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H. S. Eglund

Schriftsteller • Writer • Publizist

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TTT
Donnerstag, 31. März 2022

Podcast: Zeitreise in den Dunkelwald – mit H.S. Eglund

Globetrotting trotz Corona: Clanmother Rebecca Budd aus Vancouver ließ sich – virtuell – entführen. In ihrem jüngsten Podcast von Tea, Toast & Trivia sprachen sie mit Eglund über das Ergebirge. Denn das Bergland im sächsisch-böhmischen Grenzgebiet gehört mittlerweile zum Weltkulturerbe der Unesco.

Clanmother und Eglund gemeinsam unterwegs: Ausgangspunkt der Zeitreise ins Erzgebirge sind die Berichte des römischen Geschichtsschreibers Tacitus, der in seine Werk Germania vor 2.000 Jahren erstmals einen besonderen Landstrich erwähnt:

So haben das Land weiter östlich (vom Hercynischen Walde – H.S.E.) die Bojer innegehabt, ein gallischer Stamm. Noch ist der Name Boihämum erhalten als Erinnerung an die Geschichte des Landes, wenn auch dessen Bewohner gewechselt haben.

Boihämum – das heutige Böhmen – erhielt seinen Namen von den Bojern, die als lebenslustig und ein bisschen faul beschrieben wurden. Deshalb wird der Begriff Boheme für (Lebens)Künstler benutzt, für Menschen, die sich eher geistigen Freuden zugezogen fühlen als harter, schwerer Arbeit.

Undurchdringlicher Miriquidi

Boihämum war gegen die nördliche angrenzenden Berge – das heutige Erzgebirge – und die sächsischen Germanen durch den Dunkelwald, den legendären Miriquidi getrennt. Dieser Landstrich lag außerhalb der römischen Erfahrungswelt, denn vor zwei Jahrtausenden galt der Wald als undurchdringlich. Hier fanden die Kenntnisse des römischen Schreibers ihre Grenze.

Die bis zu 1.200 Meter aufsteigenden Berge waren unbewohnt, galten als sehr unwirtlich. Noch heute markiert das Erzgebirge im Winter und Frühjahr die kältesten Temperaturen zwischen Alpen und Ostsee. Auch sind heftige Stürme und Starkregen keine Seltenheit.

Fränkische Bauern rodeten den Dunkelwald

Die Besiedlung des Erzgebirges begann erst vor rund tausend Jahren, als der Markgraf von Meißen fränkische Bauern ins Land holte. Sie begannen, den Dschungel zu roden. Sie wuschen glitzernde Graupen (Metallkörner aus Zinn oder Silber) aus den Bächen und Flüssen, zunächst im sogenannten Seifenabbau.

Dabei arbeiteten sich die Seifner entgegen dem Flußlauf vor. Wo die Erzader aus dem Ufersand trat, stießen sie in die Böschung vor – mit der Spitzhacke. Diese Methode wurde später beim Goldrausch in Kalifornien und am Klondike angewendet. Auch hier dominierte die Goldwäsche, bis die Erzadern in die Berge mündeten. Untertage wurden Bergeisen und Schlägel zu den wichtigsten Werkzeugen der Bergleute.

Berggeschrey zog Tausende an

Den Gängen von Zinn, Blei, Kupfer und Silber folgend wurde das Erzgebirge – neben den Alpen und dem Harz – zur Wiege des Bergbaus in deutschen Landen. Im 12. Jahrhundert wurden bei Freiberg reiche Erzgänge mit Blei und Silber entdeckt. Teilweise reichten die Erzgänge bis zur Grasnarbe und waren außerordentlich reich.

Das erste Berggeschrey zog Tausende arme Bauern und Tagelöhner nach Sachsen, um als Bergarbeiter ihr Glück zu versuchen. Freiberg entstand mit seinem Bergamt, fortan Vorbild für alle freien Bergstädte wie Annaberg, Schneeberg oder Sankt Joachimsthal (heute Jachymov in Tschechien).

Als 1477 in Schneeberg gediegen Silber aus dem Berg geholt wurde, hub das zweite Berggeschrey an, das rund hundert Jahre dauerte. Zu dieser Zeit wurden die letzten Urwaldriesen des Miriquidi gerodet, um Holz für den Ausbau der Silbergruben und die Hütten der Bergleute zu bekommen. Bis zu 600 Meter teuften die Bergleute die Schächte im Schneeberger Revier ab. Auch in Böhmen wurden ergiebige Erzgänge entdeckt und aufgefahren.

Konkurrenz des Adels und der Pfaffen

Mit diesem Silber wurde der Meißner Dom erbaut. Dieses Silber floß nach Prag auf den Hradschin, sächsisches und böhmisches Silber steckt im Petersdom in Rom. Das kaiserliche Bergregal – die Vergabe von Bodenschätzen an die Landherren und den Klerus – führte zu wachsenden Spannungen. Denn Bischöfe und Markgrafen konkurrierten um die ergiebigsten Gruben, der Kaiser musste entscheiden.

Natürlich war auch der Kaiser in Prag (später Wien) an den Einnahmen aus dem Silberbergbau beteiligt. Weil es in Europa nur sehr wenige Goldminen gab, war der metallische Reichtum des Mittelalters und der Neuzeit vor allem auf Silber aus Sachsen, Tirol und von den Eidgenossen gegründet.

Silberbarone bejubeln Luther

So wundert es nicht, dass der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise und etwa später die Grafen Schlick in Böhmen den Auftritt Luthers zum Anlass nahmen, um die uralte Fehde mit dem römisch-katholischen Klerus endgültig zu entscheiden. Im Zwickauer und Freiberger Revier war die Reformation besonders erfolgreich, denn dort litten die Bergleute besonders heftig unter den Zwangsabgaben an mehrere Herren: Landesherr, Adel, Bischof und Rom.

So begann der Dreißigjährige Krieg als Aufstand der evangelischen Silberbarone in Böhmen gegen den katholischen Kaiser in Prag. Verschärft wurde der Kampf durch die Schwemme von Gold und Silber aus den Minen Südamerikas, das durch die Karavellen der Spanier und Portugiesen nach Europa geschifft wurde – beides katholische Mächte und eng mit dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation verbunden.

Wer Metall hatte, hatte Geld, hatte die Macht

Reformation und Gegenreformation – vor allem in Böhmen – sind eng mit dem Silberbergbau verbunden. Denn wer die Gruben regierte, bekam Geld in die Kassen. Silber und Silbermünzen lösten das älteste Kapital der Geschichte ab: Sie wurden wertvoller sogar als Ackerland und Weide. So stand der Bergbau an der Wiege des Kapitalismus und der industriellen Revolution.

Das böhmische Silber wurde berühmt. Die Münzen der Grafen Schlick aus Sankt Joachimsthal gaben dem Thaler – oder Taler – seinen Namen. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde er in ganz Europe als harte Währung geschätzt – aufgrund seines hohen Silbergehalts.

Als sich die 13 Kolonien in Nordamerika von der englischen Besatzung freimachten, suchten sie eine eigene Währung, die sich vom Pfund, von der Mark oder dem Franken unterscheiden sollte. Sie übernahmen den Taler – umbenannt in Dollar – und machten ihn zur führenden Währung weltweit.

Das Ende des Silberbergbaus

Mit dem Dreißigjährigen Krieg und seinen Verwüstungen brach der Silberbergbau im Erzgebirge und Böhmen zusammen. Manche Dörfer versteckten sich vor der marodierende Soldateska Wallensteins in ehemalige Stollen, um der Brandschatzung, Vergewaltigung und Ermordung zu entkommen.

Als der Krieg vorbei war, herrschte im früheren Silberland die bitterste Armut. Viele Bergleute flohen deshalb im 18. Jahrhundert nach Übersee, nach Amerika, wo sie halfen, reiche Bergbaugebiete in den Appalachen aufzuspüren und zu entwickeln.

Andere Familien wandten sich gen Osten, folgten dem Ruf der russischen Zaren. Peter und Katharina, die beiden Großen im Kreml, warben säschische und böhmische Bergleute gezielt ab, um eigene Minen auszubeuten – im Donbass und im Ural.

1898 – das Jahr der Pechblende

Der Niedergang des Silbers wurde 1898 besiegelt, als das britische Pfund Sterling und der US-Dollar den Goldstandard einführten. Damit war das Silber als Münzmetall entwertet, die letzten Gruben im Erzgebirge schlossen ihre Schächte und Stollen.

1898 war aber auch das Jahr, in dem Henri Becquerel und Marie Curie in Paris an einem seltsamen Mineral forschten – an Pechblende aus Sankt Joachimsthal. Dieses pechschwarze, knollenartige Mineral hatten die Bergleute wagenweise aus den Silbergruben geholt – und auf Halde geworfen.

Für sie war es wertlos, weil es kein Metall enthielt, zumindest kein Edelmetall. Aber: Becquerel und Curie entdeckten daran die Radioaktivität. Später fand Marie Curie in der Pechblende neben dem Schwermetall Uran auch Spuren von Radium.

Uran war schon 1789 von dem Apotheker Martin Klaproth in Berlin aus Pechblende isoliert worden. Das Mineral stammte aus der Gegend von Johanngeorgenstadt, eine der jüngsten Bergstädte am Kamm des Erzgebirges – von böhmischen Bergleuten gegründet, die vor der Gegenreformation nach dem Dreißigjährigen Krieg ins protestantische Sachsen flohen. Klaproth versetzte das Erz mit Säure und erhitzte es. Das schwarze Pulver, das daraus entstand, nannte er Uranit.

Ein Erzräuber erfährt neue Ehren

Pechblende ist seitdem als Uranerz bekannt, und im Erzgebirge ist dieses Mineral besonders reichhaltig. Im Mittelalter zeigten seine schwarzglänzenden Knollen das Ende von Silbergängen an, weshalb es die Bergleute als Erzräuber verfluchten.

Mit der Entdeckung der Radioaktivität un der Zerfallsreihe des Urans – Marie Curie extrahierte ein Gramm Radium aus zwei Tonnen Joachimsthalter Pechblende – hob weltweit ein Radium Rush an, auch bekannt als drittes Berggeschrey. Radium und radioaktive Strahlen galten als neues Heilmittel in der Medizin, bis die Verstrahlung ihre ersten Todesopfer forderte – auch Marie Curie.

Nach den Gruben kamen die Bäder

In Schlema und in Sankt Joachimsthal entstanden weltbekannte Radonbäder, die zahlungskräftige Klientel anzogen. So wurde das Erzgebirge zum Zauberberg, die Gebäude der Sanatorien in Jachymov sind noch heute eindrucksvoll – trotz ihrer historischen Patina.

Das Edelgas Radon gehört ebenfalls zur Zerfallsreihe des Uran, das in der Pechblende – und anderen Uranmineralien – steckt. Wohl dosiert, erwies es sich als nützlich gegen Hautkrankheiten und andere Symptome, unter anderem nervöse Leiden. Im Erzgebirge kommt es gelöst in Bergquellen vor, die es aus der Pechblende aufnehmen.

Bis zum Zweiten Weltkrieg kamen die Kurgäste aus aller Welt. Karlsbad und Franzensbad auf der böhmischen Seite sind noch heute ein Begriff. Mittlerweile hat auch Schlema seinen Status als Bad und Heilquelle neu begründet.

Uran wird zum strategischen Sprengstoff

Mit dem Zweiten Weltkrieg wurde Uran zum strategischen Metall, weil es den Sprengstoff für die Atombombe gab. Unmittelbar nach Kriegsende kamen sowjetische Spezialisten ins Erzgebirge und nach Böhmen.

Dort begannen sie, die alten Erzhalden aus dem Mittelalter mit Geigerzählern abzusuchen. Sie fanden Pechblende mit mehr als zwanzig Prozent Urananteil. Damals verfügten die Sowjets kaum über eigene Ressourcen. Die Uranerze aus dem belgischen Kongo hatten sich die Amerikaner unter den Nagel gerissen, die obendrein in Colorado und in Kanada über große Urangruben verfügten.

Stalins einzige Chance

So war die Pechblende aus dem Erzgebirge Stalins einzige Chance, im Rennen um die atomare Aufrüstung mitzuhalten. Aus diesem Grunde wurde unmittelbar nach dem Krieg die Sowjetische Aktiengesellschaft SAG Wismut gegründet, um Uran für sowjetische Atommeiler und Atombomben aus der Erde zu holen, aufzubereiten und nach Osten zu karren. Auch auf der böhmischen Seite wurde Uran abgebaut.

Die Bedingungen im Uranbergbau ähnelten zunächst den Schilderungen aus dem Mittelalter. Mit Spitzhacke, Schlägel, Eisen und Karbidlampe gingen die Bergleute wie Maulwürfe untertage. Tödliche Unfälle, gefährliche Verletzungen und Verstrahlung mit Lungenkrebs oder Leukämie waren die Folge.

Berüchtigte Straflager in Jachymov

Auf der tschechischen Seite entstanden berüchtigte Straflager, in denen politische und andere Häftlinge nach dem Vorbild des sowjetischen Gulag-Systems ausgebeutet, ausgezehrt und umgebracht wurden. Auf der sächsischen Seite türmten viele der zwangsweise eingewiesenen Bergleute nach Bayern, oder kamen in anderen Erwerbszweigen unter. Erst gegen Ende der 1950er Jahre wurde der Uranbergbau bei der Wismut professionalisiert und modernisiert.

Bis zur Wiedervereinigung holte die Wismut rund 220.000 Tonnen Uran aus dem Erzgebirge und aus Tagebauen in Thüringen – als Reparation für die Sowjetunion. Erst 1990 ging dieses barbarische Kapitel der Nachkriegsgeschichte zu Ende.

Zu diesem Zeitpunkt war das Erzgebirge hochgradig verstrahlt, durch aggressive Säuren und Arsen verseucht und vielerorts eine Bergbauwüste. Unzählige Bergleute litten an Staublunge, Rheuma und Krebs, hervorgerufen durch die radioaktiven Stäube, Mineralien und Wässer in den Gruben.

Lesen wie aus einem alten Buch

Dreißig Jahre später weisen nur einige Museen oder Markierungen in der Landschaft auf den Uranbergbau hin. Die bewegte Geschichte des Erzgebirges – Kruzne Hory auf Tschechisch – lässt sich dennoch überall in dieser Region lesen wie aus einem alten Buch.

Heute sind die Schächte, Halden und Absetzbecken verschwunden. Die Hügel sind bewaldet und grün, mit herrlichen Schluchten und Gewässern. Die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen ist offen, frei passierbar. Die Unesco hat beide Seiten des Erzgebirges – in Sachsen und Böhmen – als historische Montanregion zum Weltkulturerbe erhoben.

Lust auf mehr? Dann hören Sie rein (in englischer Sprache):
Podcast: Traveling To The Erzgebirge With Eglund (23:55 min.)

Website von Tea, Toast & Trivia

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H.S. Eglund
Sonntag, 10. April 2022

Zum Tod von Abraham Lincoln: O Captain! My Captain!

Als Walt Whitman die Nachricht erhielt, dass Präsident Lincoln ermordet worden war, erklärte er den 14. April zu seinem persönlichen Gedenktag – eine Erinnerung, angeregt durch den Bücherbaum.

Bücherbäume sind eine spannende Erfindung. Man geht hin, eigentlich schleicht man sich an: Mal sehen, welches Gold Nugget heute im Körbchen liegt. Und siehe da, eine Monografie über Abraham Lincoln, erschienen in der DDR.

Atemlos lesen wir den Autor: Jürgen Kuczynski (1904-1997), der Altmeister der Wirtschaftsgeschichte im Osten Deutschlands. Kuczynskis weitsichtige Gedanken in Dialog mit meinem Urenkel bekamen beinahe prophetische Bedeutung für die politische Wende Ende der 1980er.

Nun also Kuczynski über Old Abe, und dazu muss man wissen, dass Kuczynski als junger Mann Mitte der 1920er Jahre in den USA studierte. Damals, vor fast hundert Jahren, lag der amerikanische Bürgerkrieg, lag das Ende der Sklaverei in den Südstaaten und in den loyalen Border States gerade sieben Jahrzehnte zurück.

Material von Sandburg, Marx und Engels

Kuczynski nutzte Material von Carl Sandburg (1878-1967), vor allem dessen einzigartige, mehrbändige Biografie über Lincoln (der übrigens der erste republikanische Präsident der US-Geschichte war). Er bediente sich im Briefwechsel von Karl Marx und Friedrich Engels, die Zeitzeugen jener dramatischen Jahre waren und große Hoffnungen in den amerikanischen Aufbruch setzten, in den enormen Fortschritt in der Demokratisierung, den die Abschaffung der Sklaverei bedeutete.

