Sonne und Beton: Beat Street am Rand von Neukölln
Jugend im Gropiuskiez: Ein packender Streifen über falsche Klischees und echte Menschen, die haarscharf an ihren Chancen vorbei schrammen. Ist das noch Berlin oder schon Brandenburg? Nominiert für den Deutschen Filmpreis in vier Kategorien.
Ghetto im Süden von Berlin: Die Gropiusstadt ist das Mahnmal eines gewaltigen Irrtums, betonierte Randzone, wo die Abgedrängten stranden. Rund 18.500 Wohnungen in glatten, tristen Blocks markieren das Marzahn von Westberlin. Mit noch weniger Grün als die bleichen Satellitenviertel am Ostrand der Stadt. Dort leben knapp 40.000 Menschen.
Sozialer Wohnungsbau: Käfige für Menschen
Beton, Beton und manchmal gnadenlose Sonne: Im Herbst und im Winter drückt das Grau der Fassaden auf die Seele. Im Sommer treibt barbarische Hitze den Schweiß aus allen Poren. Schatten ist rar. Nachts glimmt das Häusermeer wie die Menschenkäfige, die asiatischen Megastädten vorgelagert sind, in Hongkong, Shanghai oder Singapur.
Sozialer Wohnraum sollte entstehen, als im November 1962 der Grundstein gelegt wurde. Bauhaus-Gründer Walter Gropius wurde berufen, das neue Wohngebiet auf den Äckern vor Neukölln zu planen und aus dem Boden zu stampfen.
Euphemismus für Armut, Elend und Gewalt
Sechs Jahrzehnte später offenbart sich der brutale Irrtum, der hinter der Idee vom industriell gefertigten Wohnraum steckt: Das Ghetto gilt als sozialer Brennpunkt – ein Euphemismus für Armut, Elend und Gewalt.
Sonne und Beton lautet der Titel eines launischen Jugendbuchs, das in Gropiusstadt angelegt ist und die erbärmlichen Verhältnisse ziemlich unverblümt schildert. Kinder vom Bahnhof Zoo nach Neukölln verlegt. Oder Belafontes Beat Street, oder Deprisa, deprisa von Carlos Saura – mitten im Problemkiez unserer Tage, unserer Stadt.
Computer klauen, um Kasse zu machen
Sonne und Beton heißt auch die Verfilmung, die in diesem Jahr auf der Berlinale gezeigt wurde und seitdem in ausgewählten Kinos läuft. Der Plot, im Film wie im Buch: Vier Halbstarke klauen die nagelneuen Computer aus ihrer Schule, um endlich zu Kohle zu kommen.
Die Handlung spielt vor zwanzig Jahren, könnte aber ebenso gut heute angesiedelt sein. Die Computer wären ein bisschen moderner, alle Leute hätten Smartphones, ansonsten das gleiche Lied.
Schiffbrüchige, am Stadtrand gestrandet
Denn darum geht es: Um das gleiche, alte Lied von Menschen, die sprichwörtlich an den Rand dieser Stadt gespült wurden. In Gropiusstadt wohnt niemand freiwillig, dort stranden Schiffbrüchige. Dort ist Endstation, und das wissen sie. Dennoch ist es Heimat, geliebt und gehasst zugleich.
Berlin dünkt sich gern kreativ, politisch, queer und sonst was. Raue Realitäten wie in der Gropiusstadt stören diese Selbstgerechtigkeit. In Gropiusstadt (wie in Marzahn) trifft die gehobene Mittelklasse auf den gehobenen Mittelfinger einer Schicht, die sich durch gnadenlosen Alltag kämpft: in den Familien, im Wohnblock, in der Schule, in einem oder mehreren Jobs, im Park, im Supermarkt, in der Kneipe oder der Klinik.
Jenseits der unsichtbaren Mauer
Gropiusstadt liegt jenseits des sozialen Rings, der die wohlhabende Mitte unsichtbar von den äußeren Bezirken trennt. Aus den Augen, aus dem Sinn: Die Juppies von Mitte, Kreuzberg, Friedrichshain und Pankow vergessen gern, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung in dieser ach so angesagten Stadt genauso lebt, leben muss. Für die betuchten Rentner von Charlottenburg oder die Villenbesitzer in Wannsee leben in Gropiusstadt ohnehin nur Kriminelle.
Es ist der Verdienst des Buches und des Films, diese unangenehme Tatsache ungeschminkt vor Augen zu führen. Das ist brutal und ernüchternd zugleich, vor allem aber: echt. So echt, wie Kino nur sein kann.
Kein Wunder, dass der Streifen gleich viermal für den Deutschen Filmpreis 2023 nominiert wurde: für den besten Spielfilm, das beste Drehbuch, den besten Schnitt und die beste Tongestaltung. Nur zwei Filme wurden in mehr Kategorien nominiert: Oscar-Gewinner Im Westen nichts Neues und Das Lehrerzimmer.
Immer ist es mörderisch heiß
Manchmal ist es rührend, komisch und von herzzerreißender Naivität. Manchmal tobt nackte Gewalt über die Leinwand, frappierend bis unter den Skalp. In manchen Szenen springt Hilflosigkeit aus den Gesichtern.
Und immer ist es heiß, mörderisch heiß, sogar nachts. Alle schwitzen, keuchen und kämpfen. Für gesunde Distanz ist kein Raum. Alles drängt sich in der betonierten, überhitzten Wüste, zwischen hellhörigen Wänden, zwischen glühenden Schluchten aus Glas und Stein.
Endlich mal richtige Menschen
Endlich mal richtige Menschen auf der Leinwand: Das war mein Fazit, als ich den Kinosaal der Tilsiter Lichtspiele verließ. Regisseur David Wnendt hatte für die Besetzung der vier wichtigsten Rollen Tausende Jugendliche gecastet. Er brachte Laien vor die Kamera, die frisch und unverstellt agierten.
Gestandene Schauspielerinnen und Schauspieler traten als Eltern oder Lehrer oder andere hilflose Akteure in Erscheinung. Jörg Hartmann als Vater von Lukas oder Franziska Wulf als Mutter von Sanchez boten berührende Gegenpole zwischen Überforderung, Realitätsverweigerung und grenzenloser Liebe.
Eine eindrucksvolle Ohrfeige
Eindrucksvoll die schwungvolle Ohrfeige, die Gaby ihrem Sanchez zwischen die Löffel knallt. Um ihn sogleich in ihre Arme zu schließen. Kleine Szenen, großes Kino: Viel Mut, viel Gewalt und viel Verzweiflung. Und viel Liebe – zwischen Bildern, Zeilen, Augen.
Kein gutes Ende, kein böses Ende, am Schluss bleibt alles in der Schwebe. Ein offenes Fazit, nicht ohne Hoffnung, nicht ohne Schmunzeln. Vier Freunde, die verschiedener nicht sein könnten, werden erwachsen.
Einen Sommer lang waren wir ihnen nah, sehr nah, waren mit ihnen unterwegs, im Guten wie im Schlechten. Was bleibt? Ein neuer Film über Berlin? Nee Koile, nee Atze, ein Film über seine Problemzone im Süden. So weit entfernt, dass ich in dreißig Jahren noch nicht dort gewesen bin. Außer einmal: neulich im Kino.
Offizieller Trailer auf Youtube
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