Helgoland – Sonnenwende überm Fuselfelsen
Die Insel in der Deutschen Bucht war vieles: Schmugglernest, Zankapfel der Großmächte, waffenstarrende Festung, ödes Eiland und zollfreier Supermarkt. Mittlerweile werden die Butterfahrer durch Ökotouristen abgelöst. Denn Heligoland, wie es die Engländer nennen, lebt von der See – und von Sonne und Wind.
Mitte Juni geht die Sonne im Nordwesten unter, über nahezu stillem, glatten Meeresspiegel. Lange braucht der glühende Punkt, um zum Horizont zu sinken, ihn zu berühren und schließlich über den Saum der Erde ins Nichts zu fallen.
Begleitet wird das Spektakel vom ohrenbetäubenden Gekreisch der Basstölpel, Trottellummen und Möwen, gelegentlich zieht sogar ein Albatros seine Kreise. Für Vogelbeobachter, neudeutsch: Bird Watcher, ist Helgoland ein Paradies. Nirgends in Mitteleuropa gibt es so viele verschiedene Arten, auf so engem Raum.
Kaum mehr als eine Felsenklippe
Sprichwörtlich, denn Helgoland ist kaum mehr als eine Felsenklippe in der Nordsee. Brutvögel und durchziehende Wandervögel haben seinen Ruf nachhaltig verändert.
Jahrhundertelang galt die Insel als Nest für friesische Austernfischer, Piraten und Schmuggler. In der Neuzeit kam der rötliche Fels zunächst unter dänische Hoheit, bevor ihn 1807 die Engländer besetzten.
Napoleons Kontinentalsperre geknackt
Von Helgoland aus knackten englische Schmuggler die Kontinentalsperre, die Napoleon gegen London verhängt hatte. Zeitweise wurde mehr Ware umgeschlagen, als im Hafen an der Themse. Deshalb gewährten die Engländer ihren Untertanen den besonderen Status der Zollfreiheit – denn Helgoland lag weit außerhalb des britischen Staatsgebiets.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Napoleon Geschichte, und England das Herz eines globalen Imperiums. Queen Victoria trat Helgoland im Tausch gegen Sansibar an den deutschen Kaiser ab.
Lukrativer Tausch
Ein spannendes Geschäft, denn Sansibar gehörte seinerzeit nicht zu den deutschen Kolonien in Ostafrika (Tanganjika, heute Tansania). Der Kaiser duldete lediglich die britische Flottenpräsenz. Die Engländer wollten eine Basis im Indischen Ozean aufbauen, mit Blick auf die Zufahrt zum Roten Meer und zum Suezkanal – und vor allem nach Indien.
Im Gegenzug fiel Helgoland ans Deutsche Reich. Die Insel hatte strategische Bedeutung, denn sie beherrscht nicht nur die Häfen von Bremerhaven und Hamburg. Auch der westliche Ausgang des Nord-Ostee-Kanals wird von ihr kontrolliert.
Kaiser Wilhelm begann sofort, die Insel zur Festung auszubauen. Das war eine schlechte Nachricht. Die gute lautet: Er ließ 1910 die berühmte Vogelwarte errichten, Vorläufer der biologischen Forschungsanstalt, die heute zum Alfred-Wegener-Institut gehört.
Illusion der Überlegenheit
Im Ersten Weltkrieg spielte die Insel kaum eine Rolle, wie auch die deutsche Marine kaum etwas gegen die britische Blockade ausrichten konnte. Aber „Helgoland in deutscher Hand“ nährte die Illusion von Herrschaft über die Nordsee – und war damit Zunder für die Kriegstreiber und Befürworter der Aufrüstung. Mit Kriegsbeginn wurden die Helgoländer expatriiert, erst nach dem Ende der Feindseligkeiten kehrten sie zurück.
Der deutschtümelnden Euphorie unter den Insulanern tat das keinen Abbruch. Fünfzehn Jahre später lag die Zustimmung zu NDSAP auf der Insel bei deutlich über fünfzig Prozent, mehr als Sozialdemokraten und Kommunisten zusammen.