Er stützte sich auch auf Berichte der sächsischen Gesandtschaft in den Vereinigten Staaten, denn der Dresdener Hof, damals noch unabhängiges Königreich unter der Ägide des preußischen Kaisers, hatte eigene Diplomaten drüben – vor allem wegen der großen, deutschstämmigen Gemeinde in Übersee.

Wer Karl May gelesen hat, weiß Bescheid. Ich sage nur: Old Shatterhand und Gunstick Uncle, der Präriepoet. Diese Unterlagen fand Kuczynski in Archiven in Dresden.

Der Zusammenhalt der Union

Zurück zu Old Abe, der sich mit seiner ausgeglichenen und mit den Südstaaten zunächst auf Ausgleich bedachten Politik großes Ansehen erwarb. Immer wieder argumentierte Lincoln für den Zusammenhalt der Union, stellte die Frage der Sklaverei zunächst hintenan. Erst als die Südstaaten aus dem Verbund ausscherten, die Sezession erklärten und das Feuer auf Fort Sumter eröffneten, revidierte Lincoln seine Zurückhaltung.

Zunehmend erkannte er, dass die Union nur erhalten werden konnte, wenn die Sklaverei fällt – ohne Einschränkung. Obwohl ihn das politische Establishment ablehnte – als Anwalt aus dem Mittleren Westen war er den Börsianern, Bankern und Industriellen in New York und Pennsylvania suspekt –, errang er 1865 seinen zweiten Wahlsieg als Präsident.

Im Laufe des Bürgerkrieges, der seine gesamte erste Amtszeit ausgefüllt hatte, war er vom nahezu unbekannten Westler zum echten Volkspräsidenten aufgestiegen. Kaum hatte er seine zweite Amtszeit angetreten – die er großmütig dem Frieden mit den geschlagenen Südstaaten widmen wollte –, traf ihn am 14. April 1865 die heimtückische Kugel seines Mörders.

Ein Meisterwerk voller Einblicke

Kuczynskis Monografie ist ein Meisterwerk, weil es einen detaillierten Einblick in die Vereinigten Staaten zwischen 1830 und 1865 gibt: in die Ströme der Zuwanderer, in die neuen Staaten im Westen, in die Konflikte mit Mexiko und den Monarchien Europas, in seine wirtschaftliche Entwicklung und die Hemmnisse, die sich aus der Sklaverei ergaben.

Der erste Präsident der USA, George Washington (1732-1799), war in seiner Zeit einer der größten Besitzer von Plantagen in Virginia gewesen, der selbst viele Sklaven besaß. Sklaven waren in den ersten Jahrzehnten die einzig verfügbare Quelle für billige Arbeitskraft, vor allem in der Landwirtschaft.

Ab 1830 wurden die USA jedoch zunehmend durch die Arbeit freier Bauern (Farmer) im Westen sowie durch die rasch aufstrebende Industrie geprägt. Im Mittelwesten griffen kundige Farmer zu moderner Landtechnik, um die großen Schläge zu bewirtschaften. Im Süden hingegen wurde Handarbeit konserviert, weil die Sklaven als billig galten und ungebildet blieben.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verdrängten die USA die französische Industrie, nur übertroffen von der Warenproduktion in Großbritannien und Deutschland. Die Nordstaaten hatten die Südstaaten in der wirtschaftlichen Entwicklung klar überholt: der Kapitalismus und das Maschinenzeitalter drohten, den beschaulichen Süden zu überrollen. Der Anlass, an dem sich der Konflikt schließlich zum Krieg entzündete, war die Sklaverei – die in den nördlichen und westlichen Staaten abgeschafft worden war.

Man möchte seufzen

Kuczynskis Darstellung ist darüber hinaus eine hervorragende Quelle, um die inneren Befindlichkeiten der amerikanischen Politik in den Bundesstaaten und in Washington, D.C. zu verstehen. Er zeigt, wie Lincoln seine begrenzten Möglichkeiten geschickt nutzte, um die Union nicht nur zu retten – sondern zu stärken, indem er das Land modernisierte.

Angesichts von Leuten wie George W. Bush, Donald Trump oder auch der blutarme Joe Biden möchte man seufzen, wie wenig Esprit und Wille zur politischen Gestaltung im modernen Amerika geblieben zu sein scheint. Andererseits ist es ernüchternd zu lesen, dass schon Old Abe gegen Parteiapparate und Bürokraten ankämpfte, wie er Kompromisse schloss und seine Erfolge mit großer persönlicher Anstrengung regelrecht durchboxte.

Ein unerhört modernes Buch

So gesehen, ist es ein unerhört modernes Buch. Denn es beweist einmal mehr, dass nichts die politische Veränderung aufzuhalten vermag, wenn die Zeit dafür gekommen ist. In seinen Zielen wurde Lincoln seinerzeit ganz maßgeblich von deutschen Einwanderern unterstützt, die nach der Niederschlagung der 1848er Revolution durch preußische Soldaten über den Großen Teich geflüchtet waren. Sie siedelten sich in Illinois an, in Iowa, in Wisconsin und in anderen Staaten des Mittelwestens, wo sie großen Einfluss erlangten.

In diesen turbulenten Zeiten, die wir durchleben – nicht weniger turbulent als Lincolns Tage –, geprägt durch Coronakrise, Ukrainekrieg, Klimakrise und soziale Herausforderungen, war die Lektüre des Bändchen wie ein großer Schluck aus der Pulle für Mut.

Ein großer Schluck aus der Mutpulle

Lincoln steht für den Wandel, steht für die Menschen, die sich entscheiden und bereit sind, dafür etwas zu riskieren. Es war Amerikas beste Stunde, und zugleich seine schwierigste. Hölderlins prophetische Worte tauchen aus den Zeilen auf: Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.

Und Lincolns Tod war Amerikas größter Verlust, höchstens zu vergleichen mit dem frühen Tod von Franklin D. Roosevelt kurz vorm Ende des Zweiten Weltkriegs. So wollen wir es halten mit Walt Whitmann (1819-1892), der Old Abe sein berühmtestes Gedicht widmete:

O Captain! my Captain! our fearful trip is done,
The ship has weather’d every rack, the prize we sought is won,
The port is near, the bells I hear, the people all exulting,
While follow eyes the steady keel, the vessel grim and daring;
But O heart! heart! heart!
O the bleeding drops of red,
Where on the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.

O Captain! my Captain! rise up and hear the bells;
Rise up—for you the flag is flung—for you the bugle trills,
For you bouquets and ribbon’d wreaths—for you the shores a-crowding,
For you they call, the swaying mass, their eager faces turning;
Here Captain! dear father!
This arm beneath your head!
It is some dream that on the deck,
You’ve fallen cold and dead.

My Captain does not answer, his lips are pale and still,
My father does not feel my arm, he has no pulse nor will,
The ship is anchor’d safe and sound, its voyage closed and done,
From fearful trip the victor ship comes in with object won;
Exult O shores, and ring O bells!
But I with mournful tread,
Walk the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.

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HSE
Sonntag, 24. April 2022

Nomaden von Laetoli – im Urteil des Publikums

Der neue Roman von H.S. Eglund findet bei Leserinnen und Lesern unterschiedliche Resonanz. Das ist der Sinn von Literatur – denn jeder liest vor seinem geistigen Auge eine andere Geschichte. Die meisten Rezensenten finden das Buch lesenswert, auch wenn es manchmal die Erwartungen nicht erfüllt. Eigentlich ein schönes Kompliment, sonst wäre es ja langweilig.

Der Roman Nomaden von Laetoli hat in den Medien vielfaches Echo erzeugt. Neben Interviews und kurzen Rezensionen in der Presse haben sich vor allem Buchbloggerinnen und Buchblogger damit befasst. Zudem haben Verlag und Autor auf Lovelybooks eine Leserunde gestartet.

Fazit: Der Roman und seine Handlung lösen bei den Leserinnen und Lesern sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Besonders geschätzt wird er, wenn sich die Leser ohne Erwartungen auf die Reise Martin Andersons durch Ostafrika einlassen.

Schwierigkeiten haben manche Leserinnen oder Leser, die einen Abenteuerroman nach Vorbild von Karl May erwarten. Oder eine archäologische Detektivstory, die am Ende die Frage klärt, ob Aaron Miller die frühzeitlichen Menschen wirklich gesehen hat.

Nicht einfach, den Überblick zu behalten

Streckenweise sei es auch nicht einfach, den Überblick in der Handlung des Romans zu behalten, der in drei Teilen aus Tansania, Äthiopien und Sansibar erzählt. Bei der Durchsicht der Rezensionen fällt auf, dass Frauen offenbar mit weniger Vorurteilen an die Lektüre gehen, sich mehr durch die Handlung tragen lassen.

Männliche Leser sind eher vom Erkenntnisinteresse getrieben. Sie erwarten Antworten und logische Erzählmuster. So setzt sich also jeder Archetyp auf eigene Weise mit Martin Andersons Reise zu sich selbst auseinander, mit dem Osten Afrikas, der sich Logik und Erwartungen weitgehend entzieht.

Nichts für Schnellleser

Offenbar ist der Roman nichts für Schnellleser oder für kurzweilige Unterhaltung mit exotischem Flair. Durchweg alle Rezensionen zeugen von Belesenheit und hohem Interesse an der Literatur und am Thema, das ist eine schöne Erfahrung.

Sogar diejenigen Rezensenten, die Mühe hatten, den vielfältigen Strängen und Fakten des Romans zu folgen, haben sich offenbar durchgekämpft. Hier einige Auszüge:

Nicole Plath aus Ensdorf schrieb auf ihrem Blog:

Eine spannende Geschichte nimmt den Leser mit nach Afrika. Autor H.S. Eglund beschreibt Landschaften und Gegebenheiten so, dass man als Leser das Gefühl hat, selbst dabei gewesen zu sein. Es passieren so viele interessante Ereignisse, dass eine Rezension ohne Spoilern schwer möglich ist.

Im Buch begleitet man Martin Anderson auf seinen Nachforschungen, und, soviel kann ich ohne zu spoilern verraten, er wird interessante Theorien und Entdeckungen zu den ersten Menschen erfahren. Durch einen guten Schreibstil ist das Buch schnell zu Ende gelesen. Die Geschichte hat bei mir ein gutes Kopfkino ausgelöst und auch zum Nachdenken angeregt.

Meike Jashrin notierte auf Nicht ohne Buch:

H.S. Eglund hat seinen Roman in drei Teile geteilt, die die Wegpunkte Andersons in Afrika markieren: Laetoli, Aksum, Jambiani. Sein erster Weg führt ihn nach Laetoli, wo er auf Miller trifft. Die Geschichte entwickelt sich langsam und der Ton bleibt durchweg sehr ruhig, trotz der teils dramatischen Ereignisse.

Ein Spannungsbogen wird für mich in keinem der drei Teile aufgebaut. Daher habe ich für meine Verhältnisse auch sehr lange für die Lektüre des Buches gebraucht. Es fiel mir nicht schwer, regelmäßig Pausen zu machen. Dennoch: Die Geschichte hat ihren ganz eigenen Reiz und so musste ich trotzdem immer weiterlesen.

Die Stärke des Buches liegt meiner Meinung nach ganz klar bei den Landschafts- und Reisebeschreibungen, die mir Afrika buchstäblich vor Augen geführt haben. Auch die teils philosophischen Fragen und Diskussionen waren interessant. An der ein oder anderen Stelle hätte ich mich allerdings Erklärungsansätze aus der aktuellen Forschung gewünscht. So wurden viele Fragen in den Raum geworfen, aber nur wenige mögliche Erklärungen geliefert.

„Warum wanderte der frühe Mensch aus Ostafrika aus? Wohin brach er auf?“ (S.34)

Ebenso hat mir das kritische Hinterfragen akademischer Lehransätze gefallen. Sind unsere Methoden wirklich optimal, um stets bestmögliche Ergebnisse zu erzielen?

„Wir sprechen von Wissenschaft, nicht von Religion.“ „Der Glaube an die Objektivität ist das Dogma der Wissenschaft, ist ihre verdammte Religion. […] Aus reiner Vernunft ist noch nie Vernünftiges entstanden, aus analytischem Verständnis noch nie die Verständigung zwischen Menschen.“ (S.71)

Insgesamt für mich ein Buch, auf das man sich einlassen muss, das kein spannendes Abenteuer im Sinne eines Abenteuerromans bietet, dafür aber mit spannenden und teils hochaktuellen Fragen punkten kann. Ein Buch, das Mitdenken erfordert und zumindest mich verleitet hat, den ein oder anderen Begriff oder Fakt zu googeln und genauer nachzulesen.

So war mir zum Beispiel der Zweig der Ethnobotanik bislang nie irgendwo begegnet. Wer also Lust auf eine Reise nach Afrika hat und der Philosophie nicht abgeneigt ist, der wird mit Nomaden von Laetoli sicher eine interessante Lektüre finden.

Stephanie Hermann aus Hamburg schätzte in ihrem Blog ein:

Das Buch klang sehr spannend und das war es dann anfangs auch, aber irgendwann habe ich irgendwie den Überblick verloren und es waren mir auch zu viele Details und die Handlung dann nicht mehr fesselnd genug. Es ist viel mehr eine Mischung aus Reisebeschreibung, philosophischen Diskussionen und wissenschaftlichen und kritischen Passagen.

Das Buch war somit ganz anders als erwartet und ich finde der Klappentext ist schon sehr irreführend. Trotzdem hat das Buch durchaus auch seine positiven Seiten, man muss nur einfach wissen was man nicht bekommt – nämlich einen spannenden Roman. Dieses Buch zwingt einen zum Nachdenken und man legt es immer wieder weg, wenn man sich aber darauf einlässt bekommt man Interessante Denkanstöße.

Weitere kritische Stimmen finden Sie in der Leserunde des Autors auf Lovelybooks.

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H.S. Eglund
Samstag, 30. April 2022

Ars Electronica Center – das Ende aller Horizonte

Noch ein Museum? Wissenschaft zum Anfassen? Mitnichten. In Linz gehen Kunst und Forschung eine kreative Symbiose ein – und eröffnen völlig neue Wege, grenzenlos.

Linz ist die Hauptstadt von Oberösterreich, und als solche sehr ehrwürdig. Die Altstadt ist eine hübsche Puppenstube, auf dem Hauptplatz paradieren Blaskapellen in historischen Uniformen: Landsknechte aus dem späten Mittelalter, feldgraue Soldaten der k.u.k. Monarchie, exotische Gebirgsjäger, wie den Filmen von Luis Trenker entsprungen.

Fesche Jungs, gell?!

Fesch sehen sie aus, diese Jungs, gell?! Und unglaublich blöde. Am Pult steht ein katholischer Greis in Soutane, schwadroniert über Glauben und Pflichten, über Wehrdienst in bedrohlichen Zeiten. Alle schwitzen, es ist der erste warme Tag des Frühlings.

Das war Linz, früher, als es noch den Kaiser in Wien gab. Zum Glück ist das längst vorbei, nur manchmal zeigt sich noch die katholische Verstaubtheit. Warum auch nicht, nirgends ist der Mensch frei von seiner Vergangenheit. Niemand bleibt stehen, nicht mal die Touristen. Zu absurd ist die Zeremonie.

Jenseits vom Mummenschanz

Vom Hauptplatz sind es nur wenige Schritte zur Donau, wo der Wind die Hitze vertreibt. Hier lässt sich freier atmen, der Mummenschanz liegt hinter uns. Vor uns, auf der anderen Seite, thront der Glaspalast des Ars Electronica Centers.

Schon am Vorabend war er aufgefallen, als seine Fassade in den Farben der Ukraine erstrahlte, glitzernd reflektiert vom dunklen Fluss. Dieser Würfel markiert das andere Linz: Eine moderne, kreative Stadt, die viel mehr zu bieten hat als Historientheater.

Ars Electronica beschäftigt sich seit 1979 mit der Frage, wie Technik auf die Menschen, die Welt und ihre Zukunft wirkt. 1996 wurde das Museum der Zukunft eröffnet. 2009 wurde der zweigeschossige Bau aufgestockt und erweitert. 2019 wurden die Ausstellungen thematisch neu geordnet. Nun lautet die Leitidee: Compass – Navigating the Future.

