Stippvisite nach Ulm: Bischof, ich kann fliegen!
Die Stadt und ihr modernistischer Zwilling Neu-Ulm sind schwer von der Donau gezeichnet. Nix wie durch und weg, der Fluss weiß, warum er flieht. Ein Report über und für Durchreisende.
Ulm hat ein gotisches Münster und ohne Münster wäre es nichts. NICHTS. Der sprichwörtliche Reichtum der Stadt – im Mittelalter stand „Ulmer Geld“ für außergewöhnlichen Wohlstand schlechthin – hat das Zentrum verdorben.
Wie ein archaischer Fels ragt der 161,53 Meter hohe Kirchenbau aus der umgebenden Bebauung auf. Abgesehen von ein paar Überbleibseln aus der Geschichte: alles glatter Beton, glattes Glas und kalter Stahl – glatte, langweilige Fassaden.
Wie gefräßige Hyänen zerren die kahlen Bauten des Wirtschaftswunders an der stolzen Kathedrale, und es scheint, als wollte der hohe gotische Turm in den Himmel entfliehen.
Berblingers Traum, ein Vogel zu sein
Ein Vogel müsste man sein, über all dem Grau der Konsumtempel, sich aufschwingen zur Spitze des mittelalterlichen Zepters.
„Bischof, ich kann fliegen“,
Sagte der Schneider zum Bischof.
„Pass auf, wie ich’s mach‘!“
Und er stieg mit so ’nen Dingen,
Die aussahn wie Schwingen
Auf das große, große Kirchendach.
Früher gehörte Brechts Gedicht zum Schulkanon. So ein Bischof bot eine wunderbare Karikatur, Fleisch gewordene Arroganz der Katholiken. Tiefenpsychologisch gesehen, war es ein Fluchtversuch, den Brecht in Verse brachte:
Der Bischof ging weiter.
„Das sind so lauter Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof vom Schneider.
Im Jahr 1811 wollte der Schneider Albrecht Berblinger tatsächlich mit selbstgebauten Flügeln vom Münster schweben. Das ist urkundlich gesichert. Dichterische Freiheit erlaubt, dass der Pionier des Flugwesens stirbt:
„Der Schneider ist verschieden“,
Sagten die Leute dem Bischof.
„Es war eine Hatz.
Seine Flügel sind zerspellet
Und er lag zerschellet
Auf dem harten, harten Kirchenplatz.“
Berblingers Versuch, das andere Ufer der Donau zu erreichen, schlug fehl. Das stimmt. Er stürzte in die Fluten, aber er überlebte und wurde zur Zielscheibe des Spottes – der Plebejer und der Katholiken. Lassen wir noch einmal Brechts Bischof zu Wort kommen:
„Die Glocken sollen läuten,
Es waren nichts als Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof den Leuten.
Brecht stilisiert den Schneider zum Frontmann des Fortschritts, zum verkannen Genie. In Wahrheit wollte auch Berblinger nur – weg!
Die Flucht der Donauschwaben
Ulm als Ausgangspunkt der Flucht, Ulm als äußerster Vorposten im Osten von Württemberg. Neu-Ulm auf der anderen Seite der Donau liegt bereits in Bayern. Von Ulm zogen die Donauschwaben aus, um den Südosten Europas gegen die Türken zu verteidigen.
Als Wehrbauern ließen sie sich nieder – in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien. Wer einen Grund sucht, warum sie sich Ende des 17. Jahrhunderts in ihren Karren auf den beschwerlichen Weg gen Süden machten, braucht nicht lange zu suchen. Denn Ulm hält niemanden, es ist ein Ort, den man verlässt.
Niemand bleibt auf Dauer
Albert Einstein wurde 1879 in Ulm geboren, ebenso Hildegard Knef (1925) und Siegfried Unseld (1924). Die Karrien dieser Leute sind jedoch mit anderen Städten verbunden. Einstein ging nach Bern, nach Berlin, nach Princeton – in Ulm blieb sein Genie unerkannt.
Die Knef reiste um die ganze Welt, von seltsamer Unrast getrieben. Unseld übernahm 1959 den Suhrkamp-Verlag in Berlin und Frankfurt/Main. Sogar für die piefige Bundesrepublik war Ulm als geistiges Zentrum ungeeignet. Die Boheme residierte und publizierte andernorts: Frankfurt, Hamburg, München.
Geistige Enge, in Stein gehauen
Und wie frustrierend müssen die Jugendjahre der Geschwister Scholl gewesen sein, die ab 1932 in Ulm aufwuchsen. Sophie und Hans Scholl schulten hier ihre Widerständigkeit, sahen hier den brauen Aufmarsch in den Köpfen der ach so christlichen Mitmenschen.
Sophie Scholl war siebzehn Jahre alt, als sie in Ulm die Reichskristallnacht erlebte. Als brave Katholikinnen und Katholiken ihren jüdischen Nachbarn die Scheiben einwarfen und die Synagoge in Brand setzten. Offenbar war bei den Ulmern Hopfen und Malz verloren, denn die Scholls gingen nach München, an die Universität.
Die Liste seltsamer Ehrenbürger
Dort hofften sie, Zeichen zu setzen, bis sie 1943 mit Flugblättern erwischt und hingerichtet wurden. Immerhin: Ihre Schwester Inge wurde später – nach dem Krieg – zur Ehrenbürgerin der Stadt ernannt. Sie hatte sich dem Vermächtnis der Weißen Rose verschrieben und die Volkshochschule von Ulm ins Leben gerufen – Bildung gegen die Leere und den Hass in den Hirnen.
Unter den Ehrenbürgern ist Inge Aicher-Scholl so etwas wie die Friedenstaube unter Falken. Reichskanzler Otto von Bismarck steht in der Liste der Geehrten ebenso wie Paul von Hindenburg, Kriegsherr und Reichspräsident, der Adolf Hitler in den Sattel hob.
Natürlich war auch Adolf Hitler einst Ehrenbürger von Ulm, wurde 1945 jedoch verschämt aus den Annalen gestrichen. Ludwig Erhard, Bundeskanzler nach Adenauer, war Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Ulm und steht seither gleichfalls in der Liste. In der Inge Aicher-Scholl übrigens die einzige Frau ist.
Die Quelle der Fluchtgedanken
Warum taugt Ulm nur zur Durchreise, nur für ein kurzes Essay im Hotelzimmer? Vielleicht liegt es an der Donau, deren Wasser unablässig durch die Stadt rinnt, wie die Zeit. Alles in dieser Stadt atmet GESTERN.
Der Fluss erträgt die Tristesse. Unablässig teilt er Ulm von Neu-Ulm, Baden-Württemberg von Bayern, trennt die Schwäbische Alp von den niederen Ebenen gen Osten hin, gen Augsburg, und nach Süden, zum Allgäu. Augsburg hat wenigstens die Fugger und die Puppenkiste. Dort wurde Bertolt Brecht geboren. Naja, ist ja auch abgehauen. Die ganze Weltecke scheint dürftig.
Von Nordwesten treiben dicke, schwere Wolken heran, grau wie die Fassaden im Zentrum von Ulm. Sogar der Regen scheint zu fliehen, die schwangeren Bänke driften südwärts, zum Alpenrand. Es folgen drei feuchte Tage in München. In Ulm kein Tropfen.
Mit Bert Brecht: Wann, bitte, geht der nächste Zug nach Berlin?
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