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H. S. Eglund

Schriftsteller • Writer • Publizist

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US Navy
Samstag, 11. März 2023

Fukushima – zwölf Jahre später

Im März 2011 schmolzen im Atomkraftwerk Daiichi zwei Reaktoren. Zwölf Jahre später wird deutlich, wie zäh die Atomlobby die riskante Technologie verteidigt. Trotz Krieg in der Ukraine und enormer Kosten für den Rückbau wird an einer Renaissance gewerkelt. Denn noch immer sind Atomkonzerne und Politik aufs Engste verwoben.

Tokio in lähmender Dunkelheit: Als ich zwei Wochen nach der Reaktorschmelze auf dem riesigen Flugfeld von Haneda landete, thronte der schneebedeckte Kegel des Fuji-San über einer düsteren Wüste aus Stein und Beton. Strom wurde rationiert. Um Elektrizität zu sparen, versank die 30-Millionen-Metropole nach der Dämmerung in Finsternis.

Kein guter Ort für einen längeren Aufenthalt. Denn die Nuklide aus den Reaktoren von Fukushima bildeten eine Wolke, die bis nach Tokio schwebte. Ich nahm den nächsten Flug nach Süden, nach Miyazaki. Dort besuchte ich eine moderne Modulfabrik von Solar Frontier. Auch auf dem Rückflug vermied ich es, mich länger als notwendig in Tokio aufzuhalten.

Fukushima im Roman Zen Solar von H.S. Eglund

An der Sicherheit gespart

Der Tsunami war schuld, das Seebeben die Ursache? Nach und nach stellte sich heraus, dass die Katastrophe von Daiichi auf menschliches Verschulden zurückzuführen war. Es hatte Warnungen gegeben, ein Atomkraftwerk so nah an der Küste zu bauen. Es hatte Abstriche gegeben bei den Sicherheitspumpen und den Schutzwällen gegen das Meer. Um das Budget des gigantischen Kraftwerks irgendwie im Rahmen zu halten, wurde an der Sicherheit gespart.

An einer Küste, die seit Menschengedenken bebt und von Tsunamis heimgesucht wird. Nicht das Meer war schuld, als der Tsunami am 11. März 2011 die Flutmauern überrollte und die Pumpen für die Notkühlung der Reaktoren unter Wasser setzte. Das Management des Kraftwerksbetreibers Tepco musste sich diesen Hut aufsetzen, ebenso die Genehmigungsbehörden. Alle hatten fahrlässig gehandelt. Wird schon gutgehen, lautete die Devise – sie wurde abgestraft.

Die Atomlobby formiert sich neu

Auch ein Dutzend Jahre später ist überhaupt nichts gut. Okay, Deutschland hat den Atomausstieg beschlossen. Doch wider besseren Wissens laufen Reaktoren, die hierzulande kein Mensch mehr braucht. FDP und Unionsparteien hören nicht auf, im Hintergrund an einer Renaissance der Atommeiler zu basteln. Deshalb ist das endgültige Aus der verbliebenen Reaktoren in diesem Frühjahr das Gebot der Stunde.

Denn die Atomlobby formiert sich neu, dieses Mal unter dem Deckmantel der Klimakrise. Europas wichtigste Atommächte sind Russland und Frankreich. In beiden Staaten ist die Nuklearwirtschaft aufs Engste mit der Politik verflochten.

Ruinen und halbe Wracks

Frankreich nutzt seinen Einfluss in Brüssel, um Investitionen in Atomkraft mit möglichst billigen Krediten abzusichern. Wohl wissend, dass es aus wirtschaftlichen Gründen keine Rückkehr zur atomaren Stromversorgung geben wird. Die Hälfte der französischen Meiler sind Ruinen, die andere Hälfte halbe Wracks.

Erst kürzlich wurden erhebliche Risse am dritten Reaktor des Atommeilers in Cattenom in Lothringen entdeckt. Die Rohre waren verbraucht. Der zweite Reaktor ist bereits abgeschaltet, vorsorglich sollen dort alle Rohre ersetzt werden.

Bislang größter Korrosionsschaden

Im nordfranzösischen Atomkraftwerk Pleny wurde ein ungewöhnlich langer und tiefer Riss in einem Leitungsrohr entdeckt. Es ist der bislang größte Korrosionsschaden in einem französischen Atomreaktor. Damit setzt sich die Pannenserie fort. Der Atompark der Grande Nation altert und schwächelt, die Stromproduktion sinkt.

Dieser Trend hat Konsequenzen: Der staatliche Energiekonzern EDF steht vor der Pleite, der Elysee-Palast muss den angeschlagenen Konzern stützen. Das wiederum bringt die Staatsfinanzen in Schieflage. Der Versuch, die Kosten auf die Gesellschaft abzuwälzen, trifft auf den Widerstand der Straße.

Die sozialen Folgen des Verfalls

Dass die französische Regierung das Rentenalter heraufsetzen will, reißt die Franzosen auf unliebsame Weise aus einer langen Selbsttäuschung. Solange die Atomindustrie spurte und keine Probleme bereitete, warf die EDF enorme Gewinne ab. Damit finanzierte der Elysee-Palast zum Beispiel die großzügigen Staatsrenten für seine Bediensteten.

Damit ist es nun vorbei. Irgendwann liegt die Rechnung auf dem Tisch. Dieser Zeitpunkt ist gekommen. Nach dem Jubel des atomaren Wunderglaubens der 1960er und 1970er Jahre folgt nun der Katzenjammer. Eine zweite Generation von Atomreaktoren in Frankreich wird es nicht geben. Es sei denn, auf Kosten der Sicherheit – wie in Tschernobyl, wie in Fukushima.

Leseprobe aus Zen Solar:
Der Tsunami erreicht Japans Küste (pdf)

Sechs neue Reaktoren für Pleny

So versprach Frankreichs Präsident Macron, noch während seiner Amtszeit den Grundstein für sechs neue Reaktoren in Pleny zu legen. Wenn sie jemals gebaut werden, sind sie bestenfalls ein Feigenblatt. Denn 26 der 56 französischen Atomkraftwerke sind derzeit für Wartungen und Reparaturen abgeschaltet.

Jeder Ingenieur weiß: Schäden durch Korrosion vergrößern sich, je länger ein Kraftwerk läuft. Um wenigstens das Notwendigste zu reparieren, ließ die EDF unlängst hundert Schweißer aus Amerika einfliegen, um die Risse zu flicken. Das kostet Milliarden, und Frankreich muss derzeit 15 Prozent seines Strombedarfs durch Importe decken – unter anderem mit Strom aus deutschen Kohlekraftwerken und Windparks.

Eine Sackgasse ohne Ausweg

Die Atomkraft ist in eine Sackgasse geraten, aus der sie nicht mehr entkommt. Denn längst werden die Strompreise von Windkraft und Solarenergie dominiert, stehen preiswerte Alternativen bereit. Umso schlimmer, dass Frankreichs Präsident Macron nichts unversucht lässt, der Renaissance der Atomkraft das Wort zu reden.

Mehr noch: Innerhalb der Europäischen Union versucht er, eine nukleare Allianz zu schmieden. Elf europäische Länder mit Frankreich an der Spitze haben Ende Februar eine Koalition zur Förderung der Atomenergie verabredet. Sie soll der desolaten französischen Atomwirtschaft neue Aufträge verschaffen.

Das strahlende Erbe der Wismut AG

Was Macron – und alle Apologeten der Atommeiler – gern verschweigt, sind die Folgekosten. Anders als Deutschland schert sich Frankreich keinen Deut um die enormen Verseuchungen, die der Uranabbau in Mali oder Namibia verursacht. Von Rückbau ist überhaupt nicht die Rede.

Dagegen Deutschland: Im Zuge der Wiedervereinigung übernahm die Bundesrepublik das strahlende Erbe der Wismut AG, die von 1945 bis 1990 in Sachsen und Thüringen nach Uranerz buddelte. Sie war einer der größten Produzenten von Erz, aus dem sich der nukleare Sprengstoff für Reaktoren und Bomben anreichern lässt – Uran und Plutonium. Geliefert wurde in die Sowjetunion.

Hörprobe aus Zen Solar:
Der Tsunami erreicht Japan (gelesen von Felix Würgler)

Zehn Milliarden Euro für den Rückbau der Gruben

Mittlerweile ist die Hinterlassenschaft weitgehend versiegelt und bereinigt. Knapp zehn Milliarden Euro hat Deutschland bislang ausgegeben, um die früheren Uranreviere in Ostdeutschland notdürftig zu sichern.

Der atomare Müll wurde in tiefe Schächte verklappt oder einfach abgedeckt und begrünt. Drei Jahrzehnte hat diese Mammutaufgabe gedauert. Das Monitoring ist zunächst bis 2050 gesichert und finanziert.

Eine Warnung an die Freunde der Atomkraft

Dieser einzigartige Sanierungsfall sollte den Freunden der Atomkraft eine Warnung sein. Denn in diesen Kosten ist der Rückbau der ostdeutschen Atomreaktoren russischer Bauart oder der westdeutschen Meiler nicht eingepreist.

Das kommt obenauf. Auch nicht eingepreist sind die wirtschaftlichen Verluste, die von der Wismut während des aktiven Bergbaus verursacht wurden. Denn die Sowjets nahmen das Erz zu Spottpreisen ab. Anders hätten sie ihr atomares Arsenal und die Meiler zwischen Saporoshija und Wladiwostok niemals finanzieren können.

Jedes Jahr hat die Wismut rund eine Dreiviertelmilliarde Ostmark Verlust gemacht, den Ostberlin ausgleichen musste. Sie war der wirtschaftliche Sargnagel für die kleine DDR. Heute wächst sich die Atomkraft zum Sargnagel der Staatsfinanzen in Frankreich, Russland, China oder den USA aus.

Purer Kolonialismus im Uranbergbau

Franzosen und Belgier beziehen den atomaren Brennstoff vornehmlich aus Gruben in Mali und Namibia. Dort leben und arbeiten die Menschen unter unwürdigen Bedingungen. Silikose und Krebs grassieren, die Kumpel sterben früh und die Folgekosten werden auf ohnehin arme Länder abgewälzt. Das ist purer Kolonialismus und eine der Ursachen für den anhaltenden Bürgerkrieg in Mali.

Das Gleiche gilt für die Urangruben in Kasachstan, aus denen sich die russische Atomwirtschaft bedient. Wie in Frankreich steht sie vor einem Scherbenhaufen. Die Wracks atomarer U-Boote verrotten in abgelegenen Fjorden am Eismeer und in Fernost. Das bekannte Atomtestgelände von Semipalatinsk musste geschlossen werden, weil sich sogar die Militärs vor der enormen radioaktiven Strahlung gruselten.

Der Mantel des Schweigens

Über die Krebsraten und radioaktive Lecks im Umfeld russischer Atomreaktoren legt sich ein Mantel des Schweigens. Von Rückbau oder Sanierung ist keine Rede, das würde die Staatsfinanzen des Kremls endgültig überfordern. Die kasachische Wüste wurde lediglich eingezäunt.

Am Friedhof der Atom-U-Boote warnen verwitterte Holzschilder vor der Gefahr von Verstrahlung. Wer protestiert, wandert ins Arbeitslager. Deshalb hat Putin den Gulag wiederbelebt, deshalb eifert er seinem Vorbild Stalin nach: Um Kritiker mundtot zu machen. Mehr als 25.000 Oppositionelle sind in den Gefängnissen Russlands verschwunden.

Alle Atommächte haben das gleiche Problem

Frankreich hat ein ähnliches Problem wie Russland – wie alle Atommächte. Die Atomwirtschaft ist ökonomisch am Ende. Irgendwann wird irgendwer den Franzosen reinen Wein einschenken, das ist in einer freien Gesellschaft unvermeidlich.

Autokratische Herrschaftssysteme wie in Russland oder China pflegen die Friedhofsruhe, um ihre enormen Probleme zu vertuschen. Gelöst sind sie damit nicht. Auch für Moskau und Peking gilt: Irgendwann kommt die Rechnung auf den Tisch, wird Zahltag anberaumt.

Das Wasser bis zum Hals

Dass der russischen Atomwirtschaft das Wasser bis zum Hals steht, ist kaum zu übersehen. Anders ist nicht zu erklären, warum sich die Russen eines der modernsten AKW in der Ukraine unter den Nagel gerissen und ans russische Stromnetz angeschlossen haben. Die sechs Reaktoren von Saporoschija wurden zum Kriegsziel erklärt – Beute für Putins ausgehöhlten Atommoloch.

In der Zukunft ist damit kein Staat zu machen. Dass die Atomkraft von der Bildfläche verschwindet und ihr nuklear verseuchter Atem erlischt, ist jedoch kein Selbstläufer. Noch halten ihre Apologeten die Mär vom sauberen Atomstrom aufrecht. Und genügend Enthirnte plappern diesen Unsinn gedankenlos nach.

Die Energiewende muss gelingen!

Nur wenn es Deutschland gelingt, seine Energieversorgung hundertprozentig erneuerbar zu gestalten, wird der Ruf nach neuen AKW verstummen. Wegen des Krieges in der Ukraine wurden bundesweit 14 ausrangierte Kohlekraftwerke neu angefahren. Schmutziges Erdgas aus Ölschiefer in den USA und flüssiges Gas der Scheichs wurden als kurzfristiger Ersatz beschafft.

Sie müssen möglichst schnell durch Windstrom, Solarstrom, Wasserkraft, Strom aus Biogas und Wasserstoff ersetzt werden. Dann, nur dann, werden sich wirklich saubere Alternativen weltweit durchsetzen.

Die Chance des Vorreiters

Es ist Deutschlands Chance, Vorreiter zu sein. Neue Industrien zu entwickeln, die zukunftsfähig sind. Konzepte, um unsere starke Wirtschaft im globalen Vergleich wettbewerbsfähig zu machen. Und damit als Volkswirtschaft handlungsfähig zu bleiben, um den Wohlstand für kommende Generationen zu sichern.

Three Mile Island (1979), Tschernobyl (1986), Fukushima (2011): Wollen wir hoffen, dass der Menschheit ein weiterer Reaktor-GAU erspart bleibt. Grüne Kraftwerkstechnologien sind vorhanden und wirtschaftlich machbar. Das ist ein echter Lichtblick: So sehr hat sich die Welt in den zurückliegenden zwölf Jahren verändert.

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Der Roman Zen Solar von H.S. Eglund

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H.S. Eglund
Sonntag, 26. Februar 2023

Nomaden von Laetoli: Premiere am 29. April 2023 in Leipzig

Drei Jahre lang fiel die Buchmesse aus. Endlich findet sie wieder statt. Eglund stellt seinen neuen Roman Nomaden von Laetoli am 29. April 2023 im Budde-Haus in Gohlis vor. Ein verspätete Premiere mit Lesung und Diskussion. Die Veranstaltung ist kostenfrei.

Die Leipziger Premiere des neuen Romans Nomaden von Laetoli von H.S. Eglund findet am 29. April 2023 um 19 Uhr im Saal des Budde-Hauses statt. Die Kulturvilla befindet sich am Gohliser Bahnhof in der Lützowstraße 19 in 04157 Leipzig. Für Getränke ist gesorgt. Zur Anfahrt werden öffentliche Verkehrsmittel empfohlen. Der S-Bahnhof Gohlis befindet sich fünf Minuten zu Fuß entfernt.

Nähere Informationen zum Veranstaltungsort:
Budde-Haus Soziokulturelles Zentrum Leipzig-Gohlis

Flyer zum Merken und Versenden an Freunde und Bekannte

Der Roman im ViCON-Verlag

Blog & Website des Autors H.S. Eglund

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H.S. Eglund
Samstag, 4. Februar 2023

Ratgeber zum solaren Eigenstrom in dritter Auflage

Der bekannte Ratgeber aus dem VDE Verlag für private und Gewerbekunden erscheint vor Weihnachten in der dritten und aktualisierten Auflage. Das neue EEG wurde ebenso berücksichtigt, wie technische Trends und neue Geschäftsmodelle zur Versorgung mit solarem Eigenstrom.