Jedem Tierchen sein Pläsierchen

Jedem Tierchen sein Pläsierchen, Linz bietet beides: monarchistische Parade und moderne Kunst. Aber nicht Kunst im Sinne von Galerie oder Museum, wo ambitionierte Schinken hängen, wie bunte Perlen auf einer Kette. Wo sich die Besucher artig und mit gebührendem Abstand halten, leise tuschelnd.

Das Ars Electronica Center liefert künstlerische Perspektiven zum Zeitalter der Wissenschaft. Keine Kunst über Wissenschaft, über wissenschaftliche Themen, sondern eine Symbiose des kreativen und des logischen Denkens. Logik und Emotion – Logos und Eros – Ansprache aller Sinne – kommen auf ihre Kosten, daraus entsteht wirklich Neues.

Die Ausstellungen und Exponate fordern auf: Zum Anfassen, zur Teilnahme, zur eigenen Kreation von etwas, was zwischen Science und The Arts liegt. Die Grenzen des Denkens und der Sinne scheinen sich aufzulösen, bekannte Horizonte verschwinden – in den unendlichen Weiten des Weltalls, im Nichts, in der bizarren Vielfalt unterm Mikroskop.

Ins Weltall und ins Innere von uns selbst

Künstlicher Intelligenz beim Denken zuschauen, selbstfahrende Autos trainieren, Roboter programmieren und vermenschlichen. Bisher unmögliche Strukturen dreidimensional drucken oder die eigene DNS mit der Genschere bearbeiten. Das sind Beispiele, wie das Center moderne Themen aufbereitet, anbietet und zum Mitmachen inspiriert.

Interaktive Stationen, Kunstwerke, Forschungsprojekte, Großprojektionen und Labore: Das Ars Electronica Center erlaubt vielfältige Ausflüge in die Künstliche Intelligenz und Neurowissenschaften, Robotik und autonome Mobilität, in Genetik und Biotechnologie, ins Universum und ins Innere von uns selbst. Da geht man nicht einfach durch, das braucht Zeit, ausreichend Zeit. Ein Tag ist zu wenig, bestimmt.

So gibt es beispielsweise die Ars Electronica Labs, in denen die Besucherinnen und Besucher selbst experimentieren können: mit 3D-Druck, mit künstlicher Intelligenz, mit Gensequenzen oder Licht. Ein spezieller Abschnitt befasst sich mit Musik und der Brücke, die sie zur künstlichen Intelligenz schlagen kann – und schlägt. Für Kinder und Jugendliche wurden Labore eingerichtet, wo Wissenschaft zum Spielfeld wird, wo analoge und digitale Entdeckungen lauern.

Vom Keller bis unters Dach

Dass draußen die Sonne lockt, ist schnell vergessen. Denn die Ideen und Exponate regen intensiv dazu an, das weitläufige Gebäude von den unteren Etagen bis unters Dach zu erkunden.

Den Abschluss bildet eine Präsentation über Zeit und Raum, über Galaxien und schwarze Löcher. Sie findet im Deep Space statt, dem Kinosaal für dreidimensionale Dokumentationen. Keine Sitzreihen. Alle hocken auf dem Boden, mit dunklen Brillen für die räumlichen Effekte, mittenmang kreischende Kinder.

Erfrischung in der Altstadt

So spannend kann Linz sein. Die wohlverdiente Erfrischung nach stundenlangen Entdeckungen im Ars Electronica Center gibt es hinterher – natürlich in der Altstadt. Der Pope und die Kasper sind verschwunden, Gott sei Dank!

Erst jetzt kann man ungestört bewundern, wie schön diese alte Stadt eigentlich ist. Und wie kühl der Drink im Café Traxlmayer.

Website des Ars Electronica Center in Linz

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© H.S. Eglund
  • Die Führung erfordert viel Sachverstand: Historie, Technik, Zeitgeschichte, Kultur und Kenntnisse der Mineralien. © H.S. Eglund
  • Die Führungen finden regelmäßig statt. Sie dauern etwa drei Stunden und sind gut zu Fuß zu bewältigen. © H.S. Eglund
  • Letzte Einweisung am Eingang zum Erbstollen. © H.S. Eglund
  • Der Bergführer führt durch eine gemauerte Kreuzung. © H.S. Eglund
  • Die eingeschlagene Jahreszahl verdeutlicht den Vortrieb des Erbstollns. Es wurde bis 1871 gegraben - das Jahr der Gründung des Kaiserreichs. © H.S. Eglund
  • Die Natur lässt am Stollenfirst Tropfsteine entstehen. © H.S. Eglund
  • Malerische Zeichnung im Gestein: Der Bergmann konnte die Erzgänge lesen wie ein Buch. © H.S. Eglund
  • Der rote Granit ist typisch für die Region. © H.S. Eglund
  • Hier haben sich im Laufe der Zeit kleine, schwarze Manganknollen ausgebildet. © H.S. Eglund
  • Man erkennt den Wasserstand im Erbstollen, der zur Entwässerung der Gruben diente. © H.S. Eglund
  • Galenit - Bleiglanz - und Zinklende waren die bevorzugten Mineralien, die im Schwarfenberger Revier abgebaut wurden. © H.S. Eglund
  • Dieser Markstein zeigt einen Besitzerwechsel an. Der neue Eigentümer setzte den Vortrieb fort. © H.S. Eglund
  • Untertage wirkt der Berg wie eine märchenhafte Gruft. © H.S. Eglund
  • Dieser Nebenstollen reicht tiefer in den Berg, dort steht das Wasser brusthoch. © H.S. Eglund
  • Erzhaltige Formation am Stollenfirst. © H.S. Eglund
  • Das nur noch schwach silberhaltige Erz lohnt den Abbau nicht mehr. © H.S. Eglund
  • Die Berge sind von einem Labyrinth durchzogen, das der Bergbau hinterließ. © H.S. Eglund
  • Blick aufwärts in den Hoffnungsschacht. Dort endet der Erbstollen. © H.S. Eglund
  • Sieben Zwerge auf historischer Grubentour. Zwerg Eglund macht Fotos und ist deshalb nicht im Bild. © H.S. Eglund
  • Aufstieg zum Tageslicht mit dem Zeichen der Bergleute: Bergeisen und Schlägel. © H.S. Eglund
  • Liebevoll restauriert: das ehemalige Huthaus der Silbergrube. Hier tritt der Hoffnungsschacht zutage. © H.S. Eglund
  • Gesteinsstufe mit dunkel erkennbarem Silbergang und Fundstücke aus dem Bergbau. © H.S. Eglund
  • Aus der Sammlung des kleinen, sehr empfehlenswerten Museums. © H.S. Eglund
  • Die Grubengeleuchte des Bergmanns brachten Lichts in die Finsternis der Stollen. Am Anfang eine kleine Talgflamme, später ein Karbidlicht und schließlich elektrische Beleuchtung. © H.S. Eglund
  • Das kleine Grubenmuseum zeigt eine Sammlung interessanter Mineralien. © H.S. Eglund
  • Die Bergbauregion im Erzgebirge und in Böhmen gehört mittlerweile zum Weltkulturerbe der Unesco. © H.S. Eglund
Samstag, 26. März 2022

Scharfenberg: Schatzsuche unter der Erde

Der Silberbergbau in Sachsen ist mindestens 800 Jahre alt. Erstmals werden die Gruben bei Scharfenberg im Meißner Land im März 1222 erwähnt, in kaiserlicher Depesche. Grund genug für Eglund, als gelber Zwerg selber in den Stollen einzufahren – zu einer faszinierenden Zeitreise.

Am 23. März 1222 entschied Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation einen merkwürdigen Streit: Der Bischof von Meißen und der Markgraf stritten um die Silbergruben bei Scharfenberg, einer kleinen Stadt im Bistum Meißen. Der Streit berührte eine grundsätzliche Frage des mittelalterlichen Bergbaus: Wem gehörten die Gruben? Dem Kirchenherr, also Rom? Oder dem Gutsherren, der weltlichen Macht?

Das Bergregal entmachtete die Grundherren

Damals verfügte der Kaiser, wer die Gruben ausbeuten durfte. Im sogenannten Bergregal entschied der Kaiser zugunsten des Bischofs, der mit dem Silber den Bau des Meißner Doms finanzierte, eines der gewaltigsten Bauwerke seiner Zeit. Wenig später, 1232, sprach der Kaiser dem Landesfürsten eigene Gruben zu, um die Interessen auszugleichen.

Das Bergregal sprach dem Kaiser das Privileg zu, über den Abbau kostbarer Erze zu verfügen, unabhängig vom Landeigentum der Territorialfürsten. Er konnte es an Bischöfe oder Könige abgeben, war nicht gebunden. Das Bergregal erlaubte zudem die Gründung freier Siedlungen wie Freiberg, Annaberg, Schneeberg oder Sankt Joachimsthal auf der böhmischen Seite.

Ein Regal für Silbermünzen

In ihren regierte das Bergrecht, nicht die Rechtsprechung des Herzogs. Der Vorteil: Mit dem Bergbau entwickelten sich das Handwerk und der Geldverkehr, denn neben dem Bergregal verlieh der Kaiser auch das Münzregal.

Bekannt sind die Zwickauer Silbermünze der Brüder Martin und Niklas Römer aus dem späten 14. Jahrhundert und die Münze der Grafen Schlick im böhmischen Joachimsthal Anfang des 15. Jahrhundert. Der Joachimsthaler ging als Silbermünze zunächst in Europa durch die Hände, wurde als harte Währung sehr geschätzt. So wurde er zum legendären Taler und später zum Dollar, der Währung der unabhängigen Kolonien in Neu-England.

Beginn im zehnten Jahrhundert

Es wird vermutet, dass der sächsische Bergbau einige hundert Jahre älter zurückreicht als die Urkunde von Kaiser Friedrich II. Vermutet werden die Anfänge im zehnten und elften Jahrhundert. Zunächst wurde Zinn aus den Bächen und Flussläufen der Berge an der Elbe und ihren Zuflüssen gewaschen, man spricht von Seifen. Wo die Erzgänge aus dem Ufer traten, gingen die Seifner in den Berg.

Seitdem weckten Zinn, Kupfer, Blei, Kobalt und vor allem Silber die Gier der Mächtigen. Als Kaiser Friedrich für den Bischof entschied, setzte er die Rechte des Markgrafs von Meißen zurück. Er war der eigentliche Grundherr der Ländereien an der Elbe, doch er musste sich dem Richtspruch beugen. Das Bergregal hebelte die weltliche Macht des Fürsten aus, und dieser Konflikt sollte für die kommenden 500 Jahre auf der deutschen Geschichte lasten wie ein Fluch.

Ein Streit für 500 Jahre

Denn dieser Widerspruch – die Teilung der Macht und damit doppelte Bürden für die Bauern, Bergleute und Kaufleute – führte zum Bauernkrieg und zur Reformation. Erst mit dem Dreißigjährigen Krieg wurde die Macht der Bischöfe und Klöster gebrochen, die Machtfrage in deutschen Landen zugunsten der Kurfürsten entschieden.

Da war die frühe Phase des Silberbergbaus bereits Geschichte. Denn eine Schwemme von Silber und Gold aus den spanischen und portugiesischen Kolonien in der Neuen Welt ließ die Preise in Europa einbrechen. Der Aufwand lohnte nicht mehr.

Neue Blüte nach den Napoleonischen Kriegen

Bis ins 19. Jahrhundert, als die Silbergruben im Erzgebirge eine neue Blüte erlebten. Nun stand das industrielle Zeitalter vor der Tür. Napoleon hatte die letzten Reste klerikaler Macht beseitigt und den modernen Staat geschaffen. Die neue Zeit mit ihren Dampfmaschinen und Erfindungen hungerte nach Metallen: Eisen und Stahl, Silber, Zinn und Zink, Blei und Kobalt, Mangan und Chrom.

Die Schächte und Stollen aus dieser Zeit sind noch gut erhalten. Manche werden von Traditionsvereinen und der Bergaufsicht wieder freigelegt. Ganz alte Gruben aus dem zwölften oder 13. Jahrhundert erkennt man meist nur an den Pingen (Bergbrüchen), die sie an den bewaldeten Hängen hinterließen. Die alten Stollen sind verschlammt, versandet, eingestürzt, längst ist das Holz der Türstöcke und zur Sicherung der Mundlöcher verrottet.

Ein Erbstollen aus dem Jahr 1817

In Scharfenberg wurde vor wenigen Jahren ein Erbstollen von 1817 freigeräumt, der zur Entwässerung der Grube Güte Gottes diente. Er wurde instandgesetzt und bergtechnisch gesichert, um die Entwässerung der alten Hohlräume aus dem Bergbau zu gewährleisten. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie unkontrolliert einsacken oder das Wasser neue Hohlräume in den Berg wäscht.

Start und Ende der Begehung des König-David-Erbstollens Mitte März 2022 war das ehemalige Huthaus, das Verwaltungsgebäude der Grube. Sie war bis 1898 in Betrieb – bis zum endgültigen Aus der Silberförderung in diesem Gebiet.

Das Huthaus mit dem Hoffnungsschacht

Der Scharfenberger Verein, der mit viel Engagement den Silberbergbau aufleben lässt, und die Eigentümer des Geländes haben das Huthaus zu einem kleinen Museum ausgebaut. Hier endet der Hoffnungsschacht, der zur Entlüftung und als Förderschacht für die Grube diente.

Zünftig mit Gummijacke, Gummistiefeln, Plastikhelm und Grubengeleucht ausgestattet, machte sich eine Gruppe Interessierter auf, wie gelbe Zwerge auf dem Weg unter die Erde. Geführt wurde sie von einem kundigen Mitglied des Vereins, der viel Wissenswertes über die silberne Vergangenheit von Scharfenberg erzählte.

Viele alte Häuser von damals

In Scharfenberg stehen noch viele alte Gebäude aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die als Steigerhäuser, als Schmiede oder Bethaus zur Grube gehörten. Heute werden sie meistenteils als Wohnhäuser genutzt, wie auch das Huthaus der Grube, in dem der Hoffnungsschacht zur Oberfläche aufsteigt.

Das Mundloch des König-David-Erbstollns befindet sich etwas oberhalb der Elbe, fast unmittelbar am Ufer, nur getrennt durch die Bundesstraße, die hier dem Flusslauf hautnah folgt. Er wurde ab 1817 vorgetrieben, um die erzhaltigen Gruben zu entwässern und das Erz aus der Grube zu fördern – über spezielle Grubenwagen, Hunte genannt.

Dreck, Enge, Kälte – schwere Arbeit untertage

Unter der Erde bekommt man einen Eindruck, wie schwer die Arbeit der Bergleute war, und wie gefährlich: Dreck, Staub, Enge, Dunkelheit, Kälte und natürlich das drohende Deckgebirge machten die Arbeit untertage zur Schinderei. Hier wurde das Erz mit der Hand, mit Bergeisen und Schlägel gebrochen, und selten wurden die Bergleute älter als vierzig Jahre.

Zwar gab es im Scharfenberger Revier kein radioaktives Uranerz (Pechblende) wie in Annaberg, Schneeberg und Joachimsthal (Jachymov). Dennoch litten und siechten die Bergleute an Staublunge, am Rheuma, an Knochenbrüchen oder starben bei Unfällen: Bergsturz, Wassereinbruch, matte Wetter durch mangelnde Belüftung.

Aufwändige Aufbereitung und Verhüttung

Das Erz wurde von Huntsknechten mittels Hunten aus dem Berg gekarrt und von Scheidejungs an der Scheidebank begutachtet. Mit kundigem Blick trennten sie das Reicherz von taubem Gestein.

Anschließend wurde das Erz im Pochwerk unmittelbar am Elbufer durch gewaltige, mit Eisen beschlagene Eichenstempel zerkleinert, zu Mehl zerstoßen, mit Wasser verschlämmt und im Absetzbecken mit Holzschiebern abgezogen. Danach wurde der Silberstaub nach Freiberg gebracht, um ihn zu rösten und zu Barren zu schmelzen.

Bleihaltige Minerale lieferten Silber

Weil die Erze sehr bleihaltig waren, litten schon die Scheidejungen an Vergiftungen, wurden nicht alt. Vor allem das Mineral Bleiglanz (Galenit) wurde abgebaut, das recht hohe Anteile von Silber aufwies. Die Gesteine der Region sind durch Gneise gekennzeichnet. Zudem findet man Manganspat, Edelspat, rötlichen Granit (Feldspat), Pyrite (Mineralien mit Eisen und Schwefel), Quarz und Glimmer, ebenso Kaolin.

