Ein Hauch von Ewigkeit: Thomas Mann in Nida
Das frühere Ferienhaus des Schriftstellers befindet sich auf der Kurischen Nehrung. Den Nazis diente es als Jagdhütte und Lazarett. Die Besetzung durch die Sowjets überstand es knapp. Heute birgt es ein feines Kulturzentrum – und wird erstaunlich gut besucht.
Magische Landschaft: Im Jahr 1929 Jahre war Thomas Mann nach Königsberg gereist, denn der arrivierte Autor suchte Abstand. Abstand zu den krisengeschüttelten Metropolen seines Heimatlandes.
Hinter ihm lagen der Erste Weltkrieg und ein düsteres Jahrzehnt von Revolution, Putsch und Weltwirtschaftskrise. Deutschland war in Aufruhr, nirgends kam er zur Ruhe.
Spröde, karge Landschaft
Von Königsberg reiste Mann mit seiner Familie nach Rauschen weiter, einem mondänen Badeort an der Ostsee. Die spröde, karge Landschaft des Baltikums faszinierte ihn. Bei einem Ausflug auf die Kurische Nehrung schien der Ort gefunden, der Stille und Abgeschiedenheit versprach: Nidden, damals zu Litauen gehörig.
Am Ende der Welt
In Nidden, heute Nida, ließ Thomas Mann ein Sommerhaus errichten, am bewaldeten Hang einer hohen Düne. Von dort hatte er einen wunderbaren Ausblick auf das Kurische Haff: Vor sich das Haff, hinter sich die Ostsee. Die Nehrung ist recht schmal, an manchen Stellen nur einige hundert Meter breit. Sie macht das brackige Haff zum Binnenmeer.
Wer heute auf die Nehrung fahren will, muss in Kleipeda die Fähre benutzen. Seit die Hafeneinfahrt ausgebaggert und verbreitert wurde, ist die Nehrung faktisch eine langgezogene Insel.
Ihr südliches Ende ist versperrt, denn dieser Teil der sandigen Dünenbank gehört zur russischen Exklave von Kaliningrad, früher Königsberg. Normalerweise rege von Tagestouristen frequentiert, ist der Grenzübergang seit Februar 2022 verwaist. Russland hat den Grenzverkehr dichtgemacht, hier ist die Welt zu Ende.
Nötiges Kleingeld durch den Nobelpreis
Das Grundstück erlaubt den nahezu unbegrenzten Blick auf das Kurische Haff, das die Nehrung vom Festland trennt. Es liegt still, irgendwie verschlafen, man möchte sagen: zeitlos. Das nötige Kleingeld für den Bau der geräumigen Sommerkate floss im Dezember 1929: Für seinen Roman Buddenbrooks erhielt Thomas Mann den Nobelpreis für Literatur.
Joseph und seine Brüder
Von 1930 bis zur Emigration im Jahr 1933 verbrachte die Manns in Nidden ihre Sommerferien. Während der Aufenthalte entstanden Artikel und Briefe, schrieb der Meister an Joseph und seine Brüder, seinem Opus Magnus.
Zwischen 1933 und 1943 erschienen insgesamt vier Bände. Zwei wurden im Ausland geschrieben, ebenso im Ausland publiziert. Denn Thomas Mann stand – wie Klaus Mann und Heinrich Mann – auf der Schwarzen Liste der Nazis. Als die Braunhemden an die Macht kommen, flieht er mit seiner Frau Katja und den Kindern in die Schweiz, kurzzeitig nach Frankreich, später in die USA.
Onkel Toms Hütte an der Ostsee
Die Einheimischen bezeichneten das Anwesen des bekannten Dichters als Onkel Toms Hütte, in Anspielung auf den Roman von Harriet Beecher Stowe. Das Seebad Nidden bekam durch die Anwesenheit der Familie Mann eine kostenlose Werbung, wurde zum Mekka der Literaturszene.
Die Nazis erreichen Nidden
Im Sommer 1932 war die Idylle zu Ende. Die Nazis bedrohten Thomas Mann, schickten ihm ein angekohltes Exemplar der Buddenbrooks ins Feriendomizil. Weder der Schriftsteller, noch seine Familie kehrten später nach Nida zurück.
Im Jahr 1939 wurde das einstige Memelland, das nach dem Ersten Weltkrieg an Litauen gefallen war, von der Wehrmacht besetzt. Hermann Göring beschlagnahmte das Haus und nutzte es als Jagdhaus Elchwald.