Das Sachbuch Energie im Wohngebäude des VDE Verlags ermöglicht Leserinnen und Lesern den ganzheitlichen Zugang zum Wohngebäude und seiner Versorgung mit Strom, Wärme und Wasser. Sämtliche Prozesse, die energetisch im Wohnhaus eine Rolle spielen, werden auf ihre Notwendigkeit, Potenziale und Einsparmöglichkeiten untersucht.

Dazu analysiert und beschreibt Autor Heiko Schwarzburger ausführlich die Ressourcen von Gebäude und Umfeld – und wie sie sich für eine weitgehend autarke Versorgung nutzen lassen.

Verbrauch und Kosten senken

Im Blickpunkt stehen die Senkung des Energieverbrauchs und der Kosten, die Erzeugung und Bereitstellung von Energie aus erneuerbaren Quellen, die Energiespeicherung sowie der Abschied von Erdgas und Heizöl – betrachtet im Neubau und in der Modernisierung. Auch die Versorgung mit Wasser wird behandelt, sofern sie energetische Fragen berührt.

Der Autor weist auf Normen und Vorschriften hin und gibt praktische Hinweise für Planung und Installation, ergänzt durch eine Fülle an Bildmaterial. Das neue EEG 2023 ist in dieser aktualisierten und erweiterten Auflage berücksichtigt.

Auch als E-Book erhältlich

Das Werk wendet sich gezielt an Fachleute, die vor der Aufgabe stehen, ein Gebäude zu planen, zu modernisieren oder zu errichten, das eine zukunftsfähige, effiziente und kostensparende Versorgung mit Strom und Wärme realisiert. Das Buch ist auch als E-Book erhältlich.

Es ist beim Verlag unter der auf angegebenen Website oder mit der ISBN-Nummer in allen gut sortierten Buchhandlungen bestellbar. Fachbücher lassen sich als Fachliteratur steuerlich absetzen.

Schwarzburger, Heiko:
Energie im Wohngebäude: Strom • Wärme • E-Mobilität
3. erw. und überarb. Auflage, VDE Verlag 2022
Buch: ISBN 978-3-8007-5913-2
E-Book: ISBN 978-3-8007-5914-9
Preis: 42 Euro

Leseproben und Bestellungen

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UKAEA
Sonntag, 29. Januar 2023

Atomkraft: Merz und Lindner spielen Hängepartie

Raus oder rein, oder Stand-by? Wenn es um die Zukunft der Atomkraft geht, verstecken sich die Unionsparteien und die FDP hinter nebulösen Floskeln. Bedenkenlos spielen sie mit nuklearen Risiken – zumindest gedanklich. Derweil fließen in Fukushima rund eine Million Tonnen radioaktives Abwasser ins Meer.

Der Rückbau des havarierten Reaktors in Fukushima wird Japan noch Jahrzehnte beschäftigen. Nun hat der Betreiber des Kraftwerks angekündigt, rund eine Million Tonnen radioaktiv verseuchter Abwässer ins Meer zu leiten.

Nachbargemeinden schlagen Alarm

Denn jeden Tag fallen etwa hundert Kubikmeter an, aus der Notkühlung des Unglücksmeilers. Ein Dutzend Jahre nach der Katastrophe reichen die Tanks in Fukushima nicht mehr aus, um das kontaminierte Wasser zu lagern.

Fischer und Nachbargemeinden schlagen Alarm, die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) in Wien wiegelt ab. Das Wasser sei durch Filter weitgehend von radioaktiven Nukliden befreit. Lediglich der Wert für Tritium liege über den erlaubten Grenzwerten.

Betreiber Tepco und IAEO wiegeln ab

Dass Betreiber Tepco und die IAEO abwiegeln, ist überhaupt nicht neu. Tepco hat unmittelbar nach dem verheerenden Tsunami und der schweren Explosion im März 2011 die Situation als unkritisch bezeichnet.

Nur langsam kam das Ausmaß der Schäden ans Licht. Und die IAEO ist bislang stets den Ereignissen hinterher gelaufen, ob in Three Mile Island (USA, 1979), in Tschernobyl (Sowjetukraine, 1986) oder Fukushima (Japan, 2011).

Seltsame Töne aus der Klausur

Auch CDU/CSU und FDP scheinen den Ereignissen hinterher zu hinken. CDU-Chef Friedrich Merz tönt auf der Klausurtagung seiner Partei, dass man zwar den Atomausstieg nicht in Frage stelle. Aber man wolle die Erforschung von „Kernenergie 2.0“ vorantreiben.

Aus der Chefetage der FDP wurde beim Dreikönigstreffen verlautbart, dass man den endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft einer „Expertengruppe“ übertragen solle. Sie solle entscheiden, ob Deutschland wirklich aus der Verstromung von Uranbrennstäben aussteigt.

Die Sache ist längst entschieden

Wohlgemerkt: Es geht um die Abschaltung der letzten drei Reaktoren in Deutschland, die bereits entschieden ist. Ausnahmsweise dürfen sie bis ins Frühjahr weiterlaufen, um französische Versorgungslücken zu decken.

Denn die Hälfte der französischen Atommeiler wurde abgeschaltet, weil sie Schrotthaufen sind. Die andere Hälfte ist gleichfalls Schrott, darf oder muss aber weiterlaufen.

Weil der Elysee-Palast den Volksaufstand fürchtet, wenn man den Franzosen reinen Wein einschenkt. Wenn sich die Mär vom billigen Atomstrom als Milliardengrab für die Staatsfinanzen offenbart.

Der doppelzüngige Herr Merz

Die merkwürdige Ansage von Friedrich Merz zeigt, dass er weder die ökonomische Dimension des Atomausstiegs versteht, noch die soziale. Einerseits führt er den Ausstieg im Mund, zugleich ruft er nach der Erforschung neuer Atomtechnik.

Früher, also vor vielen Jahrzehnten, galt die CDU als Partei der Wirtschaft, als kompetent in ökonomischen Fragen. Friedrich Merz beweist, wie weit sich die Union davon entfernt hat. Es macht überhaupt keinen Sinn, neue Atomtechnik zu erforschen, wenn der Ausstieg beschlossen ist.

Es macht auch keinen Sinn, weiterhin an Motoren zu forschen, die Benzin oder Diesel verbrennen. Wenn feststeht, dass die Erzeugung von Kohlendioxid beendet wird, braucht dafür niemand mehr ein Budget. Mit der Atomkraft ist es genauso.

Atomforschung verschlingt den Löwenanteil

Noch macht die Atomforschung im Energieprogramm der Europäischen Union den Löwenanteil aus. Zur Kernspaltung laufen die Forschungen weiter. Auch der unsägliche Fusionsreaktor Iter wird weiter gebaut und erprobt.

Gelegentlich geistert das Thema durch die Medien, als Untote der Nuklearphysik. Unlängst jubelten amerikanische Forscher, dass bei der laserinduzierten Kernfusion ein Durchbruch geschafft sei.

Das war weder neu, noch hat es die Aussichten auf wirtschaftlich funktionierende Fusionskraftwerke verbessert. Einmal mehr wurde die Lüge verbreitet, dass solche Reaktoren keine Radioaktivität erzeugen, und so weiter.

Plumper Stimmenfang der Union

Die Fusionsforscher und Fritze Merz eint: Sie wollen mit dem Reizthema Energie punkten. Die einen brauchen (noch) größere Maschinen, Laboratorien und Forschungsbudgets. Die Union geht damit auf Stimmenfang.

Das ist so durchsichtig wie peinlich. Denn es offenbart, das wirtschaftliche und soziale Kompetenz der CDU und CSU – und der FDP – abhanden gekommen sind. Denn dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt, hat zuallererst wirtschaftliche Gründe. Daran ändern auch die steigenden Energiepreise durch den Krieg in der Ukraine nichts.

Rückbau verdoppelt die Kosten

Das Problem sind der Rückbau der kerntechnischen Anlagen und die Endlagerung des Atommülls, siehe Fukushima. Eine Million Tonnen radioaktive Abwässer ins Meer zu verklappen, ist für Tepco der einzige und billigste Weg, das strahlende Zeug loszuwerden.

Nur wenigen ist bekannt, wie teuer der Rückbau von Atomanlagen ist. Die Sanierung des Uranbergbaus in Sachsen und Thüringen hat in den vergangenen drei Jahrzehnten rund neun Milliarden Euro verschlungen. Umgerechnet auf die Tonne Uran, die aus dem Erzgebirge geholt wurde, verdoppeln sich die Kosten.

Endlagerung macht es noch teurer

Was für den Bergbau gilt, gilt auch für Kraftwerke. Soll heißen: Um den Rückbau zu finanzieren, müssten die Betreiber für jede Kilowattstunde Atomstrom den Kundenpreis als Rücklage bilden. Sofort fällt ins Auge, dass auf diese Weise überhaupt kein Gewinn zu machen ist.

Dabei ist die Endlagerung des Atommülls noch nicht eingepreist. Lediglich für den Rückbau der bestehenden Anlagen und Lager für abgebrannte Brennstäbe oder radioaktiv kontaminierten Schutt oder Schrott gibt es belastbare Erfahrungswerte.

In Sachsen und Thüringen wurden die radioaktiven Halden in die Gruben verfüllt, strahlender Schrott in aufgelassene Schächte gekippt: Deckel drauf und aus der Traum! Doch wohin mit den Brennstäben? Mit den strahlenden Materialien aus dem Reaktor? Tepco bleibt die Antwort schuldig, was mit den strahlenden Rückständen aus den Filtern geschieht.

Ein regelrechter Cocktail

Einmal aus dem Berg geholt, strahlen die Nuklide so lange, wie es die Halbwertszeit bestimmt. Das Isotop Uran-235 braucht 700 Millionen Jahre, U-238 gar viereinhalb Milliarden Jahre, bis die Hälfte der strahlenden Masse zerfallen ist.

Plutonium, das aus Uran-238 gewonnen wird, hat eine Halbwertszeit von 24.000 Jahren. Daneben fallen Strontium, Zäsium, Jod oder radioaktives Kalium an. Die Atomkraft hinterlässt einen regelrechten Cocktail, der sich nicht einfach beerdigen lässt. Erst recht nicht wegreden.

Folgekosten fressen alle Gewinne auf

Es wird deutlich: Die Folgekosten fressen mehr als die Gewinne auf, die jemals mit Atomstrom erzielt wurden. Ist eine feine Sache, denn die Gewinne flossen in die Taschen der Energiekonzerne und ihrer Aktionäre.

Auf den Folgekosten bleibt die Gesellschaft sitzen. Das berappen die Steuerzahler. In Frankreich würde es tatsächlich zum Aufstand kommen, wenn einigermaßen realistische Summen bekannt würden, die zum Rückbau von 56 Atomkraftwerken benötigt werden.

Je mehr Atomreaktoren, desto näher rückt die Pleite

Man kann durchaus sagen: Je mehr Atomreaktoren ein Land betreibt, desto näher gerät es an die Staatspleite. Und es wird verwundbarer, das hat die russische Invasion in der Ukraine gezeigt.

Deshalb steigt Deutschland aus der Atomkraft aus, das ist des Pudels Kern. Nur der Umstieg auf erneuerbare Quellen wie Sonne und Wind stellt dauerhaft erschwingliche Energiepreise in Aussicht, macht die Wirtschaft unabhängig von fossilen oder nuklearen Importen.

Hängen an alten Zöpfen

Union und FDP zeigen, dass sie sich schwer tun, die alten Zöpfe abzuschneiden. Dass Deutschland mit dem Ausstieg im internationalen Vergleich keinen Sonderweg geht, belegen jüngste Zahlen der IAEO.

Ende 2022 liefen weltweit noch 422 Atomreaktoren. Ende 2002 waren es 444 gewesen. Im Vergleich zu 2006 stagniert ihre Stromproduktion bei rund 2.650 Terawattstunden. 2022 gingen etliche Schrottreaktoren in Frankreich temporär vom Netz, also dürfte die Stromerzeugung weiter sinken.

Nur sechs neue AKW in 2022 – weltweit

Im vergangenen Jahr wurden weltweit sechs AKW in Betrieb genommen, fünf offiziell abgeschaltet. Fünfzehn stillgelegte Meiler in Japan wurden klammheimlich aus der Statistik bereinigt. Der Bau von sieben neuen AKW wurde begonnen. Allein 1970 wurden weltweit 37 neue Atommeiler in Angriff genommen.

Die Atomtechnik ist in die Jahre gekommen, das steht fest. Offensichtlich ist es wirtschaftlich kaum möglich, eine zweite Generation von Reaktoren zu bauen und im Strommarkt zu etablieren.

Die Kosten für Rückbau und Endlagerung, sowie die Preiskonkurrenz der erneuerbaren Energien beenden dieses schmutzige Geschäft. Nicht einmal die Reparatur von bestehenden Anlagen lohnt sich – siehe Frankreich. Dort ruft EDF nach staatlichen Subventionen, die der Elysee-Palast schlichtweg nicht aufbieten kann.

Die Ritter von der traurigen Gestalt

Wer ist Friedrich Merz? Der Ritter von der traurigen Gestalt, der auf seinem Klepper Rosinante gegen Windmühlen anrennt. Wie Markus Söder von der CSU übrigens auch.

Und Christian Lindner ist der treue Schildknappe Sancho Pansa. Im bekannten Roman erkennt Don Quichotte am Ende seinen Irrtum und stirbt. Ideen von Gestern ist das gleiche Schicksal beschieden.

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© Dieter Hartwich
  • Cover der Werksschau: Aus dem Stück Personne (2021). © Laurent Goldring
  • Harvest, eine Arbeit aus dem Jahr 2021. © Dieter Hartwig
  • Aus der Arbeit: Solo for Lea (2016) © Isabelle Schad
  • Detail aus Solo for Lea (2016) © Isabelle Schad
  • Solo for Claudia and Josephine (2022) © Dieter Hartwig
  • Isabelle Schad präsentiert das druckfrische Exemplar ihrer Werksschau WITH. © Dieter Hartwig
Samstag, 28. Januar 2023

Isabelle Schad WITH: Tanz drucken, Tanz beschreiben

Neuerdings passt die Tanzbrigade der Berliner Choreografin zwischen zwei Buchdeckel. Kurz vor Jahresende erschien eine Werksschau, die zehn Jahre überblickt. Die zahlreichen Projekte füllen viel mehr als nur Seiten aus Papier. Eine Empfehlung.

Sie arbeitet mit Solistinnen und Solisten, choreografiert Gruppen oder steht selbst auf der Bühne: Mittlerweile ist Isabelle Schad ein feststehender Begriff der Berliner Tanzszene.

Weit über die Grenzen der Stadt hinaus hat sie sich einen Namen gemacht und zahlreiche Preise eingeheimst. Ihre fein ausgearbeiteten Projekte bieten eigene Ästhetik, aus Körpersprache und Bewegung.

Der Kontrast von hell und dunkel

Kontraste spielen eine große Rolle: Helle Leiber vor dunklem Hintergrund, entblößt von störender Bekleidung, vom bewegten Einzelakt zum wimmelnden Gruppenbild, eigenem Rhythmus folgend, verblüffende Mechanik von Armen, Beinen, Händen, Füßen, Köpfen und Haar.

Nun erschien eine gedruckte Werksschau, die einen schönen Überblick über die vielfältigen Arbeiten ihrer Künstler und Gruppen bietet. Schön, weil die Bildsprache der großformatigen Fotos die typische Ästhetik von Schads Bühnenarbeiten aufnimmt und komprimiert.

Eine Idee aus kargen Zeiten

Tanz zu drucken, ist so schwer, wie über Tanz zu schreiben. Hier geht es lediglich um den Katalog, nicht um die Arbeiten auf der Bühne. Die Idee zur Monografie entstand in kargen Zeiten, als Corona die Tanztheater schloss. Dass der Katalog schließlich vollendet wurde, zeugt vom Durchhaltewillen der Künstlerin, ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter.

Das Buch ist ein Gewinn. Es ergänzt die Präsenz auf der Bühne durch eine spannendes Schau ihrer Choreografien aus dem vergangenen Jahrzehnt. Entstanden ist eine gelungene Mischung aus Fotos und Texten. Nicht nur das Auge wird gefüttert, auch das Hirn.