Die Berge sind reich, bis heute. Durch den jahrhundertelangen Bergbau sie sind zerlöchert wie Schweizer Käse. Die Begehung des Erbstollens erwies zahlreiche Nebengänge, Stummelstollen und verschüttete Strecken, in denen früher offenbar Silbererz abgebaut wurde. Noch sind einzelne Erzgänge im Granit sichtbar.

Aufwand für den Bergbau wuchs

Tektonisch gehört das Scharfenberger Revier zum Freiberger Gebirge und dem Erzgebirge. Zu Beginn der Erzabbaus wurden Zinn und Silber sogar gediegen gefunden, unmittelbar in den Ufersedimenten der Bergbäche, faktisch unter der Rasennarbe.

Mit zunehmendem Abbau wuchs der Aufwand, um an die begehrten Erze zu kommen. Immer tiefer wurden die Schächte abgeteuft, bis weit unter den Spiegel des Grundwassers. Damit mussten die Schächte und Stollen künstlich entwässert werden, durch Erbstollen oder durch Hebeanlagen mit Haspeln und Eimern.

Viele hundert Kilometer Stollen

Die zunehmende Länge der Erzstollen – im Erzgebirge summieren sie sich auf hunderte Kilometer – machte die künstliche Belüftung erforderlich. So fungierte der König-David-Erbstollen zugleich als Luftröhre, um die Abluft der Bergleute und die Sprenggase aus dem Berg zu führen und Frischluft einzusaugen.

Im Dreißigjährigen Krieg, als der Bergbau aufgrund des Krieges am Boden lag, dienten die alten Schächte den Einheimischen als letzte Zuflucht. Wenn marodierende Horden das Land durchzogen, plündern, brandschatzend und mordend, versteckten sich ganze Dörfer in den dunklen Stollen.

Die hohe Kunst der Bergleute

Als der König-David-Erbstollen angelegt wurde, dämmerte bereits das 19. Jahrhundert. Noch hatte der Bergbau nicht das industrielle Ausmaß angenommen, weil es zwar das spröde Eisen gab. Aber die Herstellung von Stahl – durch die Beigabe von Kohle – kam erst auf. Auch Dampfmaschinen und Pumpentechnik standen noch am Anfang.

So bekommt man auch einen Eindruck, wie ein solcher Stollen alle drei Kilometer durch senkrechte Lichtschächte angebohrt und dann horizontal von zwei Seiten aus dem Fels geschlagen wurde. Die Markscheider, die den Vortrieb mit Lot und Kompass berechneten, waren wahre Meister.

Denn die einzelnen Stollenabschnitte trafen millimetergenau aufeinander. Zudem hat der Erbstollen über etliche hundert Meter eine exakt eingestellte Neigung, damit das Wasser frei abfließen kann, ohne dass die Sohle mit der Zeit verschlammt.

Das ganze Leben im Stollen

Der Aufwand war beträchtlich: Legionen von Bergleuten brachten ihr gesamtes Berufsleben in ein und dem selben Stollen zu, denn das harte Gestein erlaubte den Vortrieb stellenweise nur millimeterweise. Zwar erleichterte Schwarzpulver und später Dynamit die Arbeit, ihr Einsatz war aber von neuen Gefahren begleitet.

Teilweise wurden die Stollen durch Türstöcke und Stempel aus Holz abgesichert oder mit Ziegeln vermauert. Das Holz, das im feuchten Berg schnell faulte, musste alle sieben Jahr erneuert werden.

Das Ende des Miriquidi

Das ist der Grund, warum die Berge in alten Darstellungen – etwa bei Agricola – nahezu kahl erscheinen. Längst war der alte Urwald, der legendäre Miriquidi, für den Bergbau und die Siedlungen der Bergarbeiter gerodet und verschwunden.

Die heutigen Wälder sind spätere Aufforstungen, weil der Mangel an Bauholz im 15. und 16. Jahrhundert die Wirtschaftlichkeit der Gruben gefährdete. Zudem bekam jeder Bergmann eine bestimmte Menge Bauholz für seine Hütte zugesprochen – quasi als Mitgift. Vor allem arme Bauern aus Franken waren es, die dem Berggeschrey des Herzogs von Meißen folgten und das sächsische Bergland besiedelten.

Das Aus für die Silbergruben

Im Scharfenberger Revier waren die Erzgänge anfangs sehr reich, bis zu drei Meter dick. Die Zeiten sind längst vorbei. Heute lohnt der Abbau nicht mehr, die letzte Grube machte 1898 dicht. Damals führten London und Washington den Goldstandard ein. Silber als Basis der Währungen verlor schlagartig an Bedeutung.

Dass Silberdraht in der Elektrotechnik aufgrund seiner exzellenten Leitfähigkeit eine herausragende Rolle spielte, stoppte den Preisverfall nicht. Kupfer und optimierte Legierungen aus Stahl boten wirtschaftliche Alternativen.

1898 – Geburtsjahr des Atomzeitalters

1898 war auch das Jahr, in dem das Uran seinen Zug durch die Geschichte begann. In Paris entdeckte Henri Becquerel die Radioaktivität. Marie und Pierre Curie gelang es, Radium zu isolieren – aus der Pechblende einer ehemaligen Silbergrube in Sankt Joachimsthal in Böhmen. Jahrhundertelang wurden die Uranerze als wertloses Taub auf Halde geworfen.

Als das Berggeschrey des Silbers im Erzgebirge und in Böhmen verklang, machte sich der Radium Rush auf – weltweit. Der Bergbau von Pechblende und Uran im Erzgebirge, die Atombombe und der nukleare Meiler – das ist eine andere Geschichte. Ihre Anfänge aber lagen in Scharfenberg un dim Erzgebirge, und sie liegen noch dort, tief unter der Erde.

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© H.S. Eglund
Montag, 21. März 2022

Energie für die Friedenswende

In einer eindrücklichen Botschaft hat sich US-Schauspieler Arnold Schwarzenegger an seine russischen Fans gerichtet, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Er spricht die Menschen direkt an, ihre Sehnsucht nach Frieden. Auch wir sind in der Pflicht.

Schwarzenegger erzählt in seinem Video, wie ihn die Leistungen russischer Gewichtheber zum Kraftsport brachten, wie er Freunde gewann, als er auf dem Roten Platz in Moskau einen Film drehen durfte – erstmals überhaupt, dass ein ausländischer Film im heiligen Gral der Sowjets gedreht werden durfte.

Und er richtet sich an Wladimir Putin, der zu den Bewunderern Schwarzeneggers gehört: „Sie haben diesen Krieg begonnen, Sie führen diesen Krieg und Sie haben es in der Hand, ihn zu beenden.“

Die Videobotschaft von Arnold Schwarzenegger auf Youtube.

Die Russen taugen nicht zum Feind

Wir wollen Schwarzeneggers Botschaft darauf prüfen, was sie für das Kommende bedeutet. Schwarzenegger vermeidet es ganz bewusst, das russische Volk zum Feind zu erklären. Im Gegenteil: Er verweist auf die Friedensliebe und die Leidensfähigkeit, die in der russischen Geschichte erkennbar sind, auf den Heroismus, der nun durch den Kreml missbraucht wird.

Aber: „Der Russe“ ist kein Feindbild mehr, wie es noch vor zwei Generationen in Deutschland üblich war. Das ist eine erstaunliche Erkenntnis aus dem Krieg in der Ukraine. Die Menschen verstehen, dass Im Kreml eine skrupellose Oberschicht agiert, ein Überstaat, den es auch bei uns gibt – wenn auch nicht mit imperialen Ansprüchen wie in Moskau.

Der Humanismus der Energiewende

Und: Schwarzenegger hat die Menschen in Russland angesprochen, die seine Filme ebenso lieben wie bei uns in Europa oder in Amerika. Man muss die Filme nicht mögen, aber Schwarzeneggers Video sendet eine zutiefst humanistischen Botschaft, wie übrigens sein Video vor Jahresfrist, als der Mob den Capitol Hill in Washington stürmte. Und dieser Humanismus ist es, der den Kreis zur Energiewende schließt.

Der Krieg um russisches Erdgas, denn das ist der Ukraine-Krieg in seinem Kern, zeigt deutlich, dass es mit fossilen oder nuklearen Brennstoffen keinen Frieden geben kann. Milliarden Euro und US-Dollar sind im Spiel, um Öl, Gas oder Uranbrennstäbe um den halben Globus zu schiffen. Also gibt es starke Mächte, dieses Geschäft geopolitisch abzusichern. Es ist zu verlockend, zu lukrativ, um es weniger hochgerüsteten Wettbewerbern (wie der Ukraine) zu überlassen.

Russland verliert seine Energiekunden

Dabei ist die Ukraine lediglich Transitland, verdient also nur am Wegezoll, an der Durchleitung des Gases. Sie ist aber auch Energiekunde von Russland und Weißrussland, hängt am Stromnetz der nordöstlichen Nachbarn und an den Lieferungen der nuklearen Brennstäbe für seine AKW.

Sie hing an diesen Netzen, muss man sagen, denn vergangene Woche ließ Präsident Selenskyi die Anschlüsse nach Norden und Osten kappen. Nunmehr hängt die Ukraine am Europäischen Verbundnetz, wird über Moldawien versorgt und sicher bald über weitere Anschlusspunkte in Polen.

Putin hat alles riskiert – und verloren

Eines Tages wird der Krieg in der Ukraine zu Ende sein. Verloren hat ihn Putin jetzt schon. Denn seine Erwartungen, dass ihm die Ukrainer zujubeln, wurden bitter enttäuscht. Er hat die Ukraine und den gesamten Westen als Partner und als Energiekunden verloren. Der globale Vertrauensverlust lässt sich nicht zurückdrehen.

Die Frage ist, wie viele Menschen noch sterben müssen, bevor Putin seine Kettenhunde zurückpfeift. Wir erinnern uns: Der Afghanistan-Krieg, der zehn Jahre (1979 bis 1989) dauerte, kostete die Sowjetunion mehr als 13.000 tote Soldaten und Offiziere. Schon jetzt, nach drei Wochen Krieg in der Ukraine, sind seriösen Schätzungen zufolge rund 5.000 bis 6.000 russische Soldaten gestorben.

Der Zusammenbruch großrussischer Träume

Michail Gorbatschow hat einst im Interview bekannt, dass drei Dinge den Zusammenbruch der Sowjetunion verursachten: der Alkoholismus, Afghanistan und Tschernobyl. Der Krieg in der Ukraine wird den Zusammenbruch des großrussischen Imperialismus zur Folge haben.

Der machtvolle Block der Militärs und des Geheimdienstes – Putins Hinterleute – wird in die Knie gehen, weil er die Modernisierung Russlands behindert. Seit 2019 sind mehr als zwei Millionen junge, gut ausgebildete Russen aus ihrer Heimat geflohen: nach Deutschland, ins Baltikum, nach Österreich, in die Slowakei, nach Tschechien, nach Frankreich. Jetzt sind die Grenzen gänzlich dicht, Putin musste sein eigenes Land in ein Gefängnis verwandeln, wie einst Walter Ulbricht durch den Bau der Berliner Mauer.

Keine Rückkehr ins Gefängnis

Aber die Rückkehr in ein gigantische Gefängnis – wie unter Stalin und Breshnew – wird es nicht geben. Weil Russland zu sehr mit der westlichen Wirtschaft verzahnt ist, weil seine Wirtschaft auf die jungen und fähigsten Köpfe angewiesen ist. Weil das historische Urteil über die Sowjetunion schon vor dreißig Jahren gesprochen wurde.

Putin mag sich noch so sehr den Anspruch verblichener Sowjetgröße geben, mag seinen Neo-Zarismus rot lackieren (wie Boris Jelzin es nannte), an den akuten Problemen der russischen Gesellschaft kommt er nicht vorbei. Es bedurfte nicht der Sanktionen des Westens, dass die russischen Städte verfallen, dass die Atommeiler und Atomraketen rosten, dass Millionen Menschen – vor allem die Rentnerinnen und Rentner – hart an der Armutsgrenze leben.

Wer etwas kann, haut ab

Die Zahl der aus politischen Gründen Inhaftierten ist während der Herrschaft Putins seit dem Jahreswechsel von 1999 zu 2000 auf rund 15.000 gestiegen (von Null unter Jelzin). Da sind die Verhaftungen unter den Demonstranten nicht eingerechnet, die seit drei Wochen gegen den Krieg in der Ukraine protestieren.

Nicht eingerechnet sind die Folgen, die der Protest von rund 7.000 Wissenschaftlern aus Russland bedeutet. Sie verstehen, dass sie durch Putins Krieg isoliert sind, spüren zugleich die Solidarität ihre Forscherkollegen im Ausland. Wer (etwas) kann, verlässt das Land auf dem schnellsten Wege.

Die Flucht der russischen Primaballerina Olga Smirnowa nach Amsterdam, der Aufruf der russischen Wissenschaftler oder der Frust der russischen Sportler beweisen, dass sich die gebildeten Russen von Putin und seiner Mischpoke abwenden. Sie sind Teil dieser Welt, die keine Grenzen mehr kennt, keine Ideologien und keinen Revanchismus – erst recht keinen Krieg.

Der Schlüssel zu Russland

Die Ukraine ist der Schlüssel zu Russland. Das hat sich im langen Verlauf der Geschichte von der Kiewer Rus bis heute immer neu erwiesen. Wenn dieser Krieg zu Ende geht, rückt ihr Wiederaufbau auf die Tagesordnung. Nicht die Waffenlieferungen der Nato werden den Frieden bringen, sondern die Energiewende auch in der Ukraine und der Aufbau nachhaltiger, regionaler Wirtschaftskreisläufe.

Für die deutsche Solarwirtschaft wird die Ukraine ein neuer Zielmarkt von herausragender Bedeutung. Vielleicht klingt es seltsam, dass ich inmitten der Bombardements, inmitten der TV-Bilder von toten Kindern und Frauen von Solarmärkten spreche. Aber ich meine, dass wir als Branche bereits weiter blicken müssen, über die Lieferung von Waffen und Hilfsgütern hinaus. Diese Hilfen sind wichtig, um Putin den militärischen Sieg zu verweigern. Aber den Frieden – echten und dauerhaften Frieden – bringen sie nicht.

Europa rückt nach Osten vor

Mit diesem Krieg ist die Ukraine unwiderruflich in den Kreis der europäischen Staaten eingetreten. Sie wird Mitglied der EU, egal, wie lange das noch dauert. Die Polen beweisen in beispielloser Weise ihre Verbundenheit mit dem östlichen Nachbarn, ebenso Moldawien, die Slowakei, Tschechien, Ungarn und Rumänien – allesamt Mitglieder der EU. Der Besuch von drei Ministerpräsidenten im umkämpften Kiew war nicht nur mutig. Es war eine Demonstration eines neuen Selbstbewusstseins: Wenn EU, dann richtig!

So rückt der Westen direkt an Russlands Grenze vor, ohne dass die Ukraine Mitglied der Nato werden muss. Denn die Nato selbst steht für eine überkommene Epoche, als sich Macht allein auf Atomraketen gründete. Für die Ausgestaltung des Friedens sind die europäische Zusammenarbeit und die globalen Kreisläufe der Wirtschaft viel wichtiger, als hochgerüstete Militärblöcke, die mit nuklearen Muskeln spielen.

Die Eliten reisen aus

Der Wiederaufbau von Charkiw, Mariupol und Kiew wird unzweifelhaft auf Russland ausstrahlen – wie das Wirtschaftswunder in Westdeutschland einst auf die sowjetische Besatzungszone ausstrahlte. Die Modernisierung der Energieversorgung in der Ukraine – ohne AKW, ohne Gasbrenner, nur mit Sonne, Wind und grünem, lokal erzeugtem Wasserstoff – wird eine unwiderstehliche Anziehungskraft entfalten.

Denn nur eine freie, demokratische Gesellschaft ist die Lage, sich zu modernisieren und die öko-sozialen Probleme ihrer Bevölkerung zu lösen. Junge Leute verstehen das schneller, als die Alten – naturgemäß, denn sie müssen die Suppe auslöffeln. Deshalb wandern sie in Scharen aus Russland aus, es ist eine Abstimmung mit den Füßen – wie 1989 in Ostdeutschland.