Unterkunft für deutsche und sowjetische Soldaten
Im Zweiten Weltkrieg wurden verwundete Offiziere der Luftwaffe einquartiert, zur Rekonvaleszenz. Als die Rote Armee vorrückte, platzte eine Granate auf dem Grundstück, das hölzerne Gebäude blieb als Ruine zurück.
In den ersten Jahren nach dem Krieg diente das stark beschädigte Haus als Unterkunft für sowjetische Soldaten. Türen und Fenster wurden zu Brennholz gemacht, die Einrichtung der Räume gleichfalls verbrannt. 1954 stellten es die Sowjets als Kriegsruine auf Abriss.
Renovierung im Todesjahr
Allerdings wurde im Jahr darauf bekannt, wer der frühere Hausherr gewesen war. Im August 1955 war Thomas Mann in der Schweiz verstorben. Es folgte eine erste Renovierung, um das Haus zum Wohnheim für russische Fachkräfte umzubauen.
Kurz vor Manns Tod war ihm der litauische Schriftsteller Antanas Venclova in Weimar begegnet. Venclova regte 1967 an, im Haus eine Zweigstelle der Stadtbibliothek von Klaipeda unterzubringen. Zugleich entstand eine Gedenkstätte für Thomas Mann, der in den Republiken der früheren Sowjetunion eine breite Leserschaft hatte.
Eine Spende aus Ostberlin
1975, anlässlich des hundertsten Geburtstags, spendete die Regierung in Ostberlin einige interessante Stücke für die Ausstellung. Ab 1987 wurde das Haus für westdeutsche Besucher geöffnet.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1992 gingen Grundstück und Gebäude an den litauischen Staat über. Das Anwesen wurde aufwändig restauriert, wofür erhebliche Mittel aus Deutschland flossen.
40.000 Besucher im Jahr
Es entstand das heutige Kulturzentrum Thomas Mann (Tomo Manno). Darin wurden das Wohnzimmer, die Terrasse und der Arbeitsraum des Schrifstellers weitgehend wiederhergestellt.
Ein moderne und sehr ansprechende Ausstellung mit Tafeln, Fotos und digitalen Effekten rundet den Besuch ab. Immerhin: Jedes Jahr pilgern rund 40.000 Besucher auf die hohe Düne, streifen durch die Räume und den kleinen Park. Es ist eines der bestbesuchten Museen in Litauen.
Pegasus und Ochsenblut
Architektonisch lehnt sich das Haus an den Stil der kurischen Fischer an: Das Dach ist mit Reet eingedeckt. Den First krönen zwei sich kreuzende Pferdeköpfe, Symbol für Pegasus, das Ross der Dichter.
Der Anstrich trägt Ochsenblut als Farbe, typisch für das Baltikum und Skandinavien. Mit der rotbraunen Holzverkleidung kontrastieren blaue Fensterläden, Dachprofile und Balken am Giebel.
Das Blau des Haffs, das Blau der Fischer
Für Thomas Mann hatte das Niddener Blau eine spezielle Bedeutung. Bei einem Vortrag im Dezember 1931 in München erläuterte er:
Im Fischerdorf findet man an den Häusern vielfach ein besonders leuchtendes Blau, das für Zäune und Zierate benützt wird. Alle Häuser, auch das unsere, sind mit Stroh- und Schilfdächern gedeckt und haben am Giebel die heidnischen gekreuzten Pferdeköpfe.
Auf den Spuren des Großvaters
Enkel Frido Mann hat vor zehn Jahren ein interessantes Büchlein veröffentlicht: Mein Nidden. Auf der Kurischen Nehrung (erschienen im Mareverlag). Darin folgt er den Spuren seines Großvaters und erzählt die Geschichte der Kurischen Nehrung vom Deutschen Reich über die Sowjetherrschaft bis zum unabhängigen Litauen.
Unter anderem kommen Mitglieder der Familie zu Wort. Thomas Mann hatte seine Tagebücher aus der Zeit vor 1933 im Exil in Pacific Palisades (Kalifornien) größtenteils verbrannt.
Webseite des Vereins zur Förderung des Thomas-Mann-Hauses
Durch die Wüste mit Joseph und seinen Brüdern
(neu gelesen von H.S. Eglund)
Außerdem sehenswert in Litauen:
Saltojo: Die Geister aus der Unterwelt
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