Wer die Arbeiten Isabelle Schads nicht kennt, wird durch das Buch inspiriert. Daran besteht kein Zweifel. Und für alle, denen ihre Stücke bereits vertraut sind, dürften Bilder und Beschreibungen die bestehenden Eindrücke vertiefen.

Kollektive Kreativität als roter Faden

Besonders auffällig ist der Gedanke von kollektiver Kreativität. Einem roten Faden gleich durchzieht er das Buch und die darin vorgestellten Projekte. Der Titel Isabelle Schad WITH umreißt den Anspruch der Choreografin, die sich stets als Teamplayer begreift. Früher hätte man Volkskunstkollektiv gesagt oder eben Tanzbrigade. Das ICH tritt hinterm WIR zurück, in aller Bescheidenheit.

So gerät die Werksschau ein Stück weit zum Brigadetagebuch, wird lebendig, denn es stellt den Schaffensprozess in den Mittelpunkt. Vordergründig geht es nicht um die schlussendliche Präsentation auf der Bühne, sondern um die fortwährende Ausgestaltung der Choreografien in der Gruppe. Manchmal besteht das Team nur aus ihr selbst und/oder einer Solistin. Manchmal schweben zwanzig Künstlerinnen und Künstler durch den Saal.

Die Liste der Mitwirkenden ist lang, sehr lang. Dennoch erscheint der Katalog aus einem Guss. Wohltuend: Alle Texte liegen auf Deutsch und Englisch vor. Freilich, die erstklassigen Fotos brauchen keine Übersetzung.

Denn Schads choreografischer Stil wird weltweit verstanden, auch ohne Worte. Kurzes Fazit: Tanz drucken, Tanz beschreiben – dieses schwierige Unterfangen ist mehr als gelungen.

Isabelle Schad WITH
Sprache: Englisch und Deutsch
280 Seiten, Preis: 28 Euro
ISBN 978-3-00-073919-4

Mehr Infos und Bestellungen finden Sie hier.

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© H.S. Eglund
  • Blick aufs Haff von der Terrasse. © H.S. Eglund
  • Schautafel am Weg zum Sommerhaus. © H.S. Eglund
  • Ochsenblut und Niddener Blau. © H.S. Eglund
  • Pegasus überm First. © H.S. Eglund
  • In der Ausstellung wird die Familie Mann thematisiert. © H.S. Eglund
  • Die Räume sind didaktisch klug gegliedert. © H.S. Eglund
  • Fotos und digitale Elemente wechseln sich ab. © H.S. Eglund
  • Die Familie Mann brachte einige bekannte Namen hervor. © H.S. Eglund
  • Holt längst vergangene Zeiten herauf: Ausstellung im Innern des Domizils. © H.S. Eglund
  • Vom Haus führt eine Terrasse zum Park, der das Haff überblickt. © H.S. Eglund
  • Hier kann man die Welt vergessen, durchaus. © H.S. Eglund
  • Der spröde Charme des Baltikums. © H.S. Eglund
Mittwoch, 11. Januar 2023

Ein Hauch von Ewigkeit: Thomas Mann in Nida

Das frühere Ferienhaus des Schriftstellers befindet sich auf der Kurischen Nehrung. Den Nazis diente es als Jagdhütte und Lazarett. Die Besetzung durch die Sowjets überstand es knapp. Heute birgt es ein feines Kulturzentrum – und wird erstaunlich gut besucht.

Magische Landschaft: Im Jahr 1929 Jahre war Thomas Mann nach Königsberg gereist, denn der arrivierte Autor suchte Abstand. Abstand zu den krisengeschüttelten Metropolen seines Heimatlandes.

Hinter ihm lagen der Erste Weltkrieg und ein düsteres Jahrzehnt von Revolution, Putsch und Weltwirtschaftskrise. Deutschland war in Aufruhr, nirgends kam er zur Ruhe.

Spröde, karge Landschaft

Von Königsberg reiste Mann mit seiner Familie nach Rauschen weiter, einem mondänen Badeort an der Ostsee. Die spröde, karge Landschaft des Baltikums faszinierte ihn. Bei einem Ausflug auf die Kurische Nehrung schien der Ort gefunden, der Stille und Abgeschiedenheit versprach: Nidden, damals zu Litauen gehörig.

Am Ende der Welt

In Nidden, heute Nida, ließ Thomas Mann ein Sommerhaus errichten, am bewaldeten Hang einer hohen Düne. Von dort hatte er einen wunderbaren Ausblick auf das Kurische Haff: Vor sich das Haff, hinter sich die Ostsee. Die Nehrung ist recht schmal, an manchen Stellen nur einige hundert Meter breit. Sie macht das brackige Haff zum Binnenmeer.

Wer heute auf die Nehrung fahren will, muss in Kleipeda die Fähre benutzen. Seit die Hafeneinfahrt ausgebaggert und verbreitert wurde, ist die Nehrung faktisch eine langgezogene Insel.

Ihr südliches Ende ist versperrt, denn dieser Teil der sandigen Dünenbank gehört zur russischen Exklave von Kaliningrad, früher Königsberg. Normalerweise rege von Tagestouristen frequentiert, ist der Grenzübergang seit Februar 2022 verwaist. Russland hat den Grenzverkehr dichtgemacht, hier ist die Welt zu Ende.

Nötiges Kleingeld durch den Nobelpreis

Das Grundstück erlaubt den nahezu unbegrenzten Blick auf das Kurische Haff, das die Nehrung vom Festland trennt. Es liegt still, irgendwie verschlafen, man möchte sagen: zeitlos. Das nötige Kleingeld für den Bau der geräumigen Sommerkate floss im Dezember 1929: Für seinen Roman Buddenbrooks erhielt Thomas Mann den Nobelpreis für Literatur.

Joseph und seine Brüder

Von 1930 bis zur Emigration im Jahr 1933 verbrachte die Manns in Nidden ihre Sommerferien. Während der Aufenthalte entstanden Artikel und Briefe, schrieb der Meister an Joseph und seine Brüder, seinem Opus Magnus.

Zwischen 1933 und 1943 erschienen insgesamt vier Bände. Zwei wurden im Ausland geschrieben, ebenso im Ausland publiziert. Denn Thomas Mann stand – wie Klaus Mann und Heinrich Mann – auf der Schwarzen Liste der Nazis. Als die Braunhemden an die Macht kommen, flieht er mit seiner Frau Katja und den Kindern in die Schweiz, kurzzeitig nach Frankreich, später in die USA.

Onkel Toms Hütte an der Ostsee

Die Einheimischen bezeichneten das Anwesen des bekannten Dichters als Onkel Toms Hütte, in Anspielung auf den Roman von Harriet Beecher Stowe. Das Seebad Nidden bekam durch die Anwesenheit der Familie Mann eine kostenlose Werbung, wurde zum Mekka der Literaturszene.

Die Nazis erreichen Nidden

Im Sommer 1932 war die Idylle zu Ende. Die Nazis bedrohten Thomas Mann, schickten ihm ein angekohltes Exemplar der Buddenbrooks ins Feriendomizil. Weder der Schriftsteller, noch seine Familie kehrten später nach Nida zurück.

Im Jahr 1939 wurde das einstige Memelland, das nach dem Ersten Weltkrieg an Litauen gefallen war, von der Wehrmacht besetzt. Hermann Göring beschlagnahmte das Haus und nutzte es als Jagdhaus Elchwald.

Unterkunft für deutsche und sowjetische Soldaten

Im Zweiten Weltkrieg wurden verwundete Offiziere der Luftwaffe einquartiert, zur Rekonvaleszenz. Als die Rote Armee vorrückte, platzte eine Granate auf dem Grundstück, das hölzerne Gebäude blieb als Ruine zurück.

In den ersten Jahren nach dem Krieg diente das stark beschädigte Haus als Unterkunft für sowjetische Soldaten. Türen und Fenster wurden zu Brennholz gemacht, die Einrichtung der Räume gleichfalls verbrannt. 1954 stellten es die Sowjets als Kriegsruine auf Abriss.

Renovierung im Todesjahr

Allerdings wurde im Jahr darauf bekannt, wer der frühere Hausherr gewesen war. Im August 1955 war Thomas Mann in der Schweiz verstorben. Es folgte eine erste Renovierung, um das Haus zum Wohnheim für russische Fachkräfte umzubauen.

Kurz vor Manns Tod war ihm der litauische Schriftsteller Antanas Venclova in Weimar begegnet. Venclova regte 1967 an, im Haus eine Zweigstelle der Stadtbibliothek von Klaipeda unterzubringen. Zugleich entstand eine Gedenkstätte für Thomas Mann, der in den Republiken der früheren Sowjetunion eine breite Leserschaft hatte.

Eine Spende aus Ostberlin

1975, anlässlich des hundertsten Geburtstags, spendete die Regierung in Ostberlin einige interessante Stücke für die Ausstellung. Ab 1987 wurde das Haus für westdeutsche Besucher geöffnet.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1992 gingen Grundstück und Gebäude an den litauischen Staat über. Das Anwesen wurde aufwändig restauriert, wofür erhebliche Mittel aus Deutschland flossen.

40.000 Besucher im Jahr

Es entstand das heutige Kulturzentrum Thomas Mann (Tomo Manno). Darin wurden das Wohnzimmer, die Terrasse und der Arbeitsraum des Schrifstellers weitgehend wiederhergestellt.

Ein moderne und sehr ansprechende Ausstellung mit Tafeln, Fotos und digitalen Effekten rundet den Besuch ab. Immerhin: Jedes Jahr pilgern rund 40.000 Besucher auf die hohe Düne, streifen durch die Räume und den kleinen Park. Es ist eines der bestbesuchten Museen in Litauen.

Pegasus und Ochsenblut

Architektonisch lehnt sich das Haus an den Stil der kurischen Fischer an: Das Dach ist mit Reet eingedeckt. Den First krönen zwei sich kreuzende Pferdeköpfe, Symbol für Pegasus, das Ross der Dichter.

Der Anstrich trägt Ochsenblut als Farbe, typisch für das Baltikum und Skandinavien. Mit der rotbraunen Holzverkleidung kontrastieren blaue Fensterläden, Dachprofile und Balken am Giebel.

Das Blau des Haffs, das Blau der Fischer

Für Thomas Mann hatte das Niddener Blau eine spezielle Bedeutung. Bei einem Vortrag im Dezember 1931 in München erläuterte er:

Im Fischerdorf findet man an den Häusern vielfach ein besonders leuchtendes Blau, das für Zäune und Zierate benützt wird. Alle Häuser, auch das unsere, sind mit Stroh- und Schilfdächern gedeckt und haben am Giebel die heidnischen gekreuzten Pferdeköpfe.

Auf den Spuren des Großvaters

Enkel Frido Mann hat vor zehn Jahren ein interessantes Büchlein veröffentlicht: Mein Nidden. Auf der Kurischen Nehrung (erschienen im Mareverlag). Darin folgt er den Spuren seines Großvaters und erzählt die Geschichte der Kurischen Nehrung vom Deutschen Reich über die Sowjetherrschaft bis zum unabhängigen Litauen.

Unter anderem kommen Mitglieder der Familie zu Wort. Thomas Mann hatte seine Tagebücher aus der Zeit vor 1933 im Exil in Pacific Palisades (Kalifornien) größtenteils verbrannt.

Webseite des Vereins zur Förderung des Thomas-Mann-Hauses

Durch die Wüste mit Joseph und seinen Brüdern
(neu gelesen von H.S. Eglund)

Außerdem sehenswert in Litauen:
Saltojo: Die Geister aus der Unterwelt

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© H.S. Eglund
Mittwoch, 11. Januar 2023

Durch die Wüste mit Joseph und seinen Brüdern

Mit seinem Opus Magnus wollte Thomas Mann eine biblische Geschichte auf neue Weise bildhaft machen. Angeregt durch Goethe entstanden vier Bände. Ein Wälzer, der Durchhaltevermögen abverlangt. Im Kriechgang durchs irdische Jammertal – bis zur zwiespältigen Offenbarung.

Im Lager der gutbürgerlichen Leserschaft steht Thomas Mann auf Augenhöhe mit dem Dichterfürsten. Goethes Faust gehört zur Pflichtlektüre an besseren Schulen, ebenso Manns Buddenbrooks. Das war im Westen so, das galt im Osten. Basta!

Der Kanon der deutschen Literatur: Deutschlehrer sehen sich als Gralshüter des kulturellen Erbes, das vorgestern beginnt und keine Gegenwart kennt. Im musealen Selbstverständnis dieser Berufsgruppe ist Literatur eine staubtrockene Angelegenheit. Je älter die Schwarte und weiter zurückreichend, desto besser.

Da muss man durch!

Da musst du durch, wenn du Abitur machen willst! Uns quälte vor vierzig Jahren eine zierliche Germanistin, die zugleich Russisch unterrichtete. Als ich Buddenbrooks aus der Hand legte, stand für mich fest: Nie wieder Thomas Mann, nie wieder diese Ödnis!

Weder Thema noch Stil hatten mich erreicht, geweckt, beseelt. Der didaktische Anspruch meiner Lehrerin prallte ab. Später bekam ich Tonio Kröger in die Hand, eine ausgetrocknete Novelle, die mein frühes Urteil verfestigte.

Fesselnd war das nicht

Lediglich Mario und der Zauberer vermochte mich stellenweise anzusprechen, wegen des Gleichnisses zum Faschismus. Wenn man es auf diese Weise lesen wollte, dieses Werk.

Denn blutarm und schwafelnd auch dies. Lange, endlose Schilderungen. Lange, endlose Schachtelsätze! Komm auf den Punkt, Mann! Fesselnd war das nicht.

Abkehr vom Autor

Manches braucht Jahre, und jegliches seine Zeit. Jugend kennt keine Ruhe. Deshalb scheitern Deutschlehrer:innen regelmäßig mit ihren Versuchen, die Jugend für Thomas Mann zu begeistern. Der Effekt ist gähnende Langeweile, die Abkehr junger Menschen vom Buch.

Oder vom Autor, wie in meinem Fall. Die zufällige Entdeckung im Reiseführer (keine App, ein Buch!) brachte mich im vergangenen Sommer nach Nida, auf die Kurische Nehrung. Überrascht stellte ich fest, dass es dort das Kulturzentrum Thomas Mann gibt. Und dass er dort an seinem Opus Magnus geschrieben hat: Joseph und seine Brüder.

Sofort machte es klick!

Thomas Mann in Nida? Ich war noch nie da! Sofort machte es klick: Joseph, der Sohn Jakobs, Genesis 37 – 50. Jeder ordentliche Atheist hat die Bibel gelesen, kennt ihren metaphorischen Schatz, weiß die Fülle der Figuren und Bilder zu schätzen. Der gottesfürchtige Jakob, der Zwist seiner Söhne, Aufbruch nach Ägypten, Josephs Dienst für den Pharao.

Goethe schrieb in Dichtung und Wahrheit:

Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.

Wie kann man den Verfasser des Faust toppen? Wie kann man Faust toppen? Nur auf diese Weise! Nach einer Reise durch Palästina begann Thomas Mann 1926 mit dem ersten Band der Tetralogie.

Mein Interesse war geweckt, zumal die Werksgeschichte einer Odyssee gleicht. Innerhalb von 16 Jahren wurden es vier fette Bände. Die ersten beiden Bücher erschienen bei S. Fischer in Berlin. Die folgenden wurden aus dem Exil publiziert, in Wien und 1943 in Stockholm.

Leser:innen kriechen durch die Wüste

Genug der historischen Fakten, zum Buch: Tausendvierhundert Seiten hat der Literaturziegel, den ich mir nach dem Sommer in Litauen gekauft habe. Trotz Dünndruck ausreichend, um einen Menschen zu erschlagen.

Der Einband ist hart und belastbar. Im Jahr 1964, aus dem meine Ausgabe stammt, hat der S. Fischer Verlag noch Bücher für die Ewigkeit produziert.