Putin ist zum Scheitern verurteilt

Erinnern wir uns: Es waren junge Eliten, die in den 1980er Jahren aus der DDR ausreisten – Ärzte, Ingenieure, Informatiker, Künstler. Dasselbe passiert nun in Russland. Was die SED in Ostberlin lernen musste, wird auch an Wladimir Putin nicht vorbeigehen. Eine Zeitlang kann er sein Land in einen Knast verwandeln, wie einst Walter Ulbricht, als er die Berliner Mauer baute.

Aber der Kremlchef und seine Hintermänner sind zum Scheitern verurteilt, so viel steht bereits fest. Revanchismus, Imperialismus, Drohgebärden und Kriege haben in unserer Welt keinen Platz mehr. Sorgen wir dafür, dass Putin in der Ukraine keinen Scheiterhaufen hinterlässt. Es wird bald darum gehen, die Wunden des Krieges möglichst schnell zu heilen.

Ein Prüfstein des Humanismus

So wird die Ukraine zum Prüfstein für den Humanismus der modernen, westlichen Gesellschaft überhaupt. Deutschland ist dafür ein historisches Vorbild: Es verdankt seine Einheit, seine moderne Entwicklung zur wirtschaftlichen Großmacht dem Wirtschaftswunder, das die Amerikaner finanzierten. Es verdankt seine Position in der Welt aber auch dem Russen Michail Gorbatschow, der die Wiedervereinigung erlaubte – in der Hoffnung, die bankrotte Sowjetunion ökonomisch zu sanieren.

Weil die Demokratisierung aufgrund fehlender historischer Erfahrungen nicht in Gang kam, wurde Russland nach 1992 vor allem als Handelspartner für Energie und Rohstoffe hofiert. Europäisches und amerikanisches Kapital züchtete eine Kaste gieriger Oligarchen, die Masse der russischen Bevölkerung blieb am Tropf postsowjetischer Subventionen: für Energie, Wohnungen und Arbeit. Das Militär und die Rüstungsindustrie sind die wichtigsten Arbeitgeber in Russland, ebenso der Urankomplex. Das war schon in der Sowjetunion so.

Die Hand nach Osten ausstrecken

Nun läuft die Zeit des militärisch-nuklearen Komplexes ab. Wenn der Krieg in der Ukraine eines Tages vorbei sein wird, muss der Westen deshalb seine Hand nach Osten ausstrecken. Nicht zu Putin und seinen Schergen, sie wurden lange genug hofiert, ausgehalten und gepäppelt. Sondern zu den Menschen vor Ort. Russland hat 140 Millionen Einwohner, rund elf Millionen haben direkte Verwandte in der Ukraine.

Deutschland muss und kann seine Wirtschaftskraft in die Waagschale werfen, um die Ukraine wieder aufzubauen. Es muss ein Wirtschaftswunder nach dem Vorbild Westdeutschlands nach 1945 geben. Dabei kommt der Energiewende eine zentrale Aufgabe zu.

Alles steht auf dem Spiel

Denn nur sie sichert Zukunft, fördert die regionale Wertschöpfung, macht die Ukraine – wie Deutschland auch – unabhängig von Brennstoffen aus Russland und dem Donbass, macht sie unabhängig von den Oligarchen und Spekulanten dieser Welt. Millionen Flüchtlingen wird ermöglicht, in ihre Heimat zurückzukehren. Weil es eine Zukunft gibt, Arbeit und Frieden.

Mit Kohle, Öl, Gas und Uran wird es diesen Frieden nicht geben, das offenbart der Krieg in der Ukraine einmal mehr. Wir sind in der Pflicht, über den Tellerrand von Rhein und Oder hinaus zu denken. So gesehen, bedeutet der Krieg in der Ukraine tatsächlich eine Zeitenwende. Alles, alles was den Westen ausmacht, steht dort gleichermaßen auf dem Spiel.

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  • Kein Vergleich zum Glaspalast der Leipziger Messe: Werk 2 am Connewitzer Kreuz. © H.S. Eglund
  • Innerhalb von sechs Wochen wurde die Veranstaltung organisiert. © H.S. Eglund
  • Flankiert wurde die Präsentation durch ein Leseprogramm in verschiedenen Kulturstätten Leipzigs. © H.S. Eglund
  • Auf Tuchfühlung mit dem Buch. © H.S. Eglund
  • Bücher ohne Ende trafen auf ein interessiertes Publikum. © H.S. Eglund
  • Welche Zukunft hat die Buchmesse? Viele kleine Popups? © H.S. Eglund
  • Leserinnen und Leser kamen ins Gespräch mit Verlegerinnen und Verlegern. © H.S. Eglund
  • Muss eine Buchmesse größer sein, oder geht der Trend zu regionalen, kleineren Veranstaltungen - wie in anderen Branchen auch? © H.S. Eglund
Samstag, 19. März 2022

Popup 2022: Großer Andrang im Werk 2 in Leipzig

Auch in diesem Jahr wurde die Buchmesse abgesagt. Doch 50 Verlage suchten einen eigenen Weg, um die Lesergemeinde in der Messestadt auf die Beine zu bringen. Das ist gelungen, wie unsere Impressionen zeigen.

Die kurzfristige Absage der Buchmesse in Leipzig hat viele Akteure vor den Kopf gestoßen. Nicht nur Verlage, auch Buchhändler und vor allem Leserinnen und Leser zeigten sich enttäuscht. Abgesehen von den Hoteliers, denn viele Gäste hatten bereits ihre Unterkünfte gebucht. Es sollte wieder losgehen.

Wandel in der Messebranche

Dass sich die Leitung des Glaspalastes an der Autobahn gegen die Messe entschied, hatte natürlich mit Corona zu tun. Einige große Aussteller hatten ihre Teilnahme storniert, weil sie die Risiken fürchteten: Ansteckung und Ausfall der Mitarbeiter.
Zudem ist dieser Großveranstaltung der wirtschaftliche Sinn abhanden gekommen.

Die Absagen waren nur teilweise Corona geschuldet. Aufgrund der Digitalisierung sind viele Verlagsgeschäfte mittlerweile problemlos ohne Präsenzmessen möglich. Und: Die Digitalisierung spielt den großen Verlagen in die Hände, die mächtige IT-Abteilungen unterhalten und viel Aufwand in Social Media stecken können.

Dass auch der Buchverkauf ohne Messen in Frankfurt und Leipzig auskommt, zeigen die Umsätze 2021: Der Absatz von Büchern im deutschen Markt stieg um drei Prozent. Die Frage steht im Raum, ob die großen – und teuren Messen – noch gebraucht werden. So war die Popup Buchmesse Mitte März in Leipzig ein Test, wie sich solche Veranstaltungen künftig ausrichten könnten. Ein höchst spannender Test.

Ein spannender Test im Werk 2

Zum einen hat sich gezeigt: Die Leute wollen nicht nur Bücher angucken, sie wollen sie kaufen. Bei der Ausstellung im Werk 2 zeigten sich nahezu alle Verlegerinnen und Verleger davon angetan, dass sie mit ihrem Publikum direkt ins Gespräch kommen und Bücher über den Tisch reichen durften.

Bei den etablierten Messen in Leipzig und Frankfurt ist der Verkauf nur über die Messebuchhandlung erlaubt, mit einer Provision von 55 Prozent vom Buchpreis. Auf diese Weise werden die Verlage genauso ausgebeutet wie von Amazon, das gleichfalls 55 Prozent Provision kassiert.

Erst ab Sonntag (Letzter Messetag) um 15 Uhr dürfen Bücher an den Messeständen verkauft werden. Das ist vor allem für kleine Verlage viel zu kurz, denn für sie lohnt sich ein Verkauf über die Messebuchhandlung erst recht nicht. Dort dominieren – wie bei Thalia oder im Bahnhofsbuchhandel – ohnehin die großen Verlage.

Die Leute wollen Bücher

Und: Leipzig hat – im Unterschied zu Frankfurt – offenbar ein sehr treues Lesepublikum. Denn obwohl die Popup-Messe relativ kurzfristig anberaumt wurde, waren die meisten Lesungen in kurzer Zeit ausverkauft. Die Ausstellung selbst war sehr gut besucht, vor allem am Sonnabend bildeten sich lange Schlangen.

Eine kleinere Veranstaltung wie im Werk 2 bringt die Verlage näher an ihre Leserschaft. Sie lässt sich mehrfach im Jahr wiederholen, möglicherweise thematisch akzentuiert. Und: Alle Verlage sollten die gleiche Standgröße bekommen, um möglichst vielen Buchanbietern die Teilnahme zu ermöglichen.

Es ist auch denkbar, solche Veranstaltungen regional zu vervielfältigen, als Popup in Leipzig, Dresden und Chemnitz, um einmal in Sachsen zu bleiben. Das schließt eine oder zwei große Messen nicht aus, bei denen die Branche ihr Business pflegt: Druckaufträge, Lizenzen, Übersetzungen und so weiter.

Versessen auf den Geruch von Papier

Aber die Leserinnen und Leser, sie suchen die Nähe der Verlage, das Gespräch mit Autorinnen und Autoren. Sie sind versessen auf den Geruch von Papier und auf dezentes Licht, das die Cover der Bücher so wunderbar zur Geltung bringt. Sie sind versessen auf die Ideen, Gedanken und Überraschungen, die zwischen den Buchdeckeln lauern. Das ist Schatzsuche, sie darf ruhig etwas versteckt stattfinden, an einem Ort mit angeschmuddeltem Charme.

Diese Leute brauchen keinen Glaspalast, keine überteuerten Tickets, keine gigantischen Messestände, für Unsummen hingeklotzt, um … – ja was denn, wofür eigentlich? Fürs Buch? Für die Leserinnen und Leser? Irgendwie war das Werk 2 am Connewitzer Kreuz in Leipzig ein besserer Ort. Und die Popup-Buchmesse richtig gelungen.

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Mittwoch, 2. März 2022

Energiewende – jetzt erst recht!

Die russische Aggression zeigt: Echter Frieden lässt sich nur mit erneuerbaren Energien gewinnen. Die dezentrale Versorgung mit Strom von Sonne, Wind und grünem Wasserstoff ist von höchster strategischer und sozialer Bedeutung.

Die schockierenden Bilder aus der Ukraine haben sogar Corona von den Mattscheiben verdrängt, den Dauerbrenner der vergangenen zweieinhalb Jahre. Putins Einmarsch – ausgelöst durch den Streit um marode Kohlebergwerke im Donbass – ist ein Rückfall ins Mittelalter. Ist ein Rückfall in eine Zeit, als Kohle, Gas und Uran den Takt des Kalten Krieges vorgaben.

Anderthalb Jahrzehnte vertan

Dass Deutschland in diesen Strudel gerät, ist eine Konsequenz der katastrophalen Energiepolitik aus 16 Jahren Herrschaft von CDU/CSU, mal mit der FDP, mal mit den Sozen als Koalitionspartner. Mehr als anderthalb Jahrzehnte wurden vertan, ohne die Abhängigkeit von ausländischen Energieträgern zu verringern: Weiterhin hängen Deutschland und Europa am Tropf des saudischen Öls und von russischem Gas.

Mehr noch: Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sitzt heute dem Aufsichtsrat von Gazprom vor, wollte bis zuletzt die baltische Gastrasse Nord Stream 2 durchdrücken. Eigentlich gehört sein privates Vermögen nun ebenso eingefroren wie die Konten von Putin und Lavrov.

Der Donbass ist den Russen, was uns die Lausitz ist: Dort hocken die Bergarbeiter, traditionell eine extrem konservative Berufsgruppe, mächtig stolz auf den Dreck zwischen ihren Fingernägeln und auf ihre Staublungen, die sie früh in die Rente und aufs Totenbett schicken. Die Zeche zahlen andere, keine Sorge! Der Einmarsch Russlands, um vermeintliche russische Interessen in der Ukraine zu schützen, zeigt die Hilflosigkeit Putins und des militärisch-nuklearen Komplexes, der hinter ihm steht.

Ein mordsmäßiges Verlustgeschäft

Denn die Gruben im Donbass laufen teilweise mit Ausrüstungen aus der Nachkriegszeit. Das ist ein mordsmäßiges Verlustgeschäft, eigentlich müsste man sie schließen. Aber wohin mit den zänkischen Bergarbeitern? Diese Menschen leben dort, seit Generationen. Statt ihnen echte Alternativen anzubieten, wird die Illusion genährt, der Bergbau habe eine Zukunft – wenn Kiew klein beigibt.

Erstaunlich, wie sich die Worte gleichen: Dietmar Woidke, sozialdemokratischer Ministerpräsident des Landes Brandenburg, ruft am ersten Tag nach der russischen Invasion nach einer Verlängerung des Kohleausstiegs. Auch NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP), der sachsen-anhaltinische Ministerpräsident Rainer Haseloff (CDU) und Sachsens Landeschef Michael Kretschmer (CDU) stoßen mittlerweile in das gleiche Horn.

Das ist die gleiche Denke wie im Donbass, nur dass Potsdam, Düsseldorf oder Dresden keine Truppen nach Berlin schickt, um die Grünen aus der Bundesregierung zu jagen. Woidke, Pinkwart, Haseloff und Kretschmer fällt in dieser düsteren Stunde nichts besseres ein, als das Elend des Kohlezeitalters zu verlängern.

Der Irrtum der Atomkraft

Schon werden Rufe laut, die Laufzeit der letzten Atomreaktoren in Deutschland zu verlängern. Drei sind noch am Netz, Ende 2022 sollen sie abgeschaltet werden. Dieses Argument benutzt auch der französische Präsident Emmanuel Macron.

Er hatte – freilich vor der Invasion – in Aussicht gestellt, die Laufzeit der französischen Atommeiler zu verlängern und neue Reaktoren zu bauen. Zuvor hatte er sich preiswertes Geld aus Brüssel gesichert, auch deutsche – und russische – Gaskonzerne wollten von den neuen Taxonomie-Regeln profitieren.

Abgesehen davon, dass die Atomtechnik gleichfalls erhebliche Menschen an Treibhausgasen emittiert, nährt auch Macron eine Illusion: Dass die Modernisierung der Atomreaktoren das Klimaproblem löst. Er setzt seine Behauptung in die Welt, wohl wissend, dass der französische Energiekonzern EDF – Eigner ist der Elysée-Palast – pleite ist.

Die erforderlichen Milliarden wird in Frankreich niemand aufbringen können. Statt den Menschen reinen Wein einzuschenken, reitet Macron dieselbe Schimäre wie Wladimir Putin im Kreml. Im Unterschied zu Putin ist Macron darauf angewiesen, wiedergewählt zu werden. Deshalb streut er den Leuten Isotope in die Augen.

Mehr LNG, um die Abhängigkeit zu verringern?

Geschockt von den Kriegsbildern will Deutschland die Abhängigkeit von russischem Erdgas verringern. So weit, so gut, endlich haben das auch die Sozen kapiert. Doch was geschieht? Geplant sind nun zwei Spezialterminals für Flüssiggas (LNG), in Brunsbüttel und Wilhelmshaven. Die Verträge zur Lieferung von US-amerikanischem Flüssiggas seien bereits unterschrieben, erklärte EU-Ratspräsidentin Von der Leyen.

Die Tinte war schon trocken, bevor Putin die Grenze zur Ukraine überschritt. Also tauschen wir russisches Gas gegen Gas aus amerikanischen Schiefersanden? US-Präsident Joe Biden hat im aktuellen Konflikt mit seiner Diplomatie ebenso versagt, wie Wladimir Putin.

Mehr noch: Die Bundeswehr soll 100 Milliarden Euro bekommen, um sich fit für die Konfrontation mit Russland zu machen. Als ob Krieg die Probleme lösen könnte! Das Militär ist weltweit der größte Konsument von Öl. Logik der Nato, Logik des Kreml: Es wird mit Öl gefüttert, um Ölreserven zu schützen.

Ohne Sprit könnte kein russischer Panzer über die ukrainische Grenze walzen, kein Bomber seine tödliche Fracht nach Kiew tragen. Wer nach mehr Bundeswehr ruft, will den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.

Eine nützliche Krise

In seiner Regierungserklärung ist Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kaum auf die erneuerbaren Energien eingegangen. Offenbar nutzen einflussreiche Kreise die aktuelle Krise, um so weiterzumachen, wie bisher. Um ihre Pfründe abzusichern und um Deutschland weiterhin in der Abhängigkeit der fossilen Energieträger zu halten.

Die einzige vernünftige – ökonomisch, sozial und strategisch vernünftige – Alternative sind 100 Prozent erneuerbare Energien. Es ist die Elektrifizierung aller Teile der Industrie, die durchgehende Sektorkopplung und die vollständige Versorgung mit erneuerbaren Energien.

