frequentiert. © H.S. Eglund
  • Conny Vischer vom ViCON Verlag zeigt am Stand der Schweizer Verlage ihre Neuheiten. © H.S. Eglund
  • Ehrlich: Mit den meisten Ausstellern empfand man so etwas wie Mitleid. © H.S. Eglund
  • Die Aussteller präsentierten sich selbstbewusst. Was fehlte, war das (Fach-)Publikum. © H.S. Eglund
  • Sogar Asterix schien sich zu langweilen. © H.S. Eglund
  • Am Stand Russlands wurden zahlreiche Neuheiten präsentiert. © H.S. Eglund
  • Gähnende Leere auch im ARD-Messestudio. © H.S. Eglund
  • Der Messeturm von Frankfurt war viele Jahrzehnte zentraler Anlaufpunkt der Buchbranche. Wie lange noch? © H.S. Eglund
Samstag, 23. Oktober 2021

Buchmesse in Frankfurt: ohne Schwung, ohne Esprit

Eigentlich sollte die Buchmesse in Frankfurt das Ende der Coronakrise beschwören. Das Ende der Krise der Branche. Drei Hallen waren belegt, das digitale Programm wirkte müde. Aufbruch sieht anders aus – und steht nun als Aufgabe für Leipzig.

Die Frankfurter Buchmesse war ein Branchenmotor, und sie hat die Chance, London als Messeplatz auszustechen. Weil England die Europäische Union verlassen hat, dürfte die London Book Fair als Drehkreuz zwischen der Vielsprachigkeit in der EU und den großen englischsprachigen Märkten an Bedeutung verlieren.

Und Corona, natürlich. Die Pandemie machte persönliche Treffen unmöglich, das traf den Messeplatz hart. Nun, endlich, beinahe durchgeimpft, sind Messen wieder erlaubt. Die IAA Mobility fand im September in München statt, und vor zwei Wochen die Intersolar – ebenfalls in München.

Zwei erfolgreiche Messen als Vorbilder

Beide Messen waren große Erfolge, brachten ihr Fachpublikum auf die Beine. Denn die Experten und Akteure einer Branche bilden das Herz einer solchen Messe, auch wenn ein Lesefest durchaus hilfreich sein kann.

Doch die Leserin, der Leser, standen in Frankfurt noch nie im Mittelpunkt. Es ist eine B2B-Messe, da geht es ums Big Business von Verlagen, Literaturagenten, Rechteagenten, Filmgesellschaften und Druckereien.

Blutarm und ideenlos

Dass die Frankfurter Buchmesse im Oktober 2021 mit nur drei Hallen ins Rennen ging, ist angesichts der Corona-Einschränkungen verständlich. Man kann ja sagen: immerhin drei Hallen. Aber dass der Veranstalter derart blutarm und ideenlos agierte, hinterlässt Achselzucken.

Gähnende Leere in den Hallen, kaum Fachpublikum, Langeweile an den Messeständen. Erst als Leserinnen und Leserinnen Zutritt erhielten, kam etwas Leben in die Gänge.

Aber Big Business ist das nicht. Im Gegenteil: Es war der Messegesellschaft offensichtlich wichtiger, überzogene Hygieneregeln auf Teufel komm heraus durchzusetzen, als mit neuen Ideen und Formaten zu punkten.

Unsinnige Absperrungen, unfreundliche Ordner

Überall auf der Messe liefen die wenigen Besucher gegen unsinnige Absperrungen, wurden durch unfreundliche Ordnungskräfte ermahnt, Abstand zu halten, die Maske richtig aufzusetzen oder, oder, oder. Ein bisschen ging es zu wie bei der Abfertigung auf dem Flughafen.

Sogar im ARD-Medienzentrum, in dem gleichfalls Leere gähnte, wurde man mit Vorwurf in der Stimme belehrt. Dort war voll bestuhlt, als würden wie früher Tausende die Veranstaltung stürmen. Doch immer zwei Sitze waren mit roten Papierstreifen blockiert. Nur jeder dritte Stuhl war freigegeben für Gäste.

Saß man allein im Auditorium, rechts und links alle Sitze frei, vorn und hinten die Reihen auch, wurde man trotzdem belehrt:

Nur auf die freigegebenen Sitze! Setzen Sie sich bitte auf den nächsten Stuhl!

Aber es ist doch kein Mensch da!