Mit Sätzen erschlagen

Einen Menschen kann man auch mit Sätzen erschlagen, das wusste ich seit den Buddenbrooks. Es war eines der wenigen Bücher in meinem Leben, über das ich eingeschlafen bin, damals. Es hat mich förmlich betäubt. Und so begrüßt uns der Meister zu Beginn des Josephsbuchs:

… denn mit unserer Forscherangelegentlichkeit treibt das Unerforschliche eine Art von foppendem Spiel: es bietet ihr Scheinhalte und Wegesziele, hinter denen, wenn sie erreicht sind, neue Vergangenheitsstrecken sich auftun, wie es dem Küstengänger ergeht, der den Wanderns kein Ende findet, weil hinter jeder lehmigen Dünenkulisse, die er erstrebte, neue Weiten zu neuen Vorgebirgen vorwärtslocken.

Die Verbindung zur Kurischen Nehrung springt aus den Zeilen, kündigt einen Ritt in die Ewigkeit an. Und genauso liest sich das Buch: Der Leser, die Leserin, das Lesende kriecht durch seitenlange Sätze, wie ein ausgezehrtes Reptil im Wüstensand.

Zickenalarm in Reinkultur

Bis ins kleinste Detail verzweigend, wird Joseph eingeführt, wird Vater Jakob (bei Thomas Mann: Jaakob) eingeführt, wird das besondere Verhältnis der Beiden zelebriert. Jaakobs Weiber – die schielende Lea und die mandeläugige Rahel – erscheinen, reichlich verwickelt und verzwickt, dazu etliche Kebsen.

Zickenalarm in Reinkultur, immerhin bringt es der Stammesgründer auf stattliche zwölf Söhne – von vier Frauen. Der Knatsch entwickelt sich am Recht der ersten Geburt und an Josephs Überheblichkeit. Denn zweifellos ist er, Nummer Elf, den anderen intellektuell überlegen. Ist der wahre Sohn Jaakobs, der Segen spendet.

Siehe da, die Sache fasziniert

Vier Jahrzehnte nach den Buddenbrooks ist der Leser gereift. War selber in Wüsten unterwegs. Hat gelernt, dass es manchmal einer gewissen Anstrengung bedarf, eines gewissen Durchhaltevermögens, um belohnt zu werden. Ohne Fleiß kein Preis!

Und so windet er sich den langen Weg aus Kanaan durch die Sinai nach dem Land am Nil, wo Milch und Honig fließen. Szenen und Gespräche werden bis ins kleinste Detail ausgewalzt, bis die Schwarte kracht. Kostprobe gefällig?

Denn er horchte dabei zwischen seine Worte hinein und auf den Ton und die Bewegung seiner Rede, und es war ihm unbestimmt so, als möchte er dem Bruder dabei auf sein Gedankengeheimnis kommen, das – so schien es ihm – in der Rede aufgelöst war wie das Salz im Meere.

Buchstaben auf Seiten aus Papier

Als Thomas Mann solche Sätze schmiedete, stand das Radio am Anfang. Fernsehen war unbekannt. Es gab weder Computer noch Spielkonsolen oder Streaming, keine SMS oder E-Mail. Imagination entstand, indem man Buchstaben auf Buchseiten aus Papier reihte.

In dieser Disziplin war Mann erbarmungslos gegen seine Leser wie, sagen wir, Ronaldo gegen den Hüter des gegnerischen Tores. Widerstand ist zwecklos! Manns Ergüsse sind Akte von Gewalt.

Mit brutaler Konsequenz werden sie zu Ende geführt, bis der Leser mitten im Bild sitzt, das in seinem Hirn entsteht. Niemand kommt ungeschoren davon.

In trockenen Regionen unterwegs

Die biblische Geschichte spielt in trockenen Regionen, vom Nil abgesehen, und der Konflikt der Brüder mit dem Jungspund ist so neu nicht, siehe Kain und Abel. Doch wenn man sich durch Manns epochales Werk kämpft, wächst die Achtung quasi mit jeder Zeile. Denn das ist einzigartig:

Sie fielen auf ihn, wie das Rudel verhungerter Wölfe auf das Beutetier fällt; es gab kein Halten und kein Besinnen für ihre blutblinde Begierde, sie stellten sich an, als wollten sie ihn in mindestens vierzehn Stücke zerreißen. Ums Reißen, Zerreißen und Abreißen war‘s ihnen wirklich vor allem in tiefster Seele zu tun. „Herunter, herunter, herunter!“ schrien sie keuchend, und einhellig war die Ketonet gemeint, das Bildkleid, das Schleiergewand, das musste von ihm herunter, wenn es auch schwerhielt in solchem Getümmel; denn verschlungen war es ihm angetan, um Kopf und Schultern befestigt, und ihrer waren zu viele für eine Tat, sie waren einander im Wege, stießen einer den andern von dem fliegend und fallend zwischen ihnen Umhergeprellten weg und trafen sich wechselseitig mit Schlägen, die ihm galten und von denen freilich noch immer hinlängliche für ihn abfielen. Er blutete sofort aus der Nase, und sein eines Auge schloss sich zur blauen Beule.

Wir fragen: Welche Beschreibung einer Rachetat gegen den Einzelnen kann diesen Absatz übertreffen? Die Turbulenz der Szene entsteht durch die gedruckte Kette, springt faktisch aus dem Buch ins Hirn, wird pures Leben.

Anstrengend und dennoch verlockend

Schönheit schimmert aus diesem Stil, der anstrengend ist und dennoch verlockend. Was dem jugendlichen Leser verborgen blieb, aus fehlender Erfahrung verborgen bleiben musste, ist die Präzision, mit der Thomas Mann seine Charaktere, ihre Handlung, die Orte und Umstände zeichnet. Vergessen wir Radio, Fernsehen, Netflix und Computer, dann bleibt nur das:

Die Richtung war durch das Meer gegeben, das zur Rechten ihres sandigen Pfades unter dem zu heiligen Fernen absinkenden Himmel sich ewig erstreckte, bald ruhend in silbrig überglitzender Bläue, bald anrennend in stierstarken, schaumlodernden Wogen gegen das vielgewohnte Gestade. Die Sonne ging darin unter, die wandelnd-unwandelbare, das Gottesauge, in reiner Einsamkeit oft, glutklare Rundscheibe, die eintauchend einen flimmernden Steg über die unendlichen Wasser zum Strande und zu den anbetend Entlangziehenden herüberwarf, oft auch inmitten ausgebreiteter Festlichkeiten in Gold und Rosenschein, welche die Seele in himmlischen Überzeugungen wunderbar anschaulich bestärkten, oder in trübe glühenden Dünsten und Tinten, die eine schwermütig drohende Stimmung der Gottheit beklemmend anzeigten.

Was für ein Gefühl für Sprache!

Was für ein Bild, was für ein Gefühl für die (deutsche) Sprache! Es stimmt: So schreibt niemand, niemand außer Thomas Mann. Der ganze Zug der Zeit, vor Tausenden von Jahren biblisch angelegt, schwingt sich durch vier Bücher, bis Joseph vor den Pharao gerufen wird, um dessen Träume zu deuten. Bis der Günstling zum zweiten Mann im Staate aufsteigt, dessen Umsicht und vorausschauende Planung die Völker am Nil vor Dürre und Hunger bewahren.

Das letzte Korn der Sanduhr

Die Sanduhr ist ohne Bedeutung, solange ihre obere Hälfte gut gefüllt ist. Die Entscheidung fällt mit dem letzten Korn, dass durch die Öse rinnt. Denn die Zeit richtet über alles und jeden, ohne Gnade und Ausnahme, so viel ist gewiss.

Am Ende des vierten Buches stirbt Jaakob, innerlich im Frieden mit der Welt. Joseph ist die rechte Hand des Pharao, ein guter Fürst, nunmehr frei von Eitelkeit und vorschnellem Schwatz. Die Brüder sind geläutert, halleluja!

Und so ist denn diese Geschichte, Sandkorn für Sandkorn, still und stetig durch die gläserne Enge gelaufen; unten liegt sie zuhauf, und wenige Körnchen noch bleiben im oberen Hohlraum zurück. Nicht ist übrig von all ihrem Geschehen, als was mit einem Toten geschieht. Das ist aber kein kleines; lasst euch raten, andächtig zuzuschauen, wie die letzten Körnchen durchrinnen und sich sanft aufs unten Versammelte legen.

Tausendvierhundert Buchseiten sind bewältigt. Die Geschichte ist aus, und der Leser steht am Nil, ziemlich ratlos. Denn es scheint, als ob nicht nur Joseph nach Ägypten geflüchtet ist, sondern vor allem sein Autor.

Nach der Sommerflucht gen Nidden folgte das Exil um die halbe Welt. Die erbarmungslose Gegenwart jener Tage kommt in dem Buch überhaupt nicht vor. Nur aus einem einzigen Satz, ganz am Ende, lässt sich ein Bezug herstellen:

Es ist merkwürdig: die Schwäche der Sanften und Geistigen ist die Schwäche fürs Heldische.

Die Schwäche der Geistigen

Zweifellos, der Mann meint sich selbst, meint die eigene Schwäche, die schwache Positur seines Opus Magnus. Denn zwischen 1926 und 1943, den Jahren der Niederschrift und der Veröffentlichung des Romans, wird die Welt erschüttert.

Nachkrieg und Weltwirtschaftskrise treiben Millionen auf die Straßen, ins Elend. Zunächst marschiert der braune Mob in Italien und in Deutschland, später nimmt er die halbe Welt unter seine Stiefel.

Flammende Bücher halten dagegen. Gegen den Krieg, den vergangenen und den neuen, der droht. Remarques Im Westen nichts Neues rüttelt junge Menschen millionenfach auf. Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh wird Legende. Ernest Hemingway veröffentlicht In einem anderen Land (A Farewell to Arms), wird damit zum Sprecher der Verlorenen Generation.

Betont entrückt, außerhalb von Zeit

Nichts davon bei Thomas Mann. So plätschert Joseph und seine Brüder dahin, und man hat den Eindruck, dass sich der Autor drückt. Das Buch ist betont unpolitisch, betont unkonkret, betont entrückt, außerhalb konkreter Zeit. Und deshalb ist es – thematisch, von der Story her – sehr schwach.

Gelangweilter Sohn eines Patriziers

Kein Wunder, denn Thomas Mann wuchs in behütetem Wohlstand auf. Wie viele privilegierte Intellektuelle stimmte er ins Hurrageschrei des Ersten Weltkriegs ein, den er begrüßte und als männerhärtendes, reinigendes Gewitter deutete.

Der gelangweilte Sohn eines Lübecker Patriziers hockte in der Schreibstube, fühlte den Geist höherer Bestimmung in seinen Adern, jubelnd, hatte gewaltige Schlachten vor seinem inneren Auge – und wurde nicht zur Front eingezogen.

Weltfremde Idylle gesucht

Die Wahrnehmung von Realität war Thomas Manns Sache nicht. Zeitlebens suchte er die weltfremde Idylle. Nur widerstrebend ließ er sich überzeugen, aus dem amerikanischen Exil gegen Hitler zu propagieren.

Und das, genau das, durchscheint im Prinzip alle seine Werke, vor allem Joseph und seine Brüder. Er ist der vermögende Intellektuelle, der sich niemals die Hände schmutzig machte, weder mit Arbeit, noch mit Blut.

Ignoranz der sozialen Verwerfungen

Er, der Bildungsbürger, der Hohepriester deutscher Literatur, hat den Ansturm der brauen Horden unterschätzt und ignoriert. Hat die sozialen Verwerfungen in Deutschland, in Italien und anderswo ignoriert. Diese herablassende Arroganz gegenüber Millionen, die ums tägliche Überleben kämpften. Aus diesem Nährboden wuchsen die braunen und schwarzen Orks.

Seltsam, oder einfach nur konsequent: In den Josephsbüchern gibt es keine Armut, keine Geknechteten. Die Welt ist sauber eingerichtet, wirkliches Elend tritt nicht zutage. Und so wird offenbar, was Thomas Mann wirklich bezweckte: die Flucht in verklärte Vergangenheit.

Rettungsanker in der tollwütigen Welt

Vielleicht war das Werk für ihn der Rettungsanker, um in der rasenden, tollwütigen Welt nicht den Verstand zu verlieren. Das sei ihm zugute gehalten. Andere wurden aktiv, die Namen haben wir genannt. Und es sind eben jene, die Millionen junge Menschen inspirierten, bis heute fesseln.

So bleibt – trotz literarischer Raffinesse – Joseph und seine Brüder ein theoretisches Werk. Die Welt war eben nicht so, nicht einmal zu Zeiten von Pharao. Wirklich Unangenehmes wurde ausgeklammert oder ins Privatissimum verlagert. Kunstvoll erdacht, die Schwarte, und dennoch menschenleer.

Starke Nerven und eiserner Wille

Joseph und seine Brüder: Ein Buch nur für Leser, die starke Nerven haben und eisernen Willen. Leichte Kost ist das nicht, das ist hammerhart und felsenschwer. Aber es öffnet eine faszinierende Reise durch biblische Land, durch Jahrtausende, um letztlich beim Kern des Menschen zu landen.

Denn das ist das Besondere, das Thomas Mann gelungen ist: Weder verfiel er der Frömmelei, noch erlag er der Versuchung, sich beim Kirchenlatein zu bedienen. Er hat den Humus durchkämmt, aus dem der Mensch erwächst, seit Urzeiten. Hat dem Stoff nachgespürt, der jeden von uns formt. Hat eines der schwierigsten und zwiespältigsten Bücher abgeliefert, die in deutscher Zunge geschrieben wurden. Eine uralte, zweifellos gültige Geschichte – ganz außerhalb der realen Zeit.

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© H.S. Eglund
  • Artikel im Tagesspiegel zur Abschiedsfeier von Rudolf Bahro an der Humboldt-Universität. © Tagesspiegel/HS
  • Das Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. © H.S. Eglund
  • Bahros Ideen wirken, bis heute. Der Wandel lässt sich nicht aufhalten. © H.S. Eglund
  • Von Efeu überwuchert, aber nicht aus der Zeit gefallen: Bahros unscheinbarer Grabstein. © H.S. Eglund
Sonntag, 27. November 2022

Rudolf Bahro: „Es denkt in der DDR“

Vor einem Vierteljahrhundert starb der Kritiker des Realsozialismus, der sich zum radikalen Ökologen wandelte. Er begriff die Wachstumskrise als innere Krise des Menschen, seiner furchtsamen Psyche und des totalitären Machtanspruchs des Patriarchats. Heute steht all dies zur Debatte. Denn es denkt überall, in Ost und West, im Norden und im Süden.

Von den einst so lautstarken Regimekritikern aus Ostdeutschland ist kaum noch etwas zu hören. Meist beschränken sie sich auf retrospektive Kritik an der DDR – Schnee von gestern.

Doch die Energiewende, Klimaschutz, Abbau der Bürokratie und mehr direkte Mitsprache der Menschen in diesem Land – das stand schon 1989 auf der Tagesordnung. Und harrt bis heute der Verwirklichung.

Junge, wie die Zeit vergeht

Drei Jahrzehnte liegt die Wiedervereinigung Deutschland zurück. Junge, wie die Zeit vergeht. Und von den Kritikern des Osten sind es vor allem zwei Namen, die aktuell geblieben sind: Robert Havemann, der vor vierzig Jahren starb. Und Rudolf Bahro, der nunmehr seit einem Vierteljahrhundert unter der Erde liegt, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chauseestraße in Berlin-Mitte.

Bahros Buch Die Alternative schrieb er im Verborgenen, veröffentlichte sie 1977 im Westen, kam dafür ins Gelbe Elend nach Bautzen und wurde 1979 nach drüben abgeschoben. Wie Robert Havemann, der sein Leben in weitgehender Isolation in Grünheide bei Berlin verbrachte, nutzte Bahro die Aufmerksamkeit durch westliche Medien geschickt aus.

In einem seiner ersten Interviews sagte er damals: Es denkt in der DDR. Kaum jemand glaubte seinerzeit daran, dass die SED-Herrschaft eines Tages unter die Räder kommen würde. Bahro sollte Recht behalten.

Experimente mit alternativen Lebensformen

Nach seiner Abschiebung trat er im Westen zunächst als linker Kritiker des Realsozialismus und Stalinismus auf. Er experimentierte mit alternativen Lebensformen, etwa in Kommunen oder einige Wochen bei Bhagwan in Rajneeshpuram im US-Bundesstaat Oregon.