Hitler träumte noch gigantischere Pläne als der Kaiser: Helgoland sollte die gesamte deutsche Flotte aufnehmen. Umfangreiche Bauarbeiten kamen in Gang: Der Buntsandstein wurde untertunnelt und mit Geschützstellungen versehen. Weite Areale des flachen Meeres wurden mit Beton eingedeicht, um einen riesigen Hafen zu gewinnen.
Unbarmherzige Faust der Alliierten
Doch schon 1941 wurden die Arbeiten eingestellt. Das Projekt uferte aus, wurde zu kostspielig. Im Zeitalter des Luftkriegs war klar geworden, dass Flotten kaum noch eine Rolle spielten.
Der Luftkrieg ereilte Helgoland mit unbarmherziger Härte: Zwei Wochen vor Kriegsende 1945 flogen rund tausend alliierte Bomber ein und luden ihre Todesfracht auf das schmale Eiland ab.
Unbewohnbar für Generationen
Danach waren alle Geschütze verstummt, ihre (blutjungen) Besatzungen tot und die meisten Bewohner der Insel schwer traumatisiert. Nur knapp hatten sie in Bunkern und Katakomben überlebt. Helgoland war eine Trümmerwüste – unbewohnbar für Generationen, wie es schien.
Erneut wurde die Bevölkerung zum Festland evakuiert, wo sie das Chaos der letzten Kriegstage erwartete. Helgoland wurde Niemandsland, mit einer kleinen englischen Garnison als symbolischer Besatzung.
Fels hielt der Sprengung stand
Im Jahr 1947 schließlich beschlossen die Briten, die unheilvolle Felsenklippen ein für alle Mal aus der See zu tilgen. Mehr als 9.000 Tonnen Sprengstoff wurde herangeschifft, faktisch der gesamte Vorrat, den der Krieg hinterlassen hatte.
Nur die Explosionen von Hiroshima und Nagasaki waren verheerender. Trotz der gewaltigen Eruption („Big Band“), die noch in Cuxhaven spürbar war, blieb ein großer Teil der Felseninsel unversehrt – das heutige Oberland.
Ein anderer Teil, durch Hitlers Ingenieure und versklavte Zwangsarbeiter durchlöchert „wie Schweizer Käse“, sackte ab. Er markiert das heutige Mittelland, das in grasigen Wellen zum Hafen und zum Strand abfällt (Unterland).
Rückkehr und Neubeginn
Erst 1952 durften die Helgoländer auf ihre Heimatinsel zurückkehren. Die Briten zeigten Goodwill mit den Krauts in Westdeutschland, die sogleich den Wiederaufbau in Angriff nahmen. Um der Insel eine Zukunft zu ermöglichen, wurde das alte Zollprivileg erneut in Kraft gesetzt.
Denn formal liegt Helgoland auch außerhalb des deutschen Staatsgebiets. In den 1960er Jahren kam der rote Felsen zu neuem Ruhm: Man unternahm „Butterfahrten“, sparte sich die Mehrwertsteuer. Helgoland wurde als „Fuselfelsen“ tituliert, war Vorläufer des Ballermann auf Mallorca.
Tand, den kein Mensch braucht
Noch heute sind die Geschäfte voll von Tand, den kein Mensch wirklich braucht: edle Geschmeide, Whiskys in tausend Sorten, optische Geräte wie Feldstecher oder wuchtige Objektive für die Kameras der Bird Watcher.
Schnäppchen sind das längst nicht mehr, denn die zollfreie Einfuhr zum deutschen Festland ist stark eingeschränkt. Die Überfahrt von Hamburg oder Cuxhaven gibt es auch nicht zum Billigtarif. Fuselfelsen adé, Butterfahrten adé. Das Wirtschaftswunder ist vorbei, auch auf Helgoland.
Kette von Atommeilern
Die Geschichte wäre zu Ende erzählt, wenn die rote Felseninsel nicht eindrucksvoll ein neues Kapitel ihre Historie aufgeschlagen hätte. Wer von den Landungsbrücken in St. Pauli mit dem Katamaran nach Helgoland aufbricht, fährt zwei Stunden die lange Elbmündung nach Norden.
Drei Atommeiler – wie Perlen auf einer Kette – ziehen am Ufer vorbei: Die Reaktoren von Stade, Brokdorf und Brunsbüttel. Jahrzehntelange Proteste, unzählige Havarien und Defekte machten die Kraftwerke berühmt – und berüchtigt. Nun stehen sie alle auf Rückbau und Abriss.