Es geht darum, Erdgas und Kohle und Uran generell zu verbannen. Nur eine regionale, dezentrale Versorgung mit Sonnenkraft, mit Windkraft und mit grünem Wasserstoff aus einheimischer Produktion macht Konflikte wie in der Ukraine überflüssig.

100 Milliarden für die Energiewende!

Wir brauchen nicht 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr, sondern 100 Milliarden Euro für neue Windräder, für Solaranlagen und Elektrolyseure! Anders als bei der Bundeswehr geht es aber nicht um staatliche Mittel, sondern um Investitionen aus freien Märkten.

Die Technik ist vorhanden, sie ist preiswert und zuverlässig. Werden die bürokratischen Hürden abgebaut, können die Märkte den erforderlichen Zubau der erneuerbaren Energien entfachen.

Es wird kein Zurück zum Erdgas geben, erst recht nicht zur Kohle oder zum Uran. Langfristig sind freie Märkte stärker als jeder Despot, die Bremser der Energiewende werden vom Wandel in der globalen Wirtschaft hinweggeschwemmt. Angesichts der Krise im Osten Europas wird die Energiewende immer wichtiger, nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes.

Endlich Nägel mit Köpfen machen!

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (B90/Grüne) hat ein ambitioniertes Osterpaket angekündigt. Nun muss er Nägel mit Köpfen machen, muss endlich liefern! Es geht nicht bloß darum, an Stellschrauben des alten EEG zu drehen.

Es geht darum, Spritfresser und Gasthermen generell aus Deutschland zu verbannen. Es geht darum, den Bürgerinnen und Bürgern jede erdenkliche Freiheit bei der Eigenversorgung mit sauberem Strom zu gewähren – als private Nutzer, als Unternehmer oder als kommunale Entscheider.

Diese Freiheit wird zur Basis unserer freiheitlichen Ordnung, wird sie in Zukunft sichern. Es geht um grüne Daseinsvorsorge für dieses Land, für diesen Kontinent. Wenn in Deutschland die Energiewende bis 2030 gelingt, dann wird sie überall gelingen. Vielleicht nicht ganz so schnell, aber nachhaltig. Sie wird auch – unter deutscher Beteiligung – in der Ukraine gelingen, ebenso in Russland, da bin ich mir sicher.

Wer dagegen weiterhin auf fossile oder nukleare Energien setzt, will das Zeitalter der Kriege, der Unterdrückung verlängern. Ohne Energiewende sind echte Freiheit, Frieden und Demokratie auf Dauer nicht möglich.

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© Nord Stream 2/Axel Schmidt
Dienstag, 8. Februar 2022

Kalter Krieg ums Gas

Den Nervenkrieg ums Erdgas hat uns die schwarz-rote Koalition beschert. Denn der rechtzeitige Ausbau der erneuerbaren Energien hätte die Abhängigkeit von Importen verringert. Doch der Ausbau wurde verzögert, ganz bewusst. Nun streiten sich Amerikaner und Russen, wer in Deutschland Kasse machen darf.

Um es vorweg zu nehmen: Die Ukraine spielt im großen Gasgeschäft nur eine untergeordnete Rolle: als Transitland, als unbedeutender Weltflecken, der von russischen Pipelines überbrückt werden muss. Zu Zeiten des Ostblocks galt solcherart Bruderdienst als ehrenhaft.

Kein Problem, Towarischtschi! Also wurde die Baikal-Amur-Magistrale von jungen Ossis im Blauhemd geschweißt, mit Rohren aus Westdeutschland. Die BAM war das größte Abenteuer, das die kleine DDR zu bieten hatte – ab nach Sibirien, Genossen, in die Weite der Taiga, zu Lagerfeuern, niedlichen Matkas und Wodka Stogramm!

Drei Pipelines liefern Gas

Die BAM sollte die kleine DDR mit Erdgas versorgen, nun versorgt sie das ganze große Deutschland – eigentlich ganz Westeuropa. Daneben gibt es noch eine Pipeline aus Russland und Belorussland nach Polen, sowie Nord Stream 1 durch die Ostsee.

Alle drei Pipelines zusammen lieferten im Jahr rund 129,8 Milliarden Kubikmeter Erdgas, davon 55,9 Milliarden Kubikmeter über die Unterwasserroute im Norden und 25,4 Milliarden Kubikmeter über die polnische Yamal-Europe-Ader. Soll heißen: Das Gros läuft über die Ukraine.

Dreht Gasprom den Hahn zu?

Nun ist die zweite baltische Pipeline Nord Stream 2 fertig. Ausgerechnet ihre Inbetriebnahme löste einen internationalen Konflikt aus. Erstaunlich eigentlich, denn die anderen drei Pipelines laufen im Prinzip unter Volllast. Wer mehr Gas haben will, braucht mehr Kapazitäten.

Zwar gab es in den vergangenen zwei Jahren gewisse Schwankungen bei den Gaslieferungen, aber das Geschäft lief stabil. Keine Anzeichen, dass Gasprom den Hahn abdreht. Dass die Preise stiegen, hat mit den Schwankungen nur wenig zu tun. Hier wirken sich vor allem die steigende Nachfrage und die CO2-Besteuerung aus. Allein die europäische Industrie dürfte 2022 rund 102 Milliarden Kubikmeter Gas abnehmen.

Was meinte Joe Biden?

Ausgerechnet in dem Augenblick, als Erdgas durch Nord Stream 2 nach Europa rauschen sollte, schaukelten gewisse Kreise die Krise zwischen der Ukraine und Russland hoch. Anders kann man es nicht nennen, wenn ein US-Präsident plötzlich für amerikanisches Flüssiggas (LNG) wirbt, wenn er damit droht, die Pipeline durch die Ostsee „stillzulegen“.

Was meint er damit? Ein Bombardement auf Lubmin bei Greifswald, wo die Rohre anlanden? Meinte er einen geheimen Einsatz seiner Navy Seals, so mit Zeitzündern und Spezialgranaten? Wie legt ein US-Präsident eine deutsch-russische Pipeline lahm?

Amerikanische Sanktionen gegen Nord Stream 2 werden von amerikanischen Truppenbewegungen flankiert, die NATO erweitert ihr Einsatzgebiet bis in die Ukraine. Der Kremlchef seinerseits lässt Truppen aufmarschieren, in der eiskalten Ebene der Wolga. Drohgebärden auf beiden Seiten, schreiende Lettern in der Gazetten.

Und wenn man manche deutsche Politiker hört, wie sie vor der russischen Gefahr warnen, wie sie „den Kreml“ warnen, dann fühlt man sich an Joseph Goebbels erinnert. Da steckt was ganz tief in den Hirnen, da rühren sich panische Ängste, über Generationen gepflegt: Zähnefletschende Horden bedrohen das Abendland! Mal unter uns: Geht‘s noch?!

Die Druckpunkte der roten Zaren

Putin reagiert, wie die (roten) Zaren immer reagieren, wenn der Westen ihre Druckpunkte aktiviert. Bei aller Herrlichkeit des Kremls: Ein Einmarsch in die Ukraine nützt ihm nichts. Der Donbass mit seinen veralteten Kohlerevieren ist nichts wert, da ist nichts zu verdienen. Alles Schrott. Sonst hätte Putin längst zugeschlagen.

Und die halbe Bevölkerung der Ukraine sind ohnehin Russen oder stammen von russischen Vorfahren ab. Am Ende ist ihnen egal, ob sie von korrupten Behörden in Kiew oder von korrupten Behörden in Moskau reagiert werden. Will er sich den Sarkophag von Tschernobyl unter den Nagel reißen? War einst ja ein russisches Prestigeobjekt …

Es geht um Märkte, nicht um Land

Nein, es geht nicht um Land oder Kohlegruben, es geht um den westeuropäischen Gasmarkt. Spät sind die Amerikaner aufgewacht, weil US-Präsident Donald Trump keinen Konflikt mit dem Kreml riskieren mochte. Wir erinnern uns an die TV-Bilder: Zwei Despoten in einvernehmlichem Gespräch, nur der früher übliche Bruderkuss hat gefehlt.

Nun wollen die Amerikaner unbedingt einen Fuß in Tür bekommen, bevor der Deal durch ist. Denn die Gaspreise steigen, hier winkt die ganz große Abzocke. Weil Industrienationen wie Deutschland den Ausbau der Windkraft und der Solargeneratoren in den vergangenen zehn Jahren verschlafen haben, stecken sie in der fossilen Versorgung fest.

Deshalb bleiben sie Spielball der Spekulanten an den Rohstoffbörsen, bleiben Spielball amerikanischer und russischer Interessen, neuerdings mischen Polen und Türken mit, wer auch immer. Hier werden Ängste geschürt, um Politik zu machen, um lukrative Märkte zu sichern und viel, viel Geld aus den Taschen der Menschen zu ziehen.

Die Russen und der Westen sind aufeinander angewiesen

Die Russen haben bekräftigt, ihre Lieferverträge weiterhin vollumfänglich zu erfüllen. Was bleibt ihnen anderes übrig? Russland ist – wie alle Länder – auf stabile wirtschaftliche Beziehungen mit dem Westen angewiesen, wie der Westen auf gute Beziehungen zum Kreml. Denn dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die russische Wirtschaft global noch immer nicht konkurrenzfähig.

Der Kreml ist darauf angewiesen, Rohstoffe zu verkaufen, um die sozialen Gegensätze in seinem Riesenreich irgendwie zu glätten und unter der Decke zu halten. Und um ganz nebenbei Putins Pomp im Kreml zu finanzieren, und die marode Atomwirtschaft und die Armee mit rund einer Million Mann unter Waffen und zwei Millionen Reservisten.

Und der Westen – der die Energiewende verzögert hat – bleibt auf Brennstoffe angewiesen – wie vor dreißig Jahren. Doch mit Armeen sind moderne Märkte nicht zu erobern. Das weiß Wladimir Putin, das weiß auch Joe Biden.

Dass nun doch Truppen aufmarschieren, zeigt die Schwäche dieser beiden Staatslenker, die sich auf internationalem Parkett als Totalversager entpuppen. Wie zornige Halbwüchsige fallen sie in den Kalten Krieg zurück, lassen lächerliche Zinnsoldaten aufmarschieren, als schrieben wir noch das Jahr 1961 und nicht 2022.

Ruhig bleiben und in erneuerbare Energien investieren

Angenehm unaufgeregt dagegen der Auftritt von Olaf Scholz in Washington, angenehm ausgeglichen die Argumente von Annalena Baerbock in Kiew. Gerade an dieser Krise zeigt sich, dass ökonomische Macht viel wichtiger ist als Militarismus. Und dass es für solche Probleme keine militärische Lösung gibt. In einer vernetzten Welt läuft die Zeit der Militärs endgültig ab. Heute geht es nicht mehr um Feinde oder Freunde, sondern um Kunden, Märkte und Verträge.

Wenn Putin in der Ukraine einmarschiert, wird er den Westen als Kunden verlieren. Dann dürfte er Pleite sein, und Schluss mit der Herrlichkeit des Kremls. Vielleicht geben ihm die Chinesen noch Kredit, aber sicher nur gegen Zugeständnisse in Sibirien.
Und wenn der Westen nicht schleunigst die erneuerbaren Energien ausbaut, wird er bis zum Sanktnimmerleinstag am russischen Erdgas hängen, wie einst am Öl der Saudis und am Uran der Amerikaner.

Wir stehen am Scheideweg

Europa steht am Scheideweg, in der Tat. Was auch geschieht: Der Kalte Gaskrieg öffnet vielen Menschen die Augen. Wir müssen nicht nur weg von Atom, Öl und Kohle, sondern auch weg vom Erdgas, so schnell es geht. Die steigenden Energiepreise – auch für Erdgas – beweisen, dass die Energiewende eine ökonomische – nicht nur eine ökologische – Notwendigkeit ist.

Die Energieversorgung Deutschlands komplett auf einheimische und saubere Träger umzustellen, ist von höchster strategischer Bedeutung. Wenn dies gelingt – und es wird gelingen –, können wir alle Zinnsoldaten nach Hause schicken – und die Bidens und Putins gleich mit.

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© Bundesarchiv
  • Alexej Ejboshenko (2.v.l.), Konrad Wolf (rechts), Jaecki Schwarz, Dieter Mann (vorne, v.l.n.r.) bei den Dreharbeiten zu Ich war neunzehn. © Filmmuseum Potsdam
Samstag, 5. Februar 2022

Dieter Mann oder Das Glück des Zuschauers

Der Berliner Schauspieler war einer der großen Mimen aus dem Osten Deutschlands, auf Augenhöhe mit Rolf Hoppe und Eberhard Esche. Proletarierkind, Dreher, Schauspieler, Intendant. Ein Rückblick.

Als Dieter Mann auf die Welt kam, herrschte Krieg. Eigentlich Zwischenkrieg, denn Frankreich und Polen waren besiegt, die Waffen schwiegen. Doch die Ruhe währte nur kurz: Zwei Tage nach seiner Geburt stürmte die Wehrmacht weiter nach Osten, gegen die Sowjetunion.

Nun bekam Berlin den Krieg immer häufiger zu spüren: Bombennächte, Rationierung der Lebensmittel und Hunger, schließlich die nahende Front. Dieter Mann wuchs in Pankow auf, früher Berlin NO (Nordost). Dort kamen die Russen rein, nach der Schlacht an den Seelower Höhen. Sie kamen rein über Pankow und die Schönhauser Allee.

Vom Arbeiter zum Künstler zum Intendanten

Dann war Frieden, der Knirps wuchs inmitten der Trümmer auf. Kindheit und Jugend gab es kaum, als 14-jähriger begann er eine Lehre als Dreher, zwischen 1955 und 1957 arbeitete er im Schleifmaschinenwerk in Berlin, damals volkseigen – VEB. Das Abitur holte er an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät nach und ging zur Schauspielschule.

Das war 1962. Zwei Jahre darauf bekam er seine erste Rolle am Deutschen Theater, dem er mehr als vier Jahrzehnte fest verbunden blieb. Aus dem Proletarierkind wurde ein Arbeiter, wurde ein Künstler, später Intendant des DT.

Fehlstart mit verbotenen Filmen

Neulich habe ich eine seiner ersten Filmrollen gesehen, als jungen Arbeiter bei der Wismut im Erzgebirge. Der Film heißt Columbus 64, in den Hauptrollen Armin Müller-Stahl und Sepp Wenig, damals Arbeitsdirektor der Wismut.

Und wie Manns erster Kinofilm Berlin um die Ecke verschwand auch Columbus 64 im Giftschrank – zu schlapp, zu wenig Aufbaugeist, zu wenig Sozialismus und Fahnen. Dafür echt, ehrlich und auch heute noch unglaublich spannend.

So begann seine Filmkarriere. Man musste schon eine gehörige Portion Stehvermögen haben, um weiterzumachen. Stehvermögen, das lernt man an der Drehbank, und das war es, was Dieter Mann Zeit seines Lebens in seinen Rollen verkörperte. Er spielte viele Rollen, großartige Rollen, sein Repertoire war legendär.

1967: Ich war neunzehn

Dann, 1967, endlich, klappte es mit einem Kinofilm: Konrad Wolf holte den jungen Mimen ins Kollektiv von Ich war neunzehn, in dem Dieter Mann an der Seite von Jaecki Schwarz spielt. Mann verkörpert einen desillusionierten Soldaten der Wehrmacht, der kurz vor Kriegsende noch einmal zur Waffe greift, um die SS abzuschlagen.

Es ist eine kleine Rolle, eine Episode – ähnlich wie in Columbus 64. Und doch gelingt es Dieter Mann, sich für diese Szenen in den Mittelpunkt zu spielen, seiner Figur Statur und innere Haltung zu geben – fernab von Propaganda oder offiziöser Moral.

Meister der schmalen Lippe

Der Spiegel hat Mann als Meister der schmalen Lippe bezeichnet. Das trifft durchaus zu, das war Manns Markenzeichen. Immer schien er auf seltsame Weise in sich gekehrt, setzte Mimik nur sehr, sehr sparsam ein. Gerade deshalb wirkten seine Sätze wie Hammerschläge – auf der Bühne und der Leinwand: Der Mensch erkennt sich nur im Menschen, sprach er beispielsweise 1975 in Goethes Torquato Tasso. Nur das Leben lehret Jedem, was er sei.

