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H. S. Eglund

Schriftsteller • Writer • Publizist

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© EVA
Montag, 21. Dezember 2020

Rudolf Bahro: „… die nicht mit den Wölfen heulen“

Vor 250 Jahren wurde Ludwig van Beethoven geboren. Anlass, einen bemerkenswerten Essay von Rudolf Bahro neu zur Hand zu nehmen. Darin zeigt sich der spätere Dissident und Ökologe als profunder Kenner der Ideengeschichte – und zeichnet Beethoven als Erben der Revolution.

Den Essay „… die nicht mit den Wölfen heulen“ schrieb Rudolf Bahro zwischen 1967 und 1969 in Ostberlin. Damals war er bereits mit den Vorstudien zu seinem Buch „Die Alternative“ befasst, der radikalen Analyse des real existierenden Sozialismus in der Sowjetunion und in der DDR.

Der Beethoven-Essay fiel quasi nebenbei ab, nachdem er seinen Job als Redakteur bei der Zeitschrift Forum wegen mangelnder Linientreue verloren hatte und begann, in der „Gummibude“ zu arbeiten. Erst 1979, nach dem Erscheinen der „Alternative“, nach Stasiknast in Bautzen und nach dem Freikauf durch den Westen, konnte der Essay erscheinen, seinerzeit in der gewerkschaftsnahen Europäischen Verlagsanstalt (EVA). Heute ist das schmale Büchlein nur antiquarisch erhältlich, eine Neuauflage gab es im 250. Geburtsjahr von Beethoven nicht.

Ein Jahrgang wie Hegel und Hölderlin

Bahro sieht Beethoven vor allem als Zeitgenossen von Hegel, dem Philosophen, und dem Dichter Hölderlin. Alle drei sind 1770 geboren, und ihnen ist die hochfliegende Hoffnung auf die Revolution in Paris zwischen 1789 und 1793 gemein, mit dem Aufstieg Robespierres bis zur Gewaltherrschaft des Thermidor.

Der Terror der Revolution, weit von der deutschen Beschaulichkeit entfernt, tut der Euphorie kaum Abbruch. Nach dem Tod von Robespierre auf der Guillotine steigt ein neuer Stern: Napoleon betritt die Bühne, wird zum Hoffnungsträger, der die dumpfen Monarchien in Europa hinwegzufegen droht.

Hegel verliert alle Illusionen

Hegel verliert seine Illusionen gegenüber den Sansculotten als erster, gibt den utopischen Gehalt der Hoffnung auf die Revolution beinahe völlig auf. Hölderlin, der im Hyperion und in vielen seiner frühen Gedichte beinahe überschwänglich die Jakobiner unterstützte, sie nach Deutschland herbeisehnte, verzweifelt an der „tatenarmen Geschichte der Deutschen“.

Und Beethoven, dessen frühe Sinfonien wie die Fanfaren zur Erstürmung der Bastille klangen, zerreißt 1804 die Widmung seiner Eroica (1802 bis 1803 entstanden) für Napoleon, als sich Bonaparte in Paris die Krone aufsetzt, um seine Truppen fortan als Kaiser Bonaparte zu führen: „Vive la republique!“ wird abgelöst durch „Vive l‘Emporeur!“.

Enttäuschung schlägt um in Verzweiflung

Die Enttäuschung schlägt in Verzweiflung um, als Napoleons revolutionärer Aufbruch endgültig in Waterloo endet und der Wiener Kongress 1815 die Monarchien in Europa restauriert. Hegel hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits von der Revolution als historischen und politischen Prozess verabschiedet, sich mit seiner Professur eingerichtet.

Er „heulte mit den Wölfen“, wie er später selbst eingestand. Zu sehr hatte ihn der Terror der Jakobiner erschreckt. Seine revolutionäre Methode, die Dialektik, wird ein anderer als Werkzeug für den Fortschritt prüfen und nutzen: Karl Marx. So ist im Scheitern Napoleons und der Französischen Revolution bereits der Vormärz angelegt, ebenso die Revolution von 1848.

Auch der Philosoph Fichte, der in seinen „Reden an die deutsche Nation“ einst zu seinen Studenten gesagt hatte: „Wie es ist, kann es nicht befriedigen“, schwenkt um 1810 auf einen teutonischen Idealismus ein, resigniert und verschwindet in der Versenkung.