Später gehörte Bahro zu den Wegbereitern der Grünen, weitete seine Kritik aus zu einer kritischen Analyse der Wachstumsgesellschaft, die im Osten wie im Westen gleichermaßen bestand, auf differenzierter ökonomischer Grundlage. Zunehmend erkannte er die innere, seelische Krise des Menschen als Kern des Problems, wurde zum radikalen Ökologen.

Die Logik der Rettung

Sein wichtigstes Buch war Logik der Rettung, im Jahr 1987 erschienen. Darin zeigt er sich als mutiger und visionärer Vordenker des ökologischen Zeitalters. Damals hielten ihn viele für einen Spinner, übrigens auch bei den Grünen. Doch im wesentlichen, im Kern, hat sich sein Ansatz als richtig und zukunftsweisend erwiesen.

Nicht zuletzt fiel Rudolf Bahro als Mensch auf, in all seinen Widersprüchen. Setzt man sich mit Bahros Biografie auseinander, mit seiner Suche nach dem, was Menschsein eigentlich bedeutet, tritt ein Wort Hölderlins hervor, aus einem Brief von Diotima an Hyperion:

Du wärst der denkende Mensch nicht, wärst Du nicht der leidende, der gärende Mensch gewesen.

Die hervorragend recherchierte und sehr ausgewogene Biografie Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare von Guntolf Herzberg und Kurt Seifert (erschienen 2002 bei Christoph Links in Berlin) liefert tiefe Einblicke, macht den Menschen Bahro lebendig und holt ihn in die Gegenwart.

Das ökologische Zeitalter, es kommt mit heftigen Geburtswehen. Dass es kommt, hat Rudolf Bahro gesehen. Denn es gibt keine Alternative: Nicht zur Erde, nicht zur friedlichen Gemeinschaft aller Menschen.

Zeit, seine Bücher und Schriften erneut zur Hand zu nehmen. Denn Bahro blieb nicht bei der Kritik der Zustände stehen. Er bot Auswege durch eigenes Handeln, blieb Optimist und erkannte den Wandel als positive Aufgabe.

Nachtrag: Rudolf Bahro starb am 5. Dezember 1997 in Berlin. Im Frühjahr 1998 verabschiedeten sich Freunde und Weggefährten von ihm, mit einer Feier an der Humboldt-Universität. Dort war er 1993 zum außerordentlichen Professor berufen worden, gegen erhebliche Widerstände durch akademische und politische Kleingeister.

Damals hatte ich das Glück, dieser Abschiedsfeier als Berichterstatter des Tagesspiegels beizuwohnen. Am 28. April 1998 erschien mein Report Mit grenzenloser Toleranz rebellisch, dem nichts hinzuzufügen ist.

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© Vicon Verlag
  • Cover des Romans von Pia Troxler. © Vicon Verlag
Samstag, 5. November 2022

Jubiläum oder Das Ende der Scham

Der Roman von Pia Troxler wagt sich an ein heikles Thema. Es geht um sexuelle Übergriffe eines Professors, der seine Machtposition gegen junge Frauen ausnutzt. Was als kundiger Einblick in akademische Strukturen beginnt, endet mit Mord und Totschlag. Eigentlich findet das Buch überhaupt kein Ende – braucht es auch nicht.

Denn alles bleibt offen, gleichsam erstarrt. Am Ende steht die ungeschriebene, unausgesprochene Frage:

So, jetzt seid Ihr dran. Wie geht es weiter?

Ein Beitrag zur aktuellen Me-too-Debatte, zweifellos ein wichtiger Beitrag, der sich ins Genre eines Romans kleidet. Das ist gewagt, weil bei diesem Thema überall Tretminen lauern.

Zu leicht könnte die Autorin versucht sein, Partei zu ergreifen. Zu verführerisch ist die Chance, in Propaganda gegen männlichen Sexismus und Chauvinismus zu verfallen; Klischees zu liefern statt Erzählung, statt Kopfkino, das der Leserschaft eigene Urteile überlässt.

Wesentlich für die Authentizität

Als ich anfing, Pia Troxlers Roman Jubiläum zu lesen (soeben im Vicon Verlag erschienen), stolperte ich zunächst über die Sprache. Da scheint eine Schweizerische Einfärbung durch, an die ich mich als Bewohner des größten Kantons erst gewöhnen musste.

Im weiteren Verlauf der Handlung wurde der Stil jedoch schlüssig, denn der Roman erzählt aus einem Institut, aus einer Hochschule in der Schweiz. Sprache ist wesentlich für Authentizität, erst recht im Roman. Nach anfänglichem Stolpern kam ich gut in Tritt, zumal die Handlung wesentlich durch Dialoge getrieben wird, das macht sie flüssig und schnell.

Toxic Masculinity wie in Hollywood

Hauptfigur der Erzählung ist Sibylle Beckenhofer, eine Studentin am Institut für Sozial- und Technikforschung. Unter fadenscheinigen Gründen wird sie von Professor Karl Großholz in sein Arbeitszimmer gelockt und grob begrabscht.

Zuerst schmeichelt er ihr, spielt mit ihrem Wissensdrang, auch mit ihrer Eitelkeit. Dann zeigt er unverhohlene, hemmungslose Gier. Toxic Masculinity ist der Fachbegriff, der sich dafür eingebürgert hat.

Daneben treten weitere Frauen auf, die unter den Übergriffen des erfolgreichen Professors leiden, sie oft stumm erdulden. Ähnlich Harvey Weinstein in der amerikanischen Filmbranche haben Professoren nicht selten die Macht, über die künftige Karriere ihrer akademischen Schützlinge zu befinden – und zu entscheiden.

Die Scham überwinden

Neben Großholz tritt Professor Knoll auf, so etwas wie der Dekan und damit Vorgesetzter am Lehrstuhl. Kenntnisreich wird der akademische Betrieb dargestellt, hier anhand von soziologischen und Themen der Technikgeschichte.

Langsam finden die Frauen zusammen, überwinden ihre Scham. Denn geschickt nutzen Leute wie Großholz das Gefühl der Beschämung und Beschmutzung bei den Frauen aus, um unter Umständen jahrzehntelang weiterzumachen.

Kenntnisnahme erzwingen

Eine Anwältin wird eingeschaltet. Sie zwingt Professor Knoll, die Entgleisungen seines Kollegen zur Kenntnis zu nehmen. Knoll windet sich, einem Aal gleich, denn das 30-jährige Jubiläum des Instituts steht vor der Tür.

Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, wer stört solche Festlichkeiten gern mit Vorwürfen des Sexismus? Nach der Party verliert Großholz völlig die Kontrolle über sich selbst, bringt eine junge Frau um. Und tut, als wäre nichts gewesen. Nur den Kollegen Knoll, den macht er zum Mitwisser.

Die Leiche im Aktenschrank

Die Leiche liegt verborgen, wo die meisten Leichen schlummern: im Aktenschrank. Ob und wie sie entdeckt wird, ob und wie Großholz überführt und vollends entlarvt wird, wird nicht erzählt. Doch am Ende sieht der Leser das Blaulicht der anrückenden Polizei vor seinem geistigen Auge. Wie in Fernsehkrimis, dort als Cliffhanger bezeichnet.

Der Roman also endet und endet nicht. Nun könnte die Diskussion beginnen, über sein eigentliches Thema, den Missbrauch von Macht. Doch dieses Thema, das die Handlung über weite Strecken trug, ist durch den Mord in den Hintergrund getreten.

Scheiß Fernsehkrimis

Oder wurde auf die Spitze getrieben – und übertrieben. Soll heißen: Der Roman, der sich zum Krimi wandelt, hätte dieser Metamorphose nicht bedurft. Scheiß Fernsehkrimis, sie machen das Schreiben nicht unbedingt einfacher. So habe ich zwei Bücher gelesen, eines über Missbrauch, eins über Mord.

Zudem wird zum Ende hin seitenweise erläutert, was den Professor innerlich zur finalen Schandtat treibt. Psychologisch gesehen sind die inneren Monologe streckenweise geglückt und nachvollziehbar. Doch stets hören sie vorm emotionalen Urgrund auf. Unbeantwortet bleibt: Wo nahm der Schaden seine Anfang?

Urteil über eine literarische Figur

Es hätte dem Roman gut getan, weniger akademisches Fachwissen zu präsentieren, weniger Details der ausufernden Feier zum Jubiläum, dafür mehr Innensicht des Täters. Nicht, um ihn zu entschuldigen. Sondern um ihn als Figur gleichrangig neben die weiblichen Akteure zu setzen, sie literarisch auf eine Stufe zu stellen.

Denn die Frauen sind in ihrer Situation durchweg einfühlsam und behutsam dargestellt, das ist eine große Stärke des Romans. Auch ihre unterschiedlichen Reaktionen, wie sie mit den Übergriffen umgehen, wird verständlich, bis tief in ihre Gefühlswelt hinein, mit all dem emotionalen Chaos, das der Professor anrichtet.

Der Unterschied zwischen Belästigung und Mord

Nicht die Autorin oder der Autor sollten Urteile bilden, sondern Leserinnen und Leser. Der Mord am Ende des Romans stellt Professor Großholz außerhalb aller Normen.

Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob es um seine Motivation geht, Frauen zu demütigen, sie im normalen Institutsbetrieb sexuell zu belästigen. Oder ob es um Mord geht, vor dem diese Frage – zwangsläufig – verblasst.

Worum geht es im Roman?

Im Roman von Pia Troxler geht es eindeutig um sexuelle Übergriffe, die von bestimmten institutionellen Strukturen unterstützt werden. Schonungslos legt sie diese Strukturen frei, in denen maskuline Dominanz angelegt und konserviert ist.

Wir erwähnten Hollywood. Ebenso gut könnten wir die Kirchen nennen. Im Detail verschieden, geht es um haargenau das gleiche System von Abhängigkeit, um die gleiche, falsch verstandene Kollegialität. Um die gleiche, perfide Ausnutzung von Scham, um Übergriffe zu vertuschen.

Der Hammer war nicht nötig

Oder reden wir von Mord? Ich behaupte, dass die Autorin damit leider dem Holzhammer verfallen ist, um das Urteil zu zementieren. Jetzt ist jedem klar: Großholz gehört abgestraft, und zwar richtig! Er ist ein Ungeheuer.

War gar nicht nötig. Dass Großholz lebenslang in der Falle sitzt, Triebtäter im wahrsten Sinn dieses Wortes ist, hat die Autorin bereits verdeutlicht, weitgehend überzeugend. Spannender wäre (für mich) die Frage gewesen, wie lange ihn Knoll deckt, wie lange das akademische Getriebe solche Leute schützt. Wann Wegschauen zur Mitschuld wird.

Ein Gleichnis, in Form eines Romans

Denn das war das eigentliche Thema, deshalb nahm ich diesen Roman zur Hand. Ich kann mit dem Ende (das keines ist) gut leben, immerhin bringt es mich zum Nachdenken. Dass schließlich ein Mord geschieht, führt mich zwar von der breiten Bedeutung und Brisanz weg, führt mich weg vom Gleichnis, dass die Story stellvertretend für Filmproduzenten, Regisseure, Kardinäle, Bischöfe und Popen steht.

Das ist jedoch kein Problem, tut dem Buch keinen Abbruch. Denn Literatur ist Aneignung durch Lesen. Als Beitrag zur aktuellen, dringenden Diskussion funktioniert dieser Roman ausgezeichnet, auch ohne sein letztes Kapitel. Und mancher, der ihn liest, wird sich gerade am Mord erfreuen, wird durch diese Episode einen Zugang finden, der mir verwehrt blieb.

Diesem Buch und seiner Autorin wünschen wir zahlreiche Leserinnen und Leser und vor allem viele spannende Diskussionen.

Auf der Website des Vicon-Verlages finden Sie eine ausführliche Beschreibung.

Website der Autorin Pia Troxler.

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© H.S. Eglund
  • Trutzburg des Glaubens: das Ulmer Münster. © H.S. Eglund
  • Das hohe Portal macht die Besucher klein. © H.S. Eglund
  • Pompöser Bau, Kathedrale des rechten Glaubens. © H.S. Eglund
  • Architektonisch durchaus interessant. © H.S. Eglund
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Freitag, 28. Oktober 2022

Stippvisite nach Ulm: Bischof, ich kann fliegen!

Die Stadt und ihr modernistischer Zwilling Neu-Ulm sind schwer von der Donau gezeichnet. Nix wie durch und weg, der Fluss weiß, warum er flieht. Ein Report über und für Durchreisende.

Ulm hat ein gotisches Münster und ohne Münster wäre es nichts. NICHTS. Der sprichwörtliche Reichtum der Stadt – im Mittelalter stand „Ulmer Geld“ für außergewöhnlichen Wohlstand schlechthin – hat das Zentrum verdorben.

Wie ein archaischer Fels ragt der 161,53 Meter hohe Kirchenbau aus der umgebenden Bebauung auf. Abgesehen von ein paar Überbleibseln aus der Geschichte: alles glatter Beton, glattes Glas und kalter Stahl – glatte, langweilige Fassaden.

Wie gefräßige Hyänen zerren die kahlen Bauten des Wirtschaftswunders an der stolzen Kathedrale, und es scheint, als wollte der hohe gotische Turm in den Himmel entfliehen.

Berblingers Traum, ein Vogel zu sein

Ein Vogel müsste man sein, über all dem Grau der Konsumtempel, sich aufschwingen zur Spitze des mittelalterlichen Zepters.

„Bischof, ich kann fliegen“,
Sagte der Schneider zum Bischof.
„Pass auf, wie ich’s mach‘!“
Und er stieg mit so ’nen Dingen,
Die aussahn wie Schwingen
Auf das große, große Kirchendach.

Früher gehörte Brechts Gedicht zum Schulkanon. So ein Bischof bot eine wunderbare Karikatur, Fleisch gewordene Arroganz der Katholiken. Tiefenpsychologisch gesehen, war es ein Fluchtversuch, den Brecht in Verse brachte:

Der Bischof ging weiter.
„Das sind so lauter Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof vom Schneider.

Im Jahr 1811 wollte der Schneider Albrecht Berblinger tatsächlich mit selbstgebauten Flügeln vom Münster schweben. Das ist urkundlich gesichert. Dichterische Freiheit erlaubt, dass der Pionier des Flugwesens stirbt:

„Der Schneider ist verschieden“,
Sagten die Leute dem Bischof.
„Es war eine Hatz.
Seine Flügel sind zerspellet
Und er lag zerschellet
Auf dem harten, harten Kirchenplatz.“

Berblingers Versuch, das andere Ufer der Donau zu erreichen, schlug fehl. Das stimmt. Er stürzte in die Fluten, aber er überlebte und wurde zur Zielscheibe des Spottes – der Plebejer und der Katholiken. Lassen wir noch einmal Brechts Bischof zu Wort kommen:

„Die Glocken sollen läuten,
Es waren nichts als Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof den Leuten.

Brecht stilisiert den Schneider zum Frontmann des Fortschritts, zum verkannen Genie. In Wahrheit wollte auch Berblinger nur – weg!

Die Flucht der Donauschwaben

Ulm als Ausgangspunkt der Flucht, Ulm als äußerster Vorposten im Osten von Württemberg. Neu-Ulm auf der anderen Seite der Donau liegt bereits in Bayern. Von Ulm zogen die Donauschwaben aus, um den Südosten Europas gegen die Türken zu verteidigen.

Als Wehrbauern ließen sie sich nieder – in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien. Wer einen Grund sucht, warum sie sich Ende des 17. Jahrhunderts in ihren Karren auf den beschwerlichen Weg gen Süden machten, braucht nicht lange zu suchen. Denn Ulm hält niemanden, es ist ein Ort, den man verlässt.

Niemand bleibt auf Dauer

Albert Einstein wurde 1879 in Ulm geboren, ebenso Hildegard Knef (1925) und Siegfried Unseld (1924). Die Karrien dieser Leute sind jedoch mit anderen Städten verbunden. Einstein ging nach Bern, nach Berlin, nach Princeton – in Ulm blieb sein Genie unerkannt.

Die Knef reiste um die ganze Welt, von seltsamer Unrast getrieben. Unseld übernahm 1959 den Suhrkamp-Verlag in Berlin und Frankfurt/Main. Sogar für die piefige Bundesrepublik war Ulm als geistiges Zentrum ungeeignet. Die Boheme residierte und publizierte andernorts: Frankfurt, Hamburg, München.