Manns Lebenslauf auf Wikipedia listet rund 50 Theaterrollen, 32 Kinofilme, 34 Fernsehfilme, 14 TV-Serien, mehr als 50 Hörspiele und zahlreiche Audio-CDs, denen er seine Stimme lieh. Besonders eingeprägt hat sich mir die Verfilmung einer Erzählung von Bert Brecht aus dem Jahr 1979: Die Rache des Kapitäns Mitchell. Darin spielt Mann den Kapitän extrem unterkühlt, was den inneren Vulkan, seinen Rachedurst umso deutlicher macht.

Die ARD hat einen schönen Nachruf geschnitten, der ihm lakonische Eleganz bescheinigt. Mann war ein guter Grund, ins Theater zu gehen. Und, wunderbar, dieses Fazit:

Er war ein Meister des pointierten Spiels, der unterhaltsamen Gedankentiefe. Das war ein Ereignis. Was für ein Glück für uns, ihn erlebt zu haben.

Nachruf der ARD

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© H.S. Eglund
Samstag, 29. Januar 2022

Video: Karges Hochland am Rand der Kalahari

Strauße und Antilopen: Ausgedehntes Hochland markiert den nordwestlichen Rand der Wüste Kalahari, und wenn der seltene Regen fällt, füllen sich zahlreiche Senken mit Wasser. Der größte dieser vergänglichen Seen ist die Etosha-Pfanne, salzige Tonerde, die weiß und grün schimmert.

Doch in Dürrejahren verdorrt der Boden, schreibt die Hitze scharfe Muster in die steinharte Erde. Der seltene Regen: Er scheidet Etosha von der Wüste.

An manchen Stellen halten sich karge Büsche durch die Trockenzeit, finden die Tiere nie versiegende Quellen und Schatten, um die Sonnenglut zu überstehen. Nachts, wenn Mond und Sterne die verbrannten Senken kühlen, schleichen die Löwen zu den Tümpeln.

Hier sehen Sie das Video. (Dauer: 0:49 Min.)
Zum Roman: Nomaden von Laetoli
Bestellungen beim ViCON-Verlag

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Video: Zum Kap der Guten Hoffnung (0:59 Min.)
Video: Das Erbe der Diamanten (0:58 Min.)
Video: Sossusvlei – Dünen aus rotem Sand (0:59 Min.)
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Video: Sonnenaufgang überm Ngorongoro (1:00 Min.)
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Video: Im Osten der Indische Ozean (1:00 Min.)
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© H.S. Eglund
  • Hardy Krüger mit Präsident Nyerere (links), rechts mit einem jungen Geparden. © Rowohlt Verlag
  • Oben eines der seltenen Fotos von Margarete Trappe, der Gründerin der Momella Game Lodge. © Rowohlt Verlag
  • Impressionen aus Krügers Bericht: eine glückliche Zeit im Paradies. © Rowohlt Verlag
  • Das Buschhotel zog viele Gäste an, blieb aber immer ein Zuschussgeschäft. © Rowohlt Verlag
  • Momella Lodge heute im Arusha Nationalpark am Mount Meru. © H.S. Eglund
  • Die üppigen Sträucher und Bäume blühen in vielfältigen Farben. © H.S. Eglund
  • Veranda der Lodge, gut beschattet und abseits der Touristenströme. © H.S. Eglund
  • Blick zum Mount Meru, an dessen Fuß die Farm liegt. © H.S. Eglund
  • Abendstimmung in der Savanne. © H.S. Eglund
  • Die Seen spenden ausreichend Feuchtigkeit, so dass auch in der Trockenzeit der Busch niemals verdorrt. © H.S. Eglund
  • Die weißen Rundhütten sind für die Gäste gedacht. Sie bieten eine spartanische Übernachtung im lebendigen Busch. © H.S. Eglund
  • Blick in Richtung der Seen. © H.S. Eglund
  • Am Morgen vor Sonnenaufgang näherte sich eine Giraffe meiner Hütte. © H.S. Eglund
  • Die Giraffe entfernte sich, als ich mich in der Tür zeigte - mit einem Fotoapparat. © H.S. Eglund
  • Die Flamingos von Momella. © H.S. Eglund
  • Wie Kupferkiesel erscheinen sie auf dem klaren, silbrigen Wasser. © H.S. Eglund
Sonntag, 23. Januar 2022

Momella: Eine Farm in Afrika

Im Roman Nomaden von Laetoli beginnt Martin Andersons Reise durch Ostafrika am Mount Meru, auf einer alten Ranch – dem Camp der Archäologen. Von dort bricht er nach Laetoli auf, um die Frühmenschen zu suchen. Momella: Ein Ort der Legenden, von Margarete Trappe bis Hardy Krüger, von Francis Macomber bis zu Aaron Miller.

Ich hatte eine Farm in Afrika, am Fuße der Ngongberge. Damit beginnt Tanja Blixen ihren berühmten Report Afrika – dunkel lockende Welt, der um die Welt ging, später verfilmt mit Meryl Streep als Baronin Blixen und Robert Redford als Großwildjäger Denys Finch-Hatton. Eine Farm in Afrika nannte Hardy Krüger seinen Bericht aus Tansania, untertitelt Mein Momella.

Krüger kam Anfang der 1960er Jahre nach Ostafrika, für den Spielfilm Hatari! An der Seite von John Wayne mimte er einen Jäger, der Giraffen, Nashörner und Elefanten für Zoologische Gärten fing. Damals hieß das Land noch Tanganjika, es hatte gerade erst seine Unabhängigkeit erlangt – von den Briten, die das Terrain zwischen Indischem Ozean und Victoriasee im Ersten Weltkrieg übernommen hatten.

Eine alte Farm an den Seen

Die Filmcrew lagerte damals auf einer alten Farm an den Momellaseen, die heute zum Arusha Nationalpark gehören. Die Gebäude liegen am Fuße des eindrucksvollen Mount Meru, unweit des Kilimandscharo, dessen schneebedeckte Kappe gut sichtbar in der Ferne thront:

Der Kilimandscharo ist ein schneebedeckter Berg von 6.000 Metern Höhe und gilt als der höchste Berg von Afrika. Der westliche Gipfel heißt in Massai „Ngaja Ngai“, das Haus Gottes. Dicht unter dem westlichen Gipfel liegt das ausgedörrte und gefrorene Gerippe eines Leoparden. Niemand weiß, was der Leopard in jener Höhe suchte.

Diese Zeilen stammen aus Ernest Hemingways Erzählung Schnee auf dem Kilimandscharo, die 1936 erschien – und gleichermaßen verfilmt wurde (1952 mit Susan Hayward, Ava Gardner und Gregory Peck). Hemingways zweite Erzählung aus Ostafrika, Das kurze, glückliche Leben des Francis Macomber, spielt gleichfalls in diesem Gebiet.

Howard Hawks Hatari! nahm das Motiv der Großwildjagd wieder auf, brachte mehr Action hinein und landete Anfang der 1961 einen Kinohit. Mit Folgen, denn Hardy Krüger kaufte das verwaiste Anwesen. Die friedliche, blütenprächtige Farm an den Ufern der malerischen Seen erschien ihm wie das Paradies.

Hier hoffte der seinerzeit schon berühmte Schauspieler aus Berlin, eine Heimat zu finden. Glücklich, wer hier leben kann, notierte er in sein Tagebuch. Ich habe mich so in dieses Land verliebt, dass ich unbedingt einen Platz haben wollte, zu dem ich immer wieder zurückkommen kann.

Die legendäre Margarete Trappe

Die Farm am Fuße des Mount Meru hatte einst Margarete Trappe gehört, einer legendären Gestalt aus der Frühzeit der kolonialen Besiedlung durch deutsche Auswanderer. Margarete Trappe wurde auf einem Rittergut in Schlesien als Tochter des Landbesitzers geboren. 1906 wanderte sie mit ihrem Mann Ulrich Trappe nach Deutsch-Ostafrika aus, um eine Farm zu gründen. Zwischen 1909 bis 1927 gebar sie dort zwei Töchter und zwei Söhne, 1928 ließ sie sich von ihrem Ehemann scheiden – und blieb allein auf der Farm.

Margarete Trappe war zwar Farmerin, aber nebenher auch Jägerin und führte Jagdgesellschaften. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm sie die britische Staatsbürgerschaft an, um auf der Farm bleiben zu dürfen. Trappe war unter anderem mit Ernest Hemingway bekannt, ihr Sohn Rolf war ein Patensohn des Schriftstellers.

Die Kaffeefarm der Baronin Blixen

Zudem gehörte Margarete Trappe zum Kreis jener Frauen, die in Kenia und Tanganjika lebten und sich mit den eingeborenen Stämmen gut arrangieren. Trappe wurde aufgrund ihres besonderen Verhältnisses auch als „Mutter der Massai“ bezeichnet. Baronin Tanja Blixen, die weiter nördlich in der Nähe von Nairobi ihre Farm betrieb, galt als Kennerin der Kikuyu, die sie in eindrucksvollen Bildern malte.

Blixen war gebürtige Dänin, sie kam 1913 nach Nairobi, seinerzeit wichtigster Stützpunkt der Briten in Ostafrika. Ihr Anwesen war eine Kaffeeplantage, die aufgrund ihrer Höhenlage von 1.700 Metern über dem Meeresspiegel kaum etwas abwarf. Fast 17 Jahre lang versuchte Tanja Blixen, die Farm zu bewirtschaften, bis sie schließlich aufgab und nach Dänemark zurückkehrte. Dort schrieb sie den oben erwähnten Report, mit dem sie dem Großwildjäger Finch-Hatton – und Ostafrika – ein Denkmal setzte.

Ein amerikanisches Filmteam als Untermieter

Margarete Trappe hatte mehr Glück mit ihrer Farm. Durch alle Widrigkeiten der Jahrzehnte blieb sie dem Landstrich verbunden und starb 1957 auf der Momella Game Lodge. Drei Jahre später vermietete ihr Sohn Rolf das Gelände an Paramount Pictures, für die Dreharbeiten zu Hatari!

Noch während der Dreharbeiten habe ich dieses Gebiet gekauft, … ein Buschhotel, acht weiße Rundhütten, um das Farmhaus.

Hardy Krüger nutzte seine Popularität und den Erfolg von Howard Hawks Filmklassiker, um zahlungskräftige Touristen nach Tansania zu ziehen. Er hatte persönlichen Kontakt mit dem charismatischen Präsidenten Julius Nyerere, der seinerzeit zusammen mit dem Zoologen Bernhard Grzimek einen großen Nationalpark westlich des Mount Meru plante – die heutige Serengeti.

Zwischen seinen Filmaufträgen flog Krüger immer wieder nach Afrika zurück, wo seine Frau und seine beiden Kinder lebten (in zweiter Ehe), verbrachte viel Zeit mit dem Ausbau seines Buschhotels.

Ostafrika als Lehrmeister

1965 gelang ihm ein weiterer Kinohit: In Der Flug des Phönix spielte Krüger einen deutschen Ingenieur, der ein abgestürztes Flugzeug in der Sahara wieder in die Luft bringen will – an der Seite von James Stewart. In dieser Rolle zeigte er eine neue Qualität des Schauspiels, eine Tiefe, die er in Hatari! noch nicht auf die Leinwand gebracht hatte. Vielleicht war die Erklärung dafür in Momella zu suchen, wie er später sagte:

Afrika war für mich zum Lehrmeister geworden. Ich hatte ein ganz anderes Leben kennengelernt. Ich war ruhig geworden in Afrika.

Dauerhaftes Glück war ihm mit seiner Farm ebenso wenig beschieden, wie Baronin Blixen vier Jahrzehnte zuvor: 1973 ging die Momella Game Lodge pleite. Krüger stritt sich mit seinen Geschäftspartnern und wurde enteignet, die Farm ging an den Arusha Nationalpark über. 1983 bekannte er im Interview mit Joachim Fuchsberger:

Das Buschhotel, es wuchs immer größer und wuchs mir über den Kopf. Weil das bin ich nun überhaupt nicht, ich bin überhaupt kein Kaufmann.

Auch seine Ehe ging in die Brüche. Das schwierige Verhältnis zu seinen Kindern beschäftigte viele Jahre lang die Boulevardpresse. Nun, 93-jährig, ist Hardy Krüger im kalifornischen Palm Springs gestorben.

Eine interessante Dokumentation des ZDF aus dem Jahr 2018 zeigt als letztes Bild den Flughafen von Palm Springs, den der Hobbypilot Hardy Krüger bis zuletzt von seinem Anwesen aus im Blick hatte: … der Flughafen, mit der Möglichkeit, wieder schnell in die Welt hinauszuziehen.

Hardy Krüger hat uns mehr als 60 Filme und 20 Bücher hinterlassen. Hatari! und Eine Farm in Afrika – Mein Momella ragen aus dieser beeindruckenden Lebensfülle heraus. Das letzte Fernsehbild schließt den Kreis zu Hemingway, zum Schluss von Schnee auf dem Kilimandscharo:

Dann begannen sie zu steigen, und sie schienen nach Osten zu fliegen, und dann wurde es dunkel, und sie waren in einem Gewitter, und der Regen war so dicht, dass es schien, als ob man durch einen Wasserfall flog, und dann waren sie hindurch, und Compie wandte den Kopf und grinste und deutete vorwärts, und dort vor ihnen, so weit er sehen konnte, so weit wie die ganze Welt, groß, hoch und unvorstellbar weiß in der Sonne war der flache Gipfel des Kilimandscharo. Und dann wusste er, dorthin war es, wohin er ging.

Der Beginn eines neuen Romans

Als ich im Jahr 2000 zum ersten Mal in Momella weilte, faszinierte mich die Nähe zu den höchsten Gipfeln Tansanias. Mich faszinierte das morgendliche Spiel des Lichts auf den Bergen: auf dem grauen, nackten Zackenkamm des Mount Meru und auf dem runden, weißen Haupt des Kilimandscharo, der nur selten aus den Wolken lugt. Die Seen waren klar wie Silber, mit zartrosa Flamingos auf dem Wasser wie Kupferkiesel, und die Giraffen traten ohne scheu bis an die dornigen Büsche vor der kleinen weißen Hütte, in der ich logierte.

In Momella ist es nicht so stickig und heiß wie in der Serengeti oder am Ngorongoro. Es ist nicht so überrannt wie die Hotels zwischen Arusha und dem Victoriasee, in den großen Nationalparks im Westen des Landes. Momella hatte eine eigene, versteckte Magie – still und wenig berührt. Damals kannte ich Krügers Buch noch nicht, auch die Geschichte von Margarete Trappe erfuhr ich erst später.

Das Camp der Archäologen

Aber so viel stand bereits damals fest: Es ist ein wunderbarer Ort. Hier entstand die Idee zu Nomaden von Laetoli. Ich wusste, dass Momella so etwas wie ein Anker sein würde, zumindest für den ersten Teil des Romans – als Camp der Archäologen. Von dort bricht Martin Anderson auf, um Aaron Miller in Olduvai zu treffen. Dorthin kehrt er zurück, um den kauzigen Professor zu beerdigen. Und um sich endlich selbst nach Laetoli aufzumachen, wo Miller die Frühmenschen gesehen hatte. Wo er sie leibhaftig getroffen hatte: eine kleine Familie, das Kind und zwei Erwachsene auf der Flucht vor dem Zorn der Vulkane …

Leseprobe aus Nomaden von Laetoli

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© H.S. Eglund
Samstag, 15. Januar 2022

C’est le vent, Betty

Der französische Regisseur Jean-Jacques Beineix hat nur wenige, dafür wunderbare Filme gedreht. Mit Betty Blue nach einem Roman von Philippe Djian gelang ihm ein unvergessliches Werk, das bis heute inspiriert – und berührt.

Mit 75 Jahren ist Jean-Jacques Beineix in Paris gestorben. Er gehörte zur zweiten Generation der großen Regisseure der Nouvelle Vague, prägend für das europäische Kino der 1980er Jahre.

Der studierte Mediziner begann seine Filmkarriere in den 1960er Jahren, unter anderem als Regieassistent von Jean Becker bei der Fernsehserie Eine französische Ehe (1964). Seinen ersten eigenen Kurzfilm drehte er 1977: Le Chien de Monsieur Michel.

Zwei große Kinoerfolge

Seine größten Erfolge – beide heute mit Kultstatus – wurden Diva und Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen. Für Diva, seinen Erstling aus dem Jahr 1982, erhielt er vier Césars. Betty Blue (1987) wurde als bester fremdsprachiger Film für einen Oscar nominiert.

