Martin Andersen Nexö: „Alle lebendigen Menschen sind auch Dichter“
In seinem Roman Ditte Menschenkind erzählte der Däne die harte Lebensgeschichte einer jungen Frau, die in Armut aufwuchs und in Armut starb. Bildung blieb ihr verwehrt, aber ihre Menschlichkeit war kaum zu übertreffen. Die soziale Aufgabe harrt weiterhin ihrer Lösung.
Mit Dänemark teilen wir eine Grenze, doch ist es den meisten Deutschen weiter entfernt als böhmische Dörfer. Vielleicht kennt man die kleine Meerjungfrau von Hans-Christian Andersen, dem Märchendichter aus Odense.
Oder die Olsenbande, besonders im Osten populär bis zum Überdruss. Oder Prince Hamlet of Denmark, dem freilich der englische Dichter Shakespeare zu Weltruhm verhalf.
Ein weißer Fleck?
Literarisch scheint Dänemark ein weißer Fleck, zumindest für Leserinnen und Leser südlich seiner Grenze. Ausreichend Anlass, einen herausragenden Schriftsteller neu zur Hand zu nehmen: Martin Andersen, der als Kind mit seiner Familie von Kopenhagen nach Nexö übersiedelte, auf der Insel Bornholm gelegen.
Der vor siebzig Jahren in Dresden starb, weil ihm die dänische Heimat verleidet war. Zu stark waren die restaurativen Tendenzen nach dem Krieg, zu stark die Hoffnung auf eine bessere Welt, in der Armut und Knechtschaft der Vergangenheit angehören.
Im offiziösen Kanon der DDR
In der DDR gehörte Nexö zum offiziösen Kanon, wurde verehrt wie Maxim Gorki – oder beinahe. Seine Romane Pelle der Eroberer oder Morten der Rote wurden als proletarische Meisterwerke gefeiert. Als Ausdruck des sozialistischen Siegeszugs in Skandinavien, das für die meisten Leser unerreichbar fern jenseits der Mauer lag.
Dass der Dichter nach dem Krieg in die DDR übersiedelte, spielte der Propaganda in die Hände. Es war der sächsische Ministerpräsident Max Seydewitz, der den Dänen im Jahr 1951 einlud.
Seydewitz hatte die Nazi-Herrschaft im schwedischen Exil verbracht, lernte dort Nexös Werke zu schätzen. Hochbetagt mit 84 Jahren starb Nexö schließlich in seiner Wahlheimat an der Elbe.
Das Proletariat hat versagt
Die proletarischen Romane Nexös werden heute leicht als verstaubt, vergilbt, vergessen abgetan. Wer will noch alte Geschichten über den Kampf (der Klassen) gegen Armut, für Gerechtigkeit lesen? Heute, da wir wissen, dass die ach so klassenbewussten Arbeiter fürchterlich versagt haben.
Denn sie brachten Stalin an die Macht, Hitler und Mao. Tatsächlich gleiten diese Romane immer dann in politische Klischees ab, wenn es um Klassenfragen geht, um politische Statements.
Man ist an Gorkis Mutter erinnert. Früher Pflichtlektüre in den Schulen Ostdeutschlands, ist dieses Buch mittlerweile in der Versenkung verschwunden. Zumal sich Gorki als Freund Stalins profilierte, als linientreuer Agitator, der Gulag und roten Terror ausdrücklich begrüßte.
Zeitlose literarische Substanz
Ganz anders dieses Buch: Ditte Menschenkind. Es erschien 1920, Nexö schrieb vier Jahre daran. Es zeichnet die dramatische Lage der untersten Schichten in Dänemark zur Jahrhundertwende, erzählt vom Rand einer reichen Gesellschaft, die erst in späteren Jahrzehnten soziale Programme auflegte und beispielhaft umsetzte. Dieses Buch hat eine zeitlose literarische Substanz, die keiner ideologischen Erosion unterliegt.
Ditte wird als uneheliches Kind geboren, schon per Taufschein zur Außenseiterin degradiert. Sie wächst in einer Familie von Lumpensammlern auf. Allein damit sperrt sich der Roman gegen die Vereinnahmung durch die Apologeten der sogenannten proletarischen Literatur.
Der Bodensatz der Gesellschaft
Lumpensammler, bei Karl Marx als Pauper abgestempelt, standen weit unterhalb der Fabrikarbeiter. Sie waren der Bodensatz der Gesellschaft, sind es bis heute – als Obdachlose, Empfänger von Hartz IV oder Bürgergeld, Menschen auf der Flucht, auf der Suche nach Schutz, Asyl. Die Frauen dieser Schichten waren – und sind – besonders gefährdet.
Zu Elend und Armut kommen sexuelle Ausbeutung und Mutterschaft, ob ungewollt oder gewollt, das spielte keine Rolle. Spielt es bis heute nicht, wie die Debatten männlicher Herrschaftssysteme über Verhütung, Abtreibung oder sexualisierte Gewalt beweisen.
Das schwierigste Thema überhaupt
Martin Andersen Nexö wagte sich an das schwierigste Thema überhaupt: Mutterschaft, an die Rolle der Mütter in der Gesellschaft schlechthin. Das ist kein politisches Thema, sondern humanistisch angelegt. Dittes Lebensweg vom kosmischen Funken ihrer Geburt bis zu ihrem frühen Tod ist eine großartige Erzählung, dass Armut menschengemacht ist, unglaubliche Verschwendung von Menschen, Lebenszeit und Liebe.
Ditte wird als Komet eingeführt, als neuer Stern am Firmament der Menschheit, und ihr Leben zieht seine Bahn über den Himmel, bis der Komet verlischt, viel zu früh, gescheitert an den Umständen. Als Ditte mit Mitte zwanzig stirbt, teilt sie das tragische Los vieler Frauen ihrer Zeit.
Unterernährt, am Ende ihrer Kräfte
Unterernährt, über ihre Kräfte beansprucht und dennoch hilfsbereit bis zur Selbstaufgabe kämpft sie gegen Egoismus, Gier und fehlendes Mitgefühl – um am Ende alles zu verlieren. Es ist ein großartiges Buch, ein sozialer Roman, der die Schwierigkeiten von alleinerziehenden Müttern auf die Tagesordnung hob.
Obendrein ist Dittes Geschichte meisterhaft erzählt. Das Herz ist der stärkste Sprengstoff, heißt es im Roman. Tatsächlich nimmt uns der Autor an die Hand, führt uns an die raue, unwirtliche Küste Dänemarks – in eine Zeit, die Gott sei Dank nicht mehr existiert, soziale Vergangenheit markiert.
Der Aufstieg sozialistischer Ideen
Gott zu danken, führt am Kern vorbei, denn Nexös Roman spielte beim Aufstieg sozialistischer Ideen in Skandinavien eine wichtige Rolle. Das dänische, schwedische oder norwegische Modell von Gemeinschaft und sozialer Verantwortung löst sicher nicht alle Probleme. Aber es hat sich als beispielhaft erwiesen – ist es bis heute.
Die soziale Emanzipation der Frauen hat gedauert, und sie dauert noch an. Keine Veränderung der Gesellschaft wirkt so durchgreifend und mächtig, wie das Ende der toxischen Männlichkeit, die noch immer Politik und Wirtschaft bestimmt.
Mehr als hundert Jahre nach dem Erscheinen hat Ditte Menschenkind nichts von seiner Brisanz eingebüßt. Der Staub, der auf der alten Schwarte lagert, ist der Staub, unter dem sich ein Schatz verbirgt.
Ditte Menneskebarn: Dänischer Spielfilm von 1946 (Trailer)
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