Geistige Enge, in Stein gehauen

Und wie frustrierend müssen die Jugendjahre der Geschwister Scholl gewesen sein, die ab 1932 in Ulm aufwuchsen. Sophie und Hans Scholl schulten hier ihre Widerständigkeit, sahen hier den brauen Aufmarsch in den Köpfen der ach so christlichen Mitmenschen.

Sophie Scholl war siebzehn Jahre alt, als sie in Ulm die Reichskristallnacht erlebte. Als brave Katholikinnen und Katholiken ihren jüdischen Nachbarn die Scheiben einwarfen und die Synagoge in Brand setzten. Offenbar war bei den Ulmern Hopfen und Malz verloren, denn die Scholls gingen nach München, an die Universität.

Die Liste seltsamer Ehrenbürger

Dort hofften sie, Zeichen zu setzen, bis sie 1943 mit Flugblättern erwischt und hingerichtet wurden. Immerhin: Ihre Schwester Inge wurde später – nach dem Krieg – zur Ehrenbürgerin der Stadt ernannt. Sie hatte sich dem Vermächtnis der Weißen Rose verschrieben und die Volkshochschule von Ulm ins Leben gerufen – Bildung gegen die Leere und den Hass in den Hirnen.

Unter den Ehrenbürgern ist Inge Aicher-Scholl so etwas wie die Friedenstaube unter Falken. Reichskanzler Otto von Bismarck steht in der Liste der Geehrten ebenso wie Paul von Hindenburg, Kriegsherr und Reichspräsident, der Adolf Hitler in den Sattel hob.

Natürlich war auch Adolf Hitler einst Ehrenbürger von Ulm, wurde 1945 jedoch verschämt aus den Annalen gestrichen. Ludwig Erhard, Bundeskanzler nach Adenauer, war Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Ulm und steht seither gleichfalls in der Liste. In der Inge Aicher-Scholl übrigens die einzige Frau ist.

Die Quelle der Fluchtgedanken

Warum taugt Ulm nur zur Durchreise, nur für ein kurzes Essay im Hotelzimmer? Vielleicht liegt es an der Donau, deren Wasser unablässig durch die Stadt rinnt, wie die Zeit. Alles in dieser Stadt atmet GESTERN.

Der Fluss erträgt die Tristesse. Unablässig teilt er Ulm von Neu-Ulm, Baden-Württemberg von Bayern, trennt die Schwäbische Alp von den niederen Ebenen gen Osten hin, gen Augsburg, und nach Süden, zum Allgäu. Augsburg hat wenigstens die Fugger und die Puppenkiste. Dort wurde Bertolt Brecht geboren. Naja, ist ja auch abgehauen. Die ganze Weltecke scheint dürftig.

Von Nordwesten treiben dicke, schwere Wolken heran, grau wie die Fassaden im Zentrum von Ulm. Sogar der Regen scheint zu fliehen, die schwangeren Bänke driften südwärts, zum Alpenrand. Es folgen drei feuchte Tage in München. In Ulm kein Tropfen.

Mit Bert Brecht: Wann, bitte, geht der nächste Zug nach Berlin?

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Roman zur Wende 1989: Die Glöckner von Utopia

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© Gustave Doré
  • Schwere See, verheerender Sturm. © Gustave Doré
  • Der tote Sturmvogel wird der Mannschaft zum Verhängnis. © Gustave Doré
  • Bis ins Eis der Antarktis driftet das führerlose, das seelenlose Schiff. © Gustave Doré
  • Samuel Taylor Coleridge um 1820. © unbekannt
Mittwoch, 26. Oktober 2022

Coleridge: Aus Liebe zur Natur – aus Menschenliebe

Vor 250 Jahren wurde der englische Romantiker Samuel Taylor Coleridge geboren. Seine Balladen sind legendär, allen voran The Rime of the Ancient Mariner. Das Jubiläum erlaubt eine neue Sicht auf seine Lyrik, die zeitlos ist.

Ein Dreigestirn glänzt am Himmel der englischen Romantik: William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge und Robert Southey. Sie werden als Lake Poets bezeichnet, weil ihre Balladen und Gedichte maßgeblich von der düster-romantischen Stimmung des Seendistrikts (Lake District) im Nordwesten Englands beeinflusst wurden.

Unterhalb der schottischen Grenze fällt das bergige Terrain, das von zahllosen Seen besprenkelte Land, in die Irische See. Vor allem in den sonnenarmen Monaten wird es von gnadenlosen Stürmen heimgesucht.

Ein inspirierendes Poem

William Wordworth ist für die Engländer, was den Deutschen ihr Dichterfürst Goethe ist. Und Coleridge hält durchaus dem Vergleich zu Friedrich Schiller stand, wenn er auch älter werden durfte (1772-1834) und weniger als Dramatiker auffiel. Mit seinem Poem Kubla Khan inspirierte er Generationen von Jugendlichen und Dichtern, es erinnert an seltsam harmonische Traumbilder.

Es gilt als eines der besten Gedichte englischer Zunge überhaupt, wurde von unzähligen Kritikern und Lyrikexperten filettiert, gedeutet und interpretiert. Der Autor dieses Blogs nutzte eine Sequenz des Gedichts, stellte sie dem zweiten Teil Axum seines Romans Die Nomaden von Laetoli voran:

A damsel with a dulcimer
In a vision once I saw:
It was an Abyssinian maid
And on her dulcimer she play’d,
Singing of Mount Abora.

Ein junges Weib mit Laute
in der Vision ich einst erschaute:
Ein Mädchen aus Abessinia,
das sang vom Berge Abora.

Hier finden Sie Leseproben des Romans Nomaden von Laetoli.

Von den Toten zurückgekehrt

Das wichtigste Werk von Coleridge ist jedoch zweifellos The Rime of the Ancient Mariner, eine lange Ballade. In einzigartigen Bildern lässt sie einen gestrandeten Seemann auferstehen, der von den Toten zurückgekehrt scheint.

In maßloser Arroganz schießt er einen wunderschönen Albatros vom Himmel. Fortan wird sein Schiff für den Frevel bestraft. Die Besatzung stirbt an Hunger, Skorbut und schlaffen Segeln. Der untote Seemann wird von ewiger Ruhelosigkeit und Selbstzweifeln gepeinigt.

Ein Vorbild für Moby Dick

Ein bisschen Fliegender Holländer, ein bisschen Moby Dick klingen an. Man kann davon ausgehen, dass Coleridges Mariner sowohl für Richard Wagner als auch für Herman Melville als Vorbild diente, ebenso für Theodor Fontanes John Maynard. Denn der englische Romantiker war bis zum Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts jedem vertraut, der sich in Lyrik vertiefte.

Die Romantik als Stilrichtung wird in Deutschland meist spöttisch abgetan. Das hat zum Einen damit zu tun, dass die naturnahe Dichtung von den Nazis missbraucht wurde. Zum anderen steckt in der Romantik, in der bekennenden Liebe zur Natur zugleich Menschenliebe.

Deutsche Übersetzung von Freiligrath

Das eine ist ohne das andere undenkbar, das wird bei Coleridge spürbar. Wohl deshalb hat sich kein Geringerer als Ferdinand Freiligrath des Mariners angenommen und den Text ins Deutsche übertragen. Heute wirkt die Ballade vom alten Seemann sprachlich etwas angestaubt, gibt die atemberaubende Dramatik des Originals nur unzureichend wieder.

Dramatisch sind und bleiben die unvergesslichen Illustrationen des französischen Grafikers Gustave Doré. Sie fassen die düstere, beklemmende Sage auf einzigartige Weise in Bilder, die maßgeblich zur Popularität des Mariner beitrugen.

Neue Übersetzung im Verlag Dörlemann

Anlässlich der 250. Geburtstages hat Urs Aerni einen interessanten Artikel über die neuen Übersetzungen der Gedichte Coleridges durch Florian Bissig veröffentlicht. Sie sind soeben bei Dörlemann erschienen. Bissig hat zudem eine Biografie des Romantikers vorgelegt.

Vielleicht gelingt es auf diese Weise, den großen Dichter der Vergessenheit zu entreißen. Denn in den deutschsprachigen Regionen fiel er beinahe ins Dunkel der Zeit, ist Coleridge eigentlich nur noch Liebhabern ein Begriff.

Urs Heinz Aerni über die Neuerscheinungen bei Dörlemann

Tigerlillies nehmen sich der Sache an

Das Jubiläum haben die bekannten Tigerlillies zum Anlass genommen, den Mariner musikalisch in ihrem bizarr-morbiden Stil zu interpretieren. Herausgekommen ist eine gewagte und gelungene Version des uralten Stoffes, den die Band zudem mit einem eigenwilligen Bühnenbild präsentierte:

Tigerlillies: Rime of the Ancient Mariner

Das Musikvideo bei Vimeo

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Samstag, 22. Oktober 2022

Harriet Beecher Stowe: Großer Kampf einer kleinen Frau

Vor 170 Jahren erschien ein Roman, der polarisierte und niemanden kalt ließ. Für die Gegner der Sklaverei war er ein Fanal, für ihre Befürworter ein Angriff auf gottgegebene Privilegien: Onkel Toms Hütte.

Harriet Beecher war eine Tochter aus gutem Hause, wie man seinerzeit sagte. Am 14. Juni 1812 als siebentes Kind der Familie eines Geistlichen in Connecticut geboren, übersiedelte sie mit 14 Jahren nach Boston.

Dort trat ihr Vater als Prediger auf, die Familie musste folgen. Ab 1832 leitete er ein Priesterseminar in Cincinnati, wo Harriet bis 1850 lebte.

Cincinnati, quirlige Stadt am Ohio

Cincinnati, quirlige Stadt am Ohio River: Damals sammelten sich in der aufstrebenden Metropole die Gegner der Sklaverei. Der Ohio markierte die Grenze zwischen den Sklavenstaaten im Süden und dem freien Norden, viele aus Kentucky geflüchtete Schwarze ahielten sich in der Stadt auf.

Ihre Jugend und das frühe Erwachsenenalter verlebte Beecher in gesicherten Verhältnissen, der Vater hatte ein gutes Auskommen, machte Karriere in der Kirche. 1936 heiratete Harriet den Professor Calvon Stowe, einen Experten für biblische Literatur.

Sofort ein Welterfolg

1850 begann sie, den Roman Uncle Tom‘s Cabin zu schreiben, Untertitel: Leben unter den Niedrigsten. Als das Buch 1852 erschien, wurde es sofort zum Welterfolg.

Hundert Jahre später erschien im Verlag Neues Leben in Berlin eine Jubiläumsausgabe. Ihr nachgestellt ist ein erhellender Essay von Wieland Herzfelde, Professor an der Humboldt-Universität und Bruder von John Heartfield. Illustriert wurde die Ausgabe vom bekannten Grafiker Werner Klemke, der unzählige Bücher mit seinem unverkennbaren Stil bereicherte.

Herzfelde hatte in der Weimarer Republik den Malik-Verlag gegründet und war mit Machtantritt der Nazis in die USA geflohen. In seinem Nachwort bringt er interessante Details über die Autorin und ihr berühmtes Buch. Er schreibt:

1839 nimmt Harriet Stowe eine frühere Sklavin aus Kentucky in ihren Dienst. Die junge Magd lebt bereits mehrere Monate in der Familie, als Professor Stowe die Nachricht erhält, ihr früherer Besitzer sei in der Stadt, um sie zu suchen und in die Sklaverei zurückzuschleppen.
Professor Stowe fasst den Entschluss, die farbige Dienerin in Sicherheit zu bringen, um sie vor den Nachstellungen zu schützen. Gemeinsam mit seinem Schwager, Henry Ward, der, wie er, Waffen trägt, fährt er die Verfolgte bei Nacht in einem geschlossenen Wagen auf abgelegenen Pfaden zwölf Meilen landeinwärts, um eine Zuflucht für sie zu suchen.

Mächtiger Aufschwung in den Nordstaaten

Ein Blick zurück, auf die Jahre vor dem Buch: Nach 1840 erlebten die Vereinigten Staaten einen mächtigen Aufschwung: Vor allem im Norden entwickelten sich Eisenbahnen und Industrie. Herzfelde analysiert:

Der Süden konnte seiner arbeitenden Klasse, den Negersklaven, keine Maschinen anvertrauen. Dazu waren sie viel zu ungeschult und aufsässig.

Lohnarbeiter versus Sklaven

Die Farmer im Nordwesten beschäftigten Lohnarbeiter. Sie setzten viel mehr Maschinen ein und erreichten eine sehr hohe Produktivität. 1834 wurde die Dreschmaschine erfunden, 1846 die erste Sämaschine.

Wellen von Einwanderern aus England, Irland und Deutschland siedelten sich in erster Linie in den westlichen Gebieten an, in früherem Indianerland westlich der Appalachen.

Vier Millionen schwarze Leibeigene

Dagegen setzten die Pflanzer in den Südstaaten auf schwarze Sklaven, die aus Afrika geraubt und nach Amerika verschifft wurden wie Vieh. 1790 gab es in den Vereinigten Staaten rund 697.000 Sklaven, bis 1861 waren es vier Millionen. Faktisch waren sie die wichtigste Arbeitskraft des vorindustriellen Zeitalters.

Der Kampf gegen die Sklaverei war so alt wie die Vereinigten Staaten selbst. Im 1939 in New York erschienenen Buch Negersklavenrevolten in den Vereinigten Staaten 1526-1866 von Herbert Aptheker geht hervor: Mehr als 200 Aufstände und Verschwörungen gegen die Sklaverei durchzogen die Jahrhunderte, nicht gezählt die Revolten auf Sklavenschiffen.

Der erste Aufstand war erfolgreich

Der erste Aufstand im Gebiet des späteren Staates Südkarolina war erfolgreich. Unterstützt von Indianern besiegten hunderte Sklaven im Jahr 1526 ein Kontingent von 500 Spaniern und kehrten nach Haiti zurück, von wo man sie verschleppt hatte.

Gesetzlich anerkannt wurde die Sklaverei erst im Jahre 1660. Schon kurze Zeit später, 1688, erhoben deutsche Bürger der Siedlung Germantown im Staat Pennsylvania öffentlichen Protest gegen den Menschenhandel.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts nahm dieser Handel infolge des Anbaus von Reis, Indigo und Tabak größere Ausmaße an. Hundert Jahre vor dem Erscheinen von Onkel Toms Hütte machten Sklaven bereits 40 Prozent der Bevölkerung der Südstaaten aus.

Der Konflikt spitzte sich zu

Der Konflikt um die Sklaverei spitzte sich zu, weil sklavenfreie Staaten oft das Gesetz einführten, geflüchtete Sklaven an ihre Besitzer auszuliefern. Denn das Recht, die Sklaverei zu erlauben oder zu dulden, war das Recht der einzelnen Bundesstaaten.

Die neuen, ökonomisch sehr mächtigen Staaten im Westen, standen auf der Kippe. Gegner der Sklaverei machten mobil, forderten ein Bundesverbot. In England oder Frankreich war die Sklaverei längst abgeschafft worden. Harriet Beecher Stowe schrieb später:

Jede Nation, die großes Unrecht duldet, erzeugt in sich Elemente des Umsturzes.

Die ökonomischen Zusammenhänge waren ihr verschleiert, sie handelte aus christlich-ethischen Motiven. In einem Brief, den sie fünfundzwanzig Jahre später an einen ihrer Söhne schrieb, erzählte sie:

Ich erinnere mich noch sehr wohl des Winters, als Du ein Jahr alt warst und ich Onkel Toms Hütte schrieb. Mir brach fast das Herz vor Jammer über die Grausamkeit und das Unrecht, welche von unserem Volk an den Sklaven begangen wurden. … Manche Nacht, während Du an meiner Seite schliefst, vergoss ich heiße Tränen, wenn ich an die armen Sklavenmütter dachte, denen ihre Kleinen entrissen wurden.