Energiewende als zweites Wirtschaftswunder
Bei Cuxhaven weitet sich die Elbe, öffnet sich zur Nordsee hin. Bis Helgoland dauert die Fahrt weitere anderthalb Stunden.
Weit im Norden rücken die Pfeiler eines gigantischen Windparks aus dem Dunst, rund dreißig Kilometer von Helgoland entfernt. Fast fünfzig Windturbinen liefern sauberen Strom, um mehr als 300.000 Haushalte zu versorgen.
Wartungsstützpunkt für Windparks auf See
Helgoland selbst wird weitgehend mit Windstrom versorgt, der seit 2009 über ein Unterwasserkabel vom Festland zur Insel gebracht wird. Zwar verfügt die Insel über große Ölspeicher und ein klassisches Kraftwerk. Doch der fossile Generator wird nur noch für den Fall vorgehalten, dass es mit dem Kabel hapert.
Seit 2015 ist Helgoland offizieller Wartungsstützpunkt für die Windparks in der deutschen Nordsee. Das spült Gewerbesteuern in die Kassen der Gemeinde, die zum Landkreis Pinneberg in Schleswig-Holstein gehört.
Solaranlagen für die Touristen
Zunehmend werden Solaranlagen sichtbar. Denn die Touristen kommen vornehmlich im Sommer, wenn das Wetter über der Insel sehr sonnenreich ist. Dann wird Strom gebraucht. Was liegt näher, als die Energiekosten durch Solardächer zu senken?
Im Winter sind viele Quartiere der Ferieninsel nicht belegt, oft fahren keine Fähren. Zwischen Oktober und März zeigt sich die Nordsee von ihrer grimmigen Seite. Dann pfeifen arktische Stürme von Grönland, von Island oder Norwegen durch die Bucht und treiben haushohe Wellen durch die See.
Klare, saubere, salzige Luft
Als 2006 der Bau des neuen Unterseekabels begann, wurde ein wesentliches Argument bemüht: Die einzige Konstante, die sich durch Helgolands wechselhafte Geschichte zieht, und die immer wieder Gäste auf die Insel gelockt hat, war die wunderbare, klare Luft der See.
Hierher kam im August 1841 beispielsweise Heinrich Hoffmann von Fallersleben, um die Hymne der Deutschen (Deutschlandlied) zu dichten. Sagt zumindest die Legende, die den Barden auf einer Klippe sitzend skizziert – teutonische Romantik.
Erleuchtung für Werner Heisenberg
Auf die Klippen stieg auch Werner Heisenberg, im Jahr 1925. Den jungen Wissenschaftler aus Göttingen hatte das Heufieber auf die Insel gebracht. Hier konnte er durchatmen und in Ruhe seine Überlegungen zur Quantentheorie vollenden.
Nichts lenkte ihn ab, außer immer gleiche Spaziergänge auf steinigen Pfaden und die immer gleiche, glatte See. Später schrieb er in seinen Memoiren (Der Teil und das Ganze):
In Helgoland war ein Augenblick, indem es mir wie eine Erleuchtung kam, als ich sah, dass die Energie zeitlich konstant war. Es war ziemlich spät in der Nacht. Ich rechnete es mühsam aus, und es stimmte. Da bin ich auf einen Felsen gestiegen und habe den Sonnenaufgang gesehen und war glücklich.
Für seine Begründung der Quantenmechanik erhielt er 1932 den Nobelpreis. Dass er den Nazis nach ihrem Machtantritt die Treue hielt und für Hitler an der Uranmaschine arbeitete, zeigt die persönlichen Grenzen dieses genialen Forschers.
Politische und militärische Rivalitäten um die Insel, der Kaiser, Hitler und das Atomzeitalter – sie sind allesamt Geschichte. Aber Helgoland ragt weiterhin aus dem Meer, zieht jedes Jahr tausende Gäste an.
Sie kommen nicht wegen der Marine, wegen des Fusels oder der Butter. Sie kommen wegen der See und wegen dem Wind und der herrlich sauberen Luft, wegen der Vögel auf den Klippen und den Wolken – die nirgends schneller am Himmel ziehen als hier.
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