Sie dürfen hier nicht sitzen! Das sehen Sie doch!

Hinten standen die Ordner in Gruppen, schwatzend und störend, dass es wirklich keinen Spaß machte. Das ist nur ein Beispiel, wie man Aufbruch vergeigen kann.

Die Stimmung stimmte nicht, es gab überhaupt keine Stimmung, sondern nur den kläglichen Versuch von Business as usual. Allein durch Corona lässt sich diese Pleite nicht erklären – oder entschuldigen.

Ein müder Wasserkopf

Offenbar tut sich die Frankfurter Messe sehr schwer, auf die Veränderungen in ihrem Kerngeschäft zu reagieren. Das war beispielsweise bei der ISH zu erkennen, der bislang weltgrößten Messe für Haustechnik. Sie findet traditionell im März statt, alle zwei Jahre. Corona hin, Corona her – mit digitalen Formaten oder neuen Ideen ist diese Fachmesse bislang gescheitert.

Gleiches nun auch bei der Buchmesse: Offenbar gelingt es nicht, kreative Ideen zu finden und umzusetzen, um das Buchgeschäft zu beleben. Dann, nur dann, hat die Messe eine Zukunft.

Denn nicht nur wegen Corona steht die Buchbranche vor enormen Veränderungen: Onlinehandel, digitale Formate, Social Media und Innovationen im Produktionsprozess lauten die Stichworte. Sie dokumentieren, dass es einer Pandemie nicht bedurfte, um den Wandel, der die Branche umtreibt, in ihre wichtigste Messe zu tragen.

Und es wird klar, dass es kein Business as usual mehr gibt – auch nicht nach Corona. Tschüss, Frankfurt! Mal schauen, ob Leipzig die Chance nutzt – vom 17. bis zum 20. März 2022.

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Zur Buchmesse: Eglund liest aus seinem Roman „Zen Solar“

Laetoli: Startpunkt einer langen Odysee

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© Conny Vischer
Mittwoch, 20. Oktober 2021

Laetoli: Startpunkt einer langen Odyssee

Im Interview: Urs Heinz Aerni befragte H.S. Eglund zu seinem neuen Roman Nomaden von Laetoli. Wie tief steckt der urzeitliche Nomade im modernen Menschen? Das Leben als Wanderung durch die Zeit, Zivilisation als Wanderung durch Generationen.

Treffpunkt Zürich: Bei der Vernissage des Romans Nomaden von Laetoli Ende September im Zürcher Atelier für Kunst und Philosophie trafen sich Urs Heinz Aerni und H.S. Eglund. Aerni nutzte den Anlass, um mit Eglund ein spannendes Interview zu führen. In der gebotenen Kürze erlaubt es tiefe Einblicke in den Roman, in seine Handlung und seine Protagonisten. Und in das dunkle, geheimnisvolle Afrika, wo der Nomade einst seinen globalen Aufbruch begann.

Hier finden Sie das Interview. (Dauer: 5:23 Min.)

Weitere Impressionen der Veranstaltungen in Zürich finden Sie hier.

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Roman Nomaden von Laetoli

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© Ko-Hum
Donnerstag, 14. Oktober 2021

Zur Buchmesse: Eglund liest aus seinem Roman „Zen Solar“

Nächste Woche ist Buchmesse in Frankfurt/Main. Anlass für eine ungewöhnliche Lesung: Am Solarfeld in Groß-Dölln nördlich von Berlin liest Eglund ein Kapitel aus seinem zweiten Roman, am Ort der Handlung.

Still ist es geworden. Wo einst sowjetische Kampfjets donnerten, blinken heute Solarpaneele – und die Natur kehrt zurück …

Hier finden Sie die Lesung.

Weitere Videos:
Video: Eglund am Solarfeld in Groß-Dölln
Video: Eglund am Solarfeld in Groß-Dölln (2)
Video: Eglund am Tagebau Welzow-Süd in der Lausitz
Video: Mit Eglund am Kohlekraftwerk in Schwarze Pumpe

Der Roman von H.S. Eglund:
Zen Solar – Roman zur Energiewende
Eglund in Social Media: Bücher, Bits & Bytes

Aus dem Roman:
Video: Zen Solar – Roman zur Energiewende
Hörproben (mp3), gelesen von Christiane Marx und Felix Würgler
Leseproben (pdf)

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