Im Jahr des Erscheinens wurden in den Vereinigten Staaten rund 300.000 Exemplare verkauft, in England sogar 1,5 Millionen Exemplare. Ähnlich erfolgreich war das Buch in Frankreich und in deutschen Landen. Der Papst belegte es mit einem Bann, was dem Erfolg in katholischen Ländern jedoch keinen Abbruch tat.

Die intelligenteste Würdigung des Romans stammt von Winston Churchill, britischer Premierminister während der Kriegsjahre 1940 bis 1945. In seinem Werk A History of the English Speaking Peoples schreibt er im vierten Band The Great Democracies:

Harriet Beecher Stowes Werk war propagandistisch, sie nutzte jede Waffe. In den Seiten des Romans werden die theoretischen und religiösen Argumente hin und her gewälzt, aber in ihrer Methode überragte sie alle anderen Gegner des Bösen. Sie präsentierte ihren Lesern eine Abfolge der einfachen und verstörenden Begebenheiten, die unlösbar mit der Sklaverei verbunden waren:
Die Zerstörung der schwarzen Familien, die gewaltsame Trennung von Eheleuten, den Verkauf des Babys, von der Brust seiner Mutter weg, die unmenschliche Versteigerung der Sklaven nach dem Tod eines wohlgesonnenen Eigentümers, Verbrechen und Folter, der perfide Menschenhandel und das Grauen entlegener Plantagen, die Auspeitschungen, zu denen junge weiße Damen ihre Dienerinnen schickten, für kleinste Vergehen, und die beinahe weißen Sklavinnen, die als Lustobjekte verkauft wurden. All das wurde den Leserinnen und Lesern schonungslos und ungeschönt vor Augen geführt, mit ihrem schlichten und zugleich fesselnden Stil.

Churchill, selbst über seine Mutter ein halber Amerikaner, hat sich als exzellenter Kenner der Geschichte der Vereinigten Staaten erwiesen, sowohl der wirtschaftlichen als auch der kulturellen Zusammenhänge:

Bis zum Ende des Jahres 1852 waren hunderttausende Exemplare des Buches in den USA verkauft. Im September, so wird berichtet, wurden jeden Tag zehntausend Exemplare durch einen einzigen englischen Buchhändler abgesetzt. Bis Ende 1852 wurden mehr als eine Million Exemplare in England verkauft. Nur die Bibel und das offizielle Gebetsbuch wurden in der Geschichte Englands häufiger verkauft.

Churchill war kein Buchhändler, ihn interessierte die politische Wirkung des Romans. Sein Urteil überrascht kaum:

Uncle Tom‘s Cabin rollte um die Welt und wurde in jedem Land mit Leidenschaft und Erregung gelesen. Es war der Vorbote des nahenden Sturms.

Vorbote des nahenden Sturms

Denn an der Sklaverei entzündete sich die Frage, ob die einzelnen Bundesstaaten das Recht haben, die unmenschliche Praxis gesetzlich zu sanktionieren. Der Verfassungsstreit schwelte viele Jahre, erhitzte Gegner wie Befürworter gleichermaßen.

Vor allem die reichen, aristokratischen Pflanzer im Süden sahen ihre Privilegien bedroht. Zudem war ihre Vormacht in Washington gefährdet, weil sich das wirtschaftliche Schwergewicht nach Norden verlagert hatte.

Größter Sklaveneigner von Virginia

George Washington, General im Unabhängigkeitskrieg und erster Präsident der USA, war der größte Sklaveneigner in Virginia gewesen. Mittlerweile beanspruchten die Industriemagnaten und die Banker von New York, Philadelphia und Chicago ihren Anteil am politischen Geschehen, unterstützt von Auswanderern aus England, Irland, Skandinavien und deutschen Kleinstaaten.

1861 wurde der Republikaner Abraham Lincoln zum Präsidenten gewählt. In Kentucky geboren, hatte er sich als Anwalt und politischer Redner in Illinois einen Namen gemacht.

Lincoln erkannte den Kern des Konflikts

Als die Südstaaten ihren Austritt aus der Union erklärten, führte Lincoln den Norden in den Sezessionskrieg. Bis dahin war er kein erklärter Gegner der Sklaverei.

Ihm ging es in erster Linie um den Zusammenhalt der Union als politische, wirtschaftliche und juristische Einheit. Freilich wurde ihm schnell bewusst, dass die Sklaverei zum harten Prüfstein wurde – für das amerikanische Modell der Demokratie.

Denn letztlich standen die feudalen Autokraten des Südens den potenten Kapitalisten des Nordens und den freien Farmern des Westens gegenüber. Als Harriet Beecher Stowe ihn mitten im Krieg besuchte, war seine Begrüßung sicherlich nicht nur scherzhaft gemeint:

Sie sind die kleine Frau, deren Buch einen so großen Krieg hervorgerufen hat?

1861, als der erbarmungslose Bürgerkrieg begann, schrieb die Autorin:

Der unrechtmäßig erworbene Reichtum, mit grausamer Strenge und Ungerechtigkeit erpresst, wird durch die Kriegssteuer zurückgezahlt. Zur Sühne für das Blut der armen Sklaven fließt das Blut der besten Söhne aus allen Freistaaten.

Der amerikanische Bürgerkrieg kostete rund 200.000 Tote auf den Schlachtfeldern, dazu rund 400.000 Opfer von Krankheiten. Fast eine halbe Million Mann wurden verwundet.

Dagegen stehen nur rund 30.000 Gefangene, die jede Seite machte. Es war ein Kampf ohne Pardon, mit bis dahin kaum bekannter Brutalität.

Manche Militärhistoriker bezeichnen ihn als ersten Krieg der Moderne, denn es wurden erstmals Schiffe aus Stahl, Beobachtungsballons und schnell schießende Artillerie eingesetzt. Das Repetiergewehr, der Vorläufer des Maschinengewehrs, erwies sich als besonders wirkungsvoll.

Politik der Duldung

Harriet Beecher Stowes Familie stand auf Seiten des freien Nordens im Kampf, ihr Bruder kehrte schwer verwundet zurück. Sie pflegte ihn und blieb Zeit ihres Lebens eine Streiterin für die Befreiung der Sklaven.

Denn Lincolns Ermordung im Jahr 1865 läutete eine Politik des Stillschweigens und der Duldung ein, mit der nachfolgende Präsidenten die geschlagenen Südstaaten zu versöhnen suchten. Zwar wurde die Sklaverei formal abgeschafft. Doch Chaos drohte: Die großen Pflanzungen des Südens lagen brach und verwahrlosten.

Deshalb wurden die ehemaligen Sklaven erneut unter Zwang gestellt, als billige Arbeitskräfte. Nur wenigen gelang es, sich in den Norden durchzuschlagen und sozial aufzusteigen, ihre Lebensverhältnisse den weißen Facharbeitern anzugleichen.

Wachsendes Selbstbewusstsein

Am Ende des Ersten Weltkriegs, als Regimenter schwarzer US-Soldaten aus Flandern und Nordfrankreich nach Hause zurückkehrten, kam es in einigen Südstaaten zu Unruhen. Denn die Doughboys wollten ihre Waffen nicht abliefern, beanspruchten die gleichen Rechte wie Weiße. Außerdem brachten sie neues Selbstbewusstsein mit. Schließlich waren sie es, die Uncle Sam zum Sieg in Europa verholfen hatten.

Den Hass konserviert

Das brachte weiße Rassisten in Rage. So blieb der Hass erhalten, nicht nur in den Südstaaten. Er durchzieht die folgenden Jahrzehnte bis heute.

Harriet Beecher Stowe starb am 1. Juli 1896 in Hartford im US-Bundesstaat Connecticut. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass kein Buch vergleichbare politische Wirkung ausgeübt hat, wie Uncle Tom‘s Cabin – bis heute.

Die unbewältigten Folgen der Sklaverei sind eine offene Wunde, die Amerikas Politik bis heute bestimmt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten schwarze GIs zurück, schwappte eine neue Welle von sozialen Forderungen durch die Südstaaten.

Der Ku-Klux-Klan erstarkte

Der Ku-Klux-Klan erstarkte, in den 1960er und 1970er Jahren führte das FBI einen regelrechten Krieg gegen die mörderischen Rassisten. Überall in Georgia, Kentucky, Mississippi und Südkarolina brannten Holzkreuze, wurden Schwarze und ihre Sympathisanten gejagt und gelyncht.

Die Bürgerrechtsbewegung und die Befreiung der Frauen sind in den USA untrennbar mit dem Kampf gegen das rassistische Erbe verknüpft. Malcolm X und Martin Luther King stehen für das Aufbegehren gegen die Herrschaft weißer Familien, weißer Vorurteile und weißer Schlüsselstellungen in Wirtschaft, Militär und Politik.

Alex Haleys Familiensaga

1976 erschien in den USA ein Buch, das Beecher Stowes Roman in gewisser Weise fortschrieb, mächtig unterstützt durch das Fernsehen. Roots (Wurzeln) erzählt die Saga des Kunta Kinte aus Westafrika, der als Jugendlicher von Sklavenjägern gefangen, verschleppt und nach Übersee verfrachtet wurde.

Ausgehend von ihm, dem ersten Schwarzen, dem unzähmbaren Wilden, schlägt Alex Haley einen atemberaubenden Bogen durch die amerikanische Geschichte. Mit neuem Selbstverständnis zeigt er die Schwarzen als Amerikaner, als gleichberechtigte Einwanderer wie die Weißen auch, meldet ihre Ansprüche auf Teilhabe an.

Die packende TV-Serie fegte in Amerika die Straßen leer. In Westdeutschland und anderen Ländern erregte sie enormes Aufsehen. Haley, der später in Afrika nach seinen Vorfahren suchte – und sie tatsächlich fand –, gab dem Kampf um Gleichberechtigung neuen Auftrieb.

Zähes Ringen hält an

Wie schwer die Bürden sind, die Amerika durch seine Geschichte schleppt, beweisen Revolten und das zähe Ringen bis auf den heutigen Tag – bis zu Black Lives Matter. Letztlich ist die Befreiung aus der Sklaverei eine soziale Frage. Denn nach wie vor spuken weißer Dünkel und rassistische Vorurteile durch viele Hirne, nicht nur in den USA.

Zu empfehlen ist eine Dokumentation, die das ZDF kürzlich als Vierteiler präsentierte. Darin begibt sich der bekannte US-Schauspieler Samuel L. Jackson auf die Reise in seine Vergangenheit, in die Vergangenheit seiner Familie. Auch er ist Nachfahre von Sklaven, die im Gebiet des heutigen Ghana siedelten.

Enslaved: Auf den Spuren des Sklavenhandels

Ein Nachtrag für Berliner

Die Siedlung Onkel Toms Hütte in Zehlendorf liegt am Rand des Grunewalds. Ihren Namen erhielt sie 1885 durch ein Ausflugslokal. Dessen Besitzer Thomas benannte es in Anlehnung an Beecher Stowes Roman. Die Siedlung wurde zwischen 1926 und 1931 erbaut.

Die Illustrationen zu diesem Artikel stammen von Werner Klemke, entnommen der Ausgabe von Onkel Toms Hütte, 1952 erschienen im Verlag Neues Leben Berlin.

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© Verlag Solare Zukunft
Freitag, 7. Oktober 2022

Neuer Epilog für Sachbuch von Michael E. Mann erschienen

Propagandaschlacht ums Klima: Das bekannte Buch von Michael E. Mann ist in den USA als Paperback erschienen. Diese Ausgabe enthält einen neuen Text, der zwischenzeitlich übersetzt wurde und als ergänzendes Heft bestellbar ist.

Das 32 Seiten starke Büchlein kann in die deutsche Ausgabe von The New Climate War (Titel: Propagandaschlacht ums Klima) eingelegt werden. Es kann einzeln oder als Bundle erworben werden. Mit dem neuen Epilog hat der Autor sein Buch aktualisiert und an jüngste Ereignisse angepasst. Somit hat das Buch nochmals an Bedeutung gewonnen.

Eines der meistgelesenen Werke der Umweltbewegung

Das Buch The New Climate War gehört in den englischsprachigen Ländern zu den meistgelesenen Werken der Umweltbewegung. Vor anderthalb Jahren erschien es auf Deutsch: Unter dem Titel Propagandaschlacht ums Klima wurde es von der DGS Franken herausgegeben und im Verlag Solare Zukunft veröffentlicht.

Das Team um Matthias Hüttmann, Tatiana Abarzúa und Herbert Eppel wagte sich mutig an die Aufgabe, das anspruchsvolle Original für deutschsprachige Leser zu übersetzen. Sie haben auch den neuen Epilog übertragen und als Ergänzung für das deutsche Werk publiziert. (HS)

Hier können Sie den neuen Epilog bestellen.

Michael E. Mann: Propagandaschlacht ums Klima
(Buchvorstellung und Rezension vom 22. April 2021)

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  • Die Baracken für die Wacheinheiten sind verschwunden. Der gesamte unterirdische Komplex blieb erhalten. © H.S. Eglund
  • Die Anlage erstreckt sich über mehrer Hektar und liegt in einem Waldstück. © H.S. Eglund
  • Luftauslässe und Töpfe für die Zufuhr von Frischluft, unmittelbar am Raketenschacht. © H.S. Eglund
  • Zugang zum Atomkeller. Hier taten hunderte Sowjetsoldaten jahrelang Dienst. © H.S. Eglund
  • Erläuterung der ausgedehnten Bunkeranlage anhand von Grafiken und Luftbildern. © H.S. Eglund
  • Das Museum in Saltojo beleuchtet den Kalten Krieg im globalen Maßstab. © H.S. Eglund
  • Ehemaliger Technikraum für die Elektrik, heute um Exponate des Museums ergänzt. © H.S. Eglund
  • Warntafel mit Hinweisen für das Verhalten bei nuklearen Explosionen. © H.S. Eglund
  • Wie in der DDR wurde auch in Litauen in den 1970er Jahren ein Schulfach zur vormilitärischen Ausbildung eingeführt. © H.S. Eglund
  • Ende der 1970er Jahre wurde die Bevölkerung des Baltikums regelmäßig für den Ernstfall geschult. © H.S. Eglund
  • Dieser Dieselgenerator versorgte den Bunker rund um die Uhr mit elektrischem Strom. © H.S. Eglund
  • Generator für die Stromerzeugung untertage. © H.S. Eglund
  • Hier befand sich der Tank mit dem Treibstoff der Raketen. © H.S. Eglund
  • Verteilleitungen für Treibstoff und Diesel im unteren Teil der Bunkerkonstruktion. © H.S. Eglund
  • Hinweistafel zum Treibstoff für die Raketen. © H.S. Eglund
  • Die Versorgung der Raketen mit Treibstoff war nur unter Vollschutz möglich. © H.S. Eglund
  • Ein Lehrfilm zeigt die Entladung des giftigen Treibstoffs aus dem Tankwagen. © H.S. Eglund
  • Detail der Raketenbetankung. © H.S. Eglund
  • Sowjetischer Wachsoldat in gefechtsmäßiger Ausrüstung untertage. © H.S. Eglund
  • Blick in den Startschacht einer SS-4-Rakete. © H.S. Eglund
  • Ein Lehrfilm der Sowjetarmee zeigt die automatische Öffnung eines Raketensilos vor dem Abschuss. © H.S. Eglund
  • Schwere Stahlkalotte zum Verschluss des Raketensilos von unten. © H.S. Eglund
  • Inspektionsgang am oberen Ende des Raketensilos, unterhalb der Abdeckung. © H.S. Eglund
  • Lagezentrum für die baltischen Atombunker, aus einem Film der Sowjetarmee. © H.S. Eglund
  • Warten auf den Knopfdruck: Vorstufe zum gefechtsmäßigen Einsatz der Atomwaffen. © H.S. Eglund
  • Hinweistafel auf dem Rundgang durch den Bunker. © H.S. Eglund
  • Dienstbesatzung im Nachrichtenzentrum des Raketenbunkers. © H.S. Eglund
  • Dienstraum des Funkers. © H.S. Eglund
  • Wachposten für den diensthabenden Offizier, Schild der ruhmreichen Sowjetarmee. © H.S. Eglund
  • Dienstzimmer des wachhabenden Offiziers - eine karge Kammer. © H.S. Eglund
  • Im Museum wird die Technik der Atomraketen ausführlich erläutert. © H.S. Eglund
  • Sowjetische Propaganda: Kein einziges Versprechen der Revolution wurde eingelöst. © H.S. Eglund
  • Typische Szene im Bunkeralltag, im Befehlsraum. © H.S. Eglund
  • Blick zum Ausgang: Endlich diese Gruft verlassen! © H.S. Eglund
  • Im Baltikum sind zahlreiche Zeugnisse der Sowjetära erhalten. © H.S. Eglund
Montag, 3. Oktober 2022

Saltojo: Die Geister aus der Unterwelt

Im litauischen Zemaitija Nationalpark stehen die Überreste einer früheren Startbasis für sowjetische Atomraketen. Was die Sowjets hinterließen, führt vor Augen: Putins Idee eines großrussischen Reichs ist Schnee von gestern.