Die Vorlage lieferte der gleichnamige Roman von Philippe Djian aus dem Jahr 1985, der schnell zu einem internationalen Bestseller avancierte:

Ils avaient annoncé des orages pour la fin de la journée, mais le ciel restait bleu et le vent était tombé.

Sie hatten für den Abend ein Unwetter vorhergesagt, aber der Himmel blieb blau, und der Wind hatte sich gelegt.

So beginnt dieser Roman, in einem Liebesnest an der französischen Küste. Es ist die Geschichte von Betty und Zorg, im Film verkörpert von Beineix‘ Neuentdeckung Beatrice Dalle und von Jean-Hugues Anglade, dem mit diesem Film der Durchbruch als Schauspieler gelang.

Eine moderne Amor fou

Der Roman ist die moderne, französische Version des großen Liebesdramas, zwischen Ekstase, Streit und Verzweiflung, eine Amor fou zwischen Obsession, Sehnsucht und Tod, so einfach und großartig, dass ein Leser der deutschen Ausgabe Mitte der 1990er Jahre beschloss, unbedingt Französisch zu lernen, um das Original zu lesen.

Beineix ist es gelungen, die kraftvolle, literarische Sensation des Romans mit eigener Bildsprache anzureichern. Die beiden Hauptdarsteller – Beatrice Dalle hatte damals keine Erfahrung als Actrice – schrieben Kinolegende. Millionen Zuschauer sahen den Film in den Kinos oder später auf CD; er traf ins Herz, formidable et doux-amer et désespéré, unvergessliche Szenen – und immer wieder der warme Wind vom Meer.

Filmmusik von Gabriel Yared

Diese grandiose Verfilmung wurde durch die Filmmusik von Gabriel Yared auf unerhörte Weise ergänzt, getrieben, untermalt. Selten ist ein Kunstwerk aus Roman, Film und Sound so gelungen, wie in diesem Fall.

So nehmen wir den Tod des Regisseurs zum Anlass, die Scheibe einmal mehr ins Laufwerk zu legen. Écoute, ma petite, c’est le vent!

Filmszene auf Youtube (1)

Filmszene auf Youtube (2)

Filmmusik auf Youtube

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© H.S. Eglund
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Freitag, 7. Januar 2022

Lyrik (II): Die Schläfer von Metropolis

Vor 40 Jahren erschien die englische Lyrikerin Anne Clark wie ein Komet an der Spitze der Music Charts: The Power Game wurde ein Hit, später Sleeper In Metropolis, Heaven oder Hope Road. Spannend bis heute: Ihre leisen Töne – Rilke, Rückert und die Stille, die zwischen den Zeilen schwingt.

So schallte es 1982 aus den Boxen, vom Stakkato einer Hymne unterlegt:

A little less of what you want
And more of what you‘ve got
Is enough to keep you struggling
Without hatching other plots
…
Don‘t tell me how to live my life
Don‘t tell me what to do
Repression is always brought about
By people with politics and attitudes like you!

Die klare, beinahe schneidende Stimme von Anne Clark bohrte sich in die Hirne und die Herzen der jungen Leute, sie traf den Nerv ihrer Zeit – sprichwörtlich. In Großbritannien regierte Maggie Thatcher, in den USA Ronald Reagan – beide Exponenten der erzkonservativen Rechten. Im Kreml siechte der greise Leonid Breschnew dahin, ihr ultralinker Widerpart. Bis zum Aufstieg Gorbatschows sollten noch drei Jahre vergehen.

1982 war das Jahr, in dem Helmut Schmidt seinen Stuhl als Bundeskanzler für Helmut Kohl räumen musste. Und in Ostberlin saßen Erich Honecker und die Stalinisten fest im Sattel. Die Mauer durch Berlin und die Wachtürme an der innerdeutschen Grenze schienen für die Ewigkeit betoniert.

Die Agonie jener Jahre

An dieser Grenzlinie standen sich die Blöcke gegenüber, rüsteten ihre nuklearen Arsenale immer weiter auf. Helmut Schmidt ließ amerikanische Atomraketen stationieren, die Sowjets stellten ihre Systeme dagegen. Der Kalte Krieg drohte, in den heißen Erstschlag zu kippen.

Wie Mehltau, wie Blei legte sich die Bedrohung über die Menschen zu beiden Seiten der Grenze. Die Erkenntnis reifte: So kann es nicht weitergehen. Ein kleiner Funke genügte – und die irdische Zivilisation würde im atomaren Holocaust verglühen.
So begann die Hochzeit der Friedensbewegung – Schwerter zu Pflugscharen!

In Bonn gingen Hunderttausende auf die Straße, demonstrierten im Hofgarten. Im Osten entstanden unzählige kleine Gruppen – vor allem Jugendliche – die sich im Schutz der Kirche Gehör zu verschaffen suchten.

Die Friedensbewegung in Jena, Leipzig, Dresden und Ostberlin stellte den Sinn der atomaren Aufrüstung generell in Frage – im Osten wie im Westen. Das Politbüro reagierte mit Ausweisungen, Abschiebungen und Haft. 1981 starb in Gera der junge Bürgerrechtler Matthias Domaschk durch die Hiebe von Stasi-Schergen.

Verse, wie die Schläge eines Hammers

Und plötzlich diese Verse, wie Schläge eines Vorschlaghammers. Anne Clark, im Mai 1960 in Croydon im Süden Londons geboren, brachte den Frust der Jugend – ihre weltweite Frustration – auf den Punkt. Die elektronischen Takte, mit der sie ihre Lyrik unterlegte, rüttelten auf, rüttelten die Glieder zum Tanz, das war neu und vor allem – echt!

Aufgepasst, hingehört: Hier spricht Dir jemand aus der Seele! Schert Euch doch zum Teufel mit Euren Ideologien, Theorien und Rüstungsetats. Thatcher, Reagan, Breschnew und Honecker – das ist doch eine Mischpoke, sind Seiten derselben Medaille!

Lyrik galt damals als tot oder bestenfalls langweilig, politische Lieder blieben auf Barden mit Klampfe und Mundi beschränkt. Nun kam Anne Clark, deren Rhythmen eine völlig neue Mischung aus Reimen und Noten boten.

Waren das Songs? Eher nicht. Waren das Gedichte? Hm, auch nicht. Zu konkret, zu sehr Hymne und zu wenig den seichten Melodien der Disco-Ära angepasst.

In dem wunderbaren Dokumentarfilm I‘ll walk out into tomorrow, den Claus Withopf 2018 vorlegte, beschreibt sie ihre Kunst so:

I just make music and poetry.

So einfach kann man das sehen. Im Grunde ist es völlig schnuppe, in welche Schublade der Musikkritiker oder der Lyrikkritiker sie passen soll: Ihre Wirkung war unerhört – und seitdem unerreicht.

Und die Ursache? Sie lag in Croydon, damals ein Vorort der armen Pauper, die von Thatchers harten Einschnitten bei den Sozialleistungen an den Rand der Gesellschaft gespült wurden.

Die Gewalt englischer Vorstädte

Die Ödnis solcher englischen Vorstädte ist von Monty Python mit viel Sarkasmus und schwarzem Humor beschrieben worden. Die Realität war erbarmungslos, das gab es nichts zu lachen.

Wie in einem Brennglas bündelten sich die Widersprüche der Lower Class People in der Familie Clark. Ihre Mutter war eine irische Katholikin, der Vater schottischer Protestant. Religion spielte im Alltag keine Rolle, „ich wuchs ohne Religion auf“, wie Anne Clark im Film sagt. „Mein Vater wollte darüber nicht sprechen.“

Der Vater machte Zeit seines Lebens für Gelegenheitsjobs den Buckel krumm, die Mutter haderte mit der immerfort knappen finanziellen Situation. Befragt nach ihren Erinnerungen, hat Anne Clark in erster Linie die Gewalt vor Augen: physische Gewalt zwischen den Eltern, zwischen den Kindern und den Eltern, zwischen ihr und ihrem Bruder.

Jobs und erster Auftritt mit Depeche Mode

Mit sechzehn schmeißt sie die Schule, um verschiedene Jobs anzunehmen. So arbeitete sie als Helferin in einer psychiatrischen Anstalt, wo die Patienten weggesperrt wurden und vegetierten. Sie arbeitete in einem Plattenladen – damals der Fluchtpunkt für viele Jugendliche, die sich innerlich aus dem System verabschiedet hatten. Im Warehouse Theater organisierte sie Auftritte für alternative Bands wie Siouxsie and the Banshees.

Anfang der 1980er trat sie erstmals selbst auf – zusammen mit der soeben gegründeten Band Depeche Mode. Sie textete unter anderem für die BBC und begann, ihre eigene Kunst zu machen – just music and poetry.

Am Anfang habe ich meine Texte zu Punk aufgeführt. Aber ich war immer großer Fan der deutschen Krautrockszene, Tangerine Dream, Kraftwerk – diese Musik beeinflusste mich und die Musiker, mit denen ich arbeitete, enorm. Ich mag auch Klassik sehr gern … Ich versuche, ganz verschiedene Musikstimmungen zusammenzubringen.

Das erläuterte sie im Januar 2018 in einem Interview, anlässlich von Withopfs Dokumentarfilm. Bei der Premiere in der Kulturbrauerei in Berlin humpelte sie auf Krücken zur Bühne (trotz eines Bruchs hatte sie die Reise auf sich genommen) und ließ den Moderator wissen, sie sei kein Star, sondern just an artist.

Erste LP: The Sitting Room

Im Jahr 1982 kam ihre erste Langrille (Langspielplatte) in die Läden: The Sitting Room. Ihre aufrüttelnden Verse wurden mit Keyboards, Synthesizern und Samplern unterlegt. Es folgten die Alben Changing Places, Joined Up Writing und Hopeless Cases – beinahe im Takt der Jahre. Einige ihrer Tracks wurden zu Meilensteinen der modernen Musik, etwa Sleeper in Metropolis, Our Darkness oder Wallies.

Die Texte – Anne Clark‘s poetry – sind von unvergleichbarer Qualität. Ein Beispiel, aus Sleeper in Metropolis:

Outside the cancerous city spreads
Like an illness
It‘s symptoms
In cars that cruise to inevitable destinations
Tailed by the spotlight
Of society created paranoia

No alternative could grow where love cannot take root
No shadows will replace the warmth of your contact
Love is dead in metropolis
All contact through glove or partition
What a waste
The city – a wasting disease

Solche Großstädte gab es auch im Osten, sie gab es überall. Und überall gab es die gleiche Sehnsucht nach der Alternative; die Hoffnung – vielleicht eine naive Hoffnung, na und!? – auf Liebe und Licht.

Die schalen Aussichten auf den grauen Alltag der Eltern und das Damoklesschwert der atomaren Vernichtung erzeugten eine explosive Mischung – die sich in den Dance floors entlud. Einer ihrer Songs auf der Platte Changing Places trägt den bezeichnenden Titel: Poem For A Nuclear Romance.

What will it matter then
When the sky is not blue but blazing red
The fact that I simply love you?

When all our dreams lay deformed and dead
We‘ll be two radio-active dancers
Spinning in different directions
And my love for you will be reduced to powder
…
You don‘t have to sleep to see nightmares
Just hold me close – the closer still
And you‘ll feel the probabilities pulling us apart.

New Wave bringt Anne Clark ganz nach oben in die Charts, alle Sender spielen ihre Stücke, mal mit Text, mal ohne. Doch 1986 bricht der Erfolg über sie herein. Ihr Manager macht sich mit der Tourkasse auf und davon, die Plattenfirma rührt keinen Finger. Über Nacht steht sie vor dem Nichts – und einem riesigen Berg von Schulden.

Sie geht nach Norwegen, in die schneebedeckte Weite der skandinavischen Berge und Täler, suchte really, simple living. I forgot the music. Die Gewalt, die in der Musikindustrie steckt – die in jedem Geschäft steckt, bei dem es um viel Geld geht, überraschte sie, ließ sie eine Weile verstummen.

Ein hoffnungsloser Fall

Aber nicht lange. 1987 erschien die LP Hopeless Cases. Das Stück Hope Road avancierte zum Hit in den USA. Auf dieser Platte findet sich auch das Instrumentalstück Poem Without Words, das sie trotz der Proteste ihrer Plattenfirma Virgin Records in zwei Variationen an den Anfang und das Ende stellte.

Hier, wie in Echoes Remain For Ever, hört man zum ersten Mal die Stille aus ihren Kompositionen. Zweifellos hat die majestätische Endlosigkeit der norwegischen Landschaft einen neuen Fluchtpunkt geschaffen – einen Ruhepunkt – aus dem Anne Clark in den Folgejahren viel Kreativität schöpfte.

Spätere Alben wie R.S.V.P. brachten bekannte Stücke in neuen Arrangements, auf verblüffende Weise wiederentdeckt. 1988 verlegt Anne Clark ihren Wohnsitz endgültig nach Norwegen, erst viel später wird sie nach Norfolk in England zurückziehen.

Eine Welt im Umbruch

Die Agonie zu Beginn der 1980er Jahre ist vorbei, plötzlich macht die Weltgeschichte einen Sprung: In Berlin fällt die Mauer, Deutschland wird wiedervereinigt. Für kurze Zeit scheinen die besten Hoffnungen wahr zu werden. Das Ende von Hochrüstung, Militärblöcken und Armeen scheint gekommen.

Erst 1991 legt Anne Clark eine neue Langrille vor: Unstill Life. Zwei Jahre später folgt The Law Is An Anagram Of Wealth. Die Träume wachsen nicht in den Himmel, und Anne Clark muss den frühen Krebstod eines geliebten Menschen verkraften. Nun werden ihre Lyrik und die Melodien weicher, reifer und bleiben dennoch unterschwellig in der Rebellion verhaftet, im Aufbegehren, in der Suche nach der Alternative.

Sie sucht Trost in den Liedern von Friedrich Rückert, die Gustav Mahler schon vertont hatte, fängt sich in der elegischen Metrik von Rilke – gleichsam das Pendant zur norwegischen Natur. Sie gibt unzählige Konzerte – nun auch im Osten Deutschlands, wo sie eine besonders treue Anhängerschaft hat – bis heute.

Meine Gefühle in der Zeit von 1987 bis 1991 schwankten zwischen Trostlosigkeit, Wut, Enttäuschung und völliger Ekstase darüber, am Leben zu sein. Ich erwachte und sah die Welt in einem ganz neuen Licht, und zwar nicht nur meine eigene, kleine Welt, sondern die ganze weite Welt!

Nicht nur ich machte große Veränderungen durch. Der Fall des Kommunismus war wie ein aufbrechender Damm. In Oslo bekam ich wöchentlich zighundert Briefe von Menschen, deren Leben sich buchstäblich über Nacht verändert hatte – Menschen aus der ehemaligen DDR, Polen, Russland … Ich hatte nicht nur ein immer noch phantastisches und loyales Publikum, sondern dieses Publikum war plötzlich auch riesig angewachsen!

Kein bisschen leiser

Seitdem reißt die Kette ihrer Veröffentlichungen nicht ab, setzt Anne Clark ihre lyrischen und musikalischen Experimente fort. Auch wenn Konzerte und Auftritte durch die Coronakrise vorerst auf Eis gelegt sind, lässt sich ihre Kreativität kaum bremsen. Für das Jahr 2022 – vierzig Jahre nach Erscheinen ihrer ersten Platte – sind wieder Auftritte avisiert.

Wir sind gespannt, sehr Denn die Rebellin ist längst nicht in die Jahre gekommen, zieht sich nicht auf die seichten Töne zurück. Hat sich was verändert? Von Maggie Thatcher führt eine direkte Linie zu Boris Johnson, von Ronald Reagan zu George W. Bush Jr. und zu Donald Trump. Okay, Honecker ist weg, bei uns folgten Angela Merkel und Olaf Scholz.

Don‘t tell me how to live my life
Don‘t tell me what to do
Repression is always brought about
By people with politics and attitudes like you!

Mit den Jahren sind die lyrics von Anne Clark lyrischer und ihre Musik melodiöser geworden, vielschichtiger, nachdenklicher. Weniger Hymne, mehr Stille. Eine Stille, für die es keine Worte und keinen Laut gibt – eine Stille, die das gute Ende in allem ist.

Anne Clarks offizielle Website

Anne Clark – I’ll Walk Out Into Tomorrow (bei good!movies)

Die Textzitate wurden entnommen aus:
Anne Clark: Notes taken, traces left – Fotografien, Texte, Interviews
Schwarzkopf & Schwarzkopf 2003, ISBN 3-89602-463-9

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