Es ist Spätsommer, ein regnerischer Tag an der Ostsee, wo sich Wolkenhaufen türmen und die Wellen sanfte Strahlen auf den Strand schicken, Strahlen aus flüssigem Metall. Doch die Idylle ist getrübt. Seit Monaten herrscht Krieg in der Ukraine.

Nur wenige Kilometer südlich stößt die litauische Küste an die Grenze nach Kaliningrad. Wo sich normalerweise lange Schlangen von Tagestouristen reihen, gähnt Leere. Der Schlagbaum bleibt unten. Russland hat dicht gemacht.

Putin laufen die Leute weg

Muss es tun, sonst laufen ihm die Leute davon. Die Bilder flüchtender Russen erinnern an die TV-Bilder aus dem Sommer 1989, aus den westdeutschen Botschaften in Budapest und Prag. Ein Regime, dem die Menschen ihre Rücken kehren, kämpft auf verlorenem Posten. Da muss man nicht lange diskutieren, das ist historisch erledigt.

Der massenhafte Auszug der Russen begann nicht erst mit dem Überfall auf die Ukraine, nicht erst am 24. Februar 2022. Zwischen 2019 und 2021 haben rund zwei Millionen vor allem junge, akademisch ausgebildete Russinnen und Russen ihr Land verlassen, sind ins Exil gegangen.

Während die russischen Straflager unter Präsident Putin aus allen Nähten platzen, schwillt der Exodus weiter an. Rund 25.000 politische Gefangene sitzen derzeit in Russlands Knästen, viel mehr als unter Breschnew.

Schweres Erbe aus Beton

Wie schwer das Erbe wiegt, und wie wenig Putin und seine Oligarchen in unsere Zeit gehören, wird bei einem Besuch in Saltojo offenkundig. Der Ort liegt im Zemaitija Nationalpark, eine Autostunde von der Küste bei Klaipeda ins Landesinnere hinein. Dort befindet sich das Museum des Kalten Krieges, auf dem Gelände einer ehemaligen Abschussbasis für Raketen des Typs SS-4.

Insgesamt vier solcher Basen gab es auf dem Gebiet der litauischen Sowjetrepublik, weitere in Lettland und Estland. Ihre Ziele lagen in Westdeutschland. Weil der Ort, seine Bestimmung und seine Zeit außerordentlich gut dokumentiert wurden, gerät der Besuch in Saltojo zur Zeitreise, zurück in die 1970er und 1980er Jahre.

Im Keller des Gulag

In Saltojo befanden sich vier Schächte für SS-4, die im Ernstfall ihre nuklearen Sprengköpfe gen Westen getragen hätten. Die Bunkerbauten sind keine Monumente russischer Größe, sondern Mahnmale von Angst und Furcht. Grober Betonguss und klobige Eisenstäbe, mehr hätte die sowjetischen Bauleute überfordert.

Die Einrichtung ist dürftiger als dürftig, gleicht eher einem Gefängnis als einem Camp für militärische Spezialisten. Der Roten Armee waren Menschen offenbar nichts wert, nicht einmal ihre Offiziere. Man hat den Eindruck: Wer hier dienen musste, hatte sich etwas zuschulden kommen lassen. Landete im Keller des Gulag.

Druschba, Freundschaft? Na danke!

Dabei wurden die Raketentruppen als Schild des Kommunismus verherrlicht, als Speerspitze der ruhmreichen Sowjetarmee. Ernüchternd, wie unrühmlich es zur Sache ging. Wie erbärmlich das alles war.

Man fühlt sich an die spärlich gekleideten, wie Häftlinge gehaltenen Muschkoten der Roten Armee erinnert, die bis 1994 gelegentlich im Osten Deutschlands auftauchten, und denen jeder Kontakt zur einheimischen Bevölkerung untersagt war. Ein Bild des Jammers, nur Mitleid erregend. Druschba, Freundschaft? Na danke!

Wie Ratten untertage

Die Mannschaften zur Bedienung der Raketen lebten wie Ratten untertage, waren eingepfercht und eingesperrt. Den Abschuss der Raketen hätten sie in jedem Fall mit dem Leben bezahlt, auch ohne Gegenschlag des Westens.

Denn die extreme Hitze aus den Strahlrohren und die giftigen Abgase der Raketen hätten die Besatzung des Bunkers innerhalb weniger Minuten gegrillt und verseucht. Flucht ins Freie war unmöglich, nach den Raketenstarts war der oberirdische Teil des Areals gleichfalls kontaminiert.

Vier Schächte gruppierten sich um die zentrale Versorgung mit Treibstoff, einer extrem giftigen Mischung aus Stickoxiden und Salpetersäure. Dieses Zeug war so heftig, dass die Soldaten die Tankwagen nur unter Vollschutz entladen durften. Unfälle mit schweren Vergiftungen oder Tod waren die Folge, genaue Zahlen gaben die Sowjets nie preis.

Russen versprachen Sicherheit

Als die russischen Truppen 1994 das Land verließen, das unabhängige Baltikum räumten, nahmen sie ihre Atomraketen mit. Der Beton blieb, metertief ins Erdreich vergraben. In weitem Umkreis waren die Böden verseucht, vom Treibstoff der Raketen und dem Diesel für die unterirdischen Generatoren.

Gleiches geschah in der Ukraine, wo der damalige Präsident Jelzin den Ukrainern im Gegenzug militärischen Schutz versprach. Nur unter dieser Prämisse waren die Ukrainer bereit, ihre Atomwaffen abzugeben, sich ein Stück weit ihrem östlichen Nachbarn auszuliefern.

Niemand will „heim ins Reich“

Rückblickend, in den Bunkern von Saltojo wandelnd, kann man verstehen, warum keine der früheren Sowjetrepubliken „heim ins Reich“ möchte. Denn längst verstehen sich die Balten als Europäer, ihr Lebensstandard liegt deutlich höher als in Russland.

Das gilt auch für die russischen Familien, die in Litauen, Lettland und Estland leben. Und junge Ukrainerinnen und Ukrainer haben einfach keine Lust, sich von Moskau bevormunden zu lassen. Nicht mit Phrasen von gestern, nicht mit Schlagstöcken gegen Demonstranten, nicht mit Befehlen fürs Militär.

Putin hat nichts zu bieten

Je mehr Putin auf seine untreuen Satelliten einhämmert, desto mehr treibt er sie weg – und die eigene Leute aus dem Land. Desto lächerlicher macht er Russland vor der Welt, desto schwerer drückt der Krieg auf seine eigene Bevölkerung.

Nichts hat Putin zu bieten, außer Bevormundung, Zwang und Ödnis. Nur seine Oligarchen dürfen auf Kosten Russlands und seiner Menschen in zaristischem Prunk leben, in mondänen Palästen und teuren Yachten.

Immer weniger Menschen wollen für diese feiste Kaste ihre Knochen hinhalten. Die Frage ist, wie lange sich die Russinnen und Russen noch täuschen lassen. Als gelehriger Offizier des KGB hat Putin seine frühesten Lektionen artig gelernt. Und hört nicht auf, sie aus der Mottenkiste zu holen: Der Westen ist schuld, der Westen will Russland zerstören!

Putin: der Mann des Untergangs

Für seinen Untergang braucht Russland den Westen nicht, es hat Putin. Gegenwärtig hat er denselben Erfolg, der seinen Vorgängern beschieden war: Stalin, Chrustschow, Breschnew und auch Gorbatschow.

Sie alle haben es nicht vermocht, den Lebensstandard in der Sowjetunion merklich zu heben oder mit der sozialen Entwicklung im Westen mitzuhalten. Betonklötze wie in Saltojo waren keine Meilensteine auf dem Weg zum Kommunismus. Es sind Denkmäler des schleichenden Niedergangs.

Schrottplätze statt leuchtender Vision

Nichts, aber auch gar nichts hat der Sowjetkommunismus verwirklicht. Nichts, das es wert wäre, bewahrt zu bleiben. Hohle Phrasen zerplatzten wie Seifenblasen. Gleiches wird Putins markigen Sprüchen beschieden sein.

Statt der Visionen einer besseren, leuchtenden Zukunft strahlen die Atomruinen von Tschernobyl, von Semipalatinsk, die Schrottplätze der Atom-U-Boote in Murmansk, auf der Halbinsel Kola und in Wladiwostok. Irgendwann werden auch die Menschen Russlands begreifen, dass man Uran, Panzer und Raketen nicht essen kann.

Exodus junger Menschen

Es denkt in Russland. Das beweist der Exodus wehrfähiger junger Männer, seit die Teilmobilisierung verkündet wurde. Rund 100.000 flohen bereits in den Westen, über die Grenzen ins Baltikum und nach Finnland.

Nach Süden, in die ehemaligen Sowjetrepubliken Mittelasiens sind bislang rund eine Viertelmillion Menschen geflohen. Die Staus an den Grenzen reißen nicht ab.

Es bleibt zu hoffen, dass Europa jetzt nicht kneift und der Empfehlung von Präsident Selenskij folgt: Deserteure müssen in Russland mit Strafverfolgung rechnen. Also ist ihnen Asyl zu gewähren.

Ein riesiges Straflager

Unter denen, die Russland verlassen, sind Akademiker in der Überzahl. Der wirtschaftliche Aderlass für Russland ist kaum abschätzbar. Was Putin nicht versteht, als Offizier des Geheimdienstes nicht verstehen kann: Die Wiederbelebung des russischen Imperialismus führt unweigerlich in den Gulag, in ein Land, das als riesiges Gefängnis organisiert und verwaltet wird.

Das geschieht bereits, deshalb schwellen die Flüchtlingstrecks weiter an. Offenbar ist die Hoffnung gering, dass sich in Russland etwas ändert. Ähnliche Agonie herrschte im Sommer 1989 in der DDR, als die Menschen über Ungarn und westdeutsche Botschaften flohen.

Atomkomplex: Pfeiler und Sargnagel der Despotie

Nichts hat Putin in der Hand, um den Westen zu beeindrucken und seine Leute an der Flucht zu hindern. Nur die atomare Keule, die Drohung mit der Bombe. Womit wir wieder in Saltojo wären.

Die alte Bunkeranlage bezeugt, beweist den Irrglauben, Fortschritt mit Waffen aufhalten zu können. Die atomare Hochrüstung zwischen Mitte der 1950er bis Ende der 1980er laugte die ohnehin schwache sowjetische Wirtschaft aus.

Schwer lastete der militärisch-nukleare Komplex auf der Gesellschaft, ein Staat im Staate, der wertvolle Ressourcen fraß. Er hinterließ radioaktive Ruinen, von denen Tschernobyl die bekannteste ist.

Ein gigantischer Kostenblock

Das Atomdesaster von Tschernobyl kostete die Sowjetunion mehr als 300 Milliarden US-Dollar. In Russland ist die Atomwirtschaft – wie in anderen Staaten auch – eine staatlich gestützte Industrie, eng mit Politik und Verwaltungen verflochten.

Der Grund: Tödliches Uran und Plutonium (das aus Uran hergestellt wird) sind unter den normalen Risiken eines wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs nicht finanzierbar. Außer der Armee hat dafür niemand Verwendung. Uran ist das einzige Metall, das keine nützlichen Werte schafft, nicht schaffen kann. Es kann nur töten und zerstören.

Die staatliche Rosatom erwirtschaftet keinen Wohlstand, den der russische Staat zur Erfüllung seiner sozialen Aufgaben nutzen könnte. Im Gegenteil: Alle Atommächte der Welt kämpfen mit Milliardenlöchern, die der Uranbergbau, die Urananreicherung, atomare Anlagen des Militärs oder alte Atomkraftwerke in ihre Staatsbudgets reißen.

Der mit Abstand größte Kostenblock ist der Rückbau kontaminierter Schächte, Fabriken, Kraftwerke und Häfen. Und die finale Lagerung der Rückstände.

Acht Milliarden Euro für die Wismut

Allein der Rückbau der ehemaligen Uranbergwerke der Wismut AG in Sachsen und Thüringen hat seit der Wende rund acht Milliarden Euro verschlungen. Dabei hatte die DDR nicht einmal eine eigene Atomindustrie, lediglich einen Forschungsreaktor in Rossendorf (bei Dresden) und zwei kleinere AKW in Rheinsberg und Greifswald.

Schon damals erwiesen sich hochfliegende Pläne als unfinanzierbar, bis in die 1970er Jahre rund zwanzig AKW in der DDR zu errichten. Keines dieser Projekte ging jemals ans Stromnetz, der DDR ging ökonomisch die Puste aus.

Die Atomindustrie ist pleite

Ähnliches sehen wir derzeit in den USA, in Frankreich, in Großbritannien, in China – und vor allem in Russland. Die Atomindustrie ist pleite. Nachdem die Laufzeit der AKW aus den 1960ern und 1970ern abgelaufen ist, müsste man diese Anlagen mit hohem Aufwand sanieren.

Das kann niemand bezahlen, vor allem die Betreiber nicht. Die Entsorgung des Atommülls gehört nicht zu ihrem Geschäftsmodell. Das wird dem Staat überlassen, der angesichts der brennenden sozialen Probleme andere Sorgen hat.

Nur schwach entwickelt

Russland ist – gemessen an seiner Größe und an seinen Bodenschätzen – eigentlich ein reiches Land. Dennoch hatte es vor dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine eine Wirtschaftskraft, die nur einem Drittel Deutschlands entsprach.

Nimmt man grob an, dass die Bevölkerung Russlands doppelt so groß ist wie Deutschlands, erarbeitet jede Russin und jeder Russe nur ein Sechstel der Werte, die in Deutschland pro Kopf erwirtschaftet werden. Das bedeutet: Russland ist wirtschaftlich vergleichsweise schwach entwickelt.

Ausverkauf der Bodenschätze

Zumal die russische Bilanz vor allem auf dem Verkauf von Erdöl und Erdgas basiert. Man kann es Ausverkauf nennen, denn die Veredelung der Bodenschätze, ihre Weiterverarbeitung, findet kaum statt.

Mit dem Einmarsch in die Ukraine ist fast das gesamte ausländische Kapital aus Russland geflohen. Der einzige Ausweg für Putin war, die ungeheuren Gasmengen seines Landes nach Asien zu verkaufen, deutlich unter dem Preis, den er in Europa erzielt hatte.

Eine Supermacht wird verramscht

Soll heißen: Präsident Putin hat es geschafft, seine selbst ernannte Supermacht zu verramschen. Chinesen und Inder klatschen in die Hände, weil Putin ihnen einen Preisnachlass von zehn Prozent gewähren musste, um sein Erdgas loszuwerden.

Zugleich ist er auf Getreu und Verderb auf diese beiden Abnehmer angewiesen. Denn auch ein schneller Frieden in der Ukraine dürfte den Westen kaum bewegen, jemals wieder russisches Gas zu kaufen – von russischer Atomtechnik ganz zu schweigen.

Abstimmung mit den Füßen

Hunderttausende streben danach, Russland zu verlassen. Viele Tausend defilierten am Sarg von Michail Gorbatschow. Es denkt in Russland, trotz der Repressalien, der Verhaftungen und neuen Gefängnissen.

Diese Abstimmung mit den Füßen macht Mut und lässt hoffen, obgleich der brutale Krieg in der Ukraine weiter geht. Es wird viel Hoffnung und Mut brauchen, ihn zu beenden. Und noch mehr, um Russland eine Zukunft zu öffnen – ohne sich selbst zu zerfleischen.

Website des Zemaitija National Parks

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