Hölderlin bringt nix Wesentliches mehr zustande. Er flieht in vorgeblichen Wahnsinn und verbringt ab 1807 die zweite Hälfte seines Lebens im abgeschiedenen Turmzimmer des Handwerkers Ernst Zimmer – mit Blick auf den idyllischen Neckar in Tübingen.

Die Fünfte Sinfonie und die Kammermusik

Und Beethoven? „Was macht einer aus seinen Enttäuschungen?“, fragt Rudolf Bahro, der ja selber ein Ausgestoßener und Enttäuschter war, zumindest zum Zeitpunkt, als er diesen Essay schrieb. Nach dunklen, zergrübelten Jahren gelingt es Beethoven, sich zum Ende seines Lebens hin zu neuer künstlerischer Kraft aufzuschwingen. Im Jahr 1812 gelingt ihm mit der Fünften Sinfonie, der Schicksalssinfonie, eine epochale Abrechnung mit Napoleons Größenwahn, just in dem Moment, als die Grande Armee im russischen Winter erfriert.

Danach kommt lange nichts vom Meister, oder wenig, und seine einstige Popularität sinkt schnell. Nach 1815 bis 1820 sind es vor allem zwei Klaviersonaten – kleine Formen – die seinen künstlerischen Weg markieren. Und er schreibt, mit Bahro: „die in ihrer unerfüllten Sehnsucht erschütternden Lieder „An die ferne Geliebte““.

Der Vorteil des Komponisten

Philosophen und Dichter wollen die Ereignisse ihrer Zeit durchdenken und analysieren, ihnen mit Worten zuleibe rücken, sie durch Gedanken bewältigen. Nach 1815 wurde die kritische Auseinandersetzung mit den Fehlern der Revolution und der Restauration durch die Zensur gnadenlos unterdrückt, nicht nur in deutschen Landen.

Der Musiker hat es vergleichsweise besser: Er stützt sich auf Emotionen, rührt weniger den Kopf, mehr das Herz. So gelingen dem späten Beethoven, schon fast taub, vom bürgerlichen Publikum in Wien und Bonn beinahe vergessen, krank und ergraut, zwei krönende Werke: die Neunte Sinfonie und die Missa Solemnis.

Darin ruft Beethoven nicht mehr die Herrschaft der Sansculotten herbei, bleibt nicht bei den aktuellen und politischen Ereignissen stehen. Doch er erkennt die Aufgabe, die zu erledigen bleibt. Mit Schillers „Ode an die Freude“ (geschrieben 1785) kehrt er zu den Träumen seiner Jugend zurück, bewahrt den schöpferischen Kern seiner Musik.

Ungebrochene Popularität

Vielleicht liegt darin der Grund, dass wir heute die Reden von Robespierre, Fichte und Hegel kaum noch lesen, dass auch Hölderlin aus einer verstaubten Ära zu stammen scheint. Doch die Sinfonien Beethovens, seine Sonaten und seine Streichquartette sind populärer denn je – überall auf der Welt. „Vor ihm hat die Musik dem hohen und edelsten Vergnügen gedient“, hat der Dichter Franz Werfel einmal gesagt. „Er hat ihr einen neuen Sinn gegeben, er hat die soziale und ethische Erschütterung zum Tönen gebracht.“

Beethoven hat die Hoffnung thematisiert, für ihn Beethoven galt: „Musik ist höhere Offenbarung als alle Philosophie.“ Denn, nach Bahro, vermag „keine andere Sprache den Charakterkern des Menschen unmittelbarer auszudrücken als die Musik, denn die emotionale Innerlichkeit, das Ich in seiner allgemeinen sozialen und individuellen Bestimmtheit ist ihr eigentlicher Gegenstand. Sie ist, mit den alten Worten, Sprache des Gemüts, der bewegten Seele.“

Das Reich der Freiheit vor Augen

Was im Jahr 2020 bei der Rezeption Beethovens oft übersehen wurde – trotz vieler kluger Gedanken und Interpretationen – ist die Ursprünglichkeit seines Ansatzes, das Neue in seiner Musik. Und das scheint die Essenz der Analyse von Rudolf Bahro zu sein, die spannende Einordnung in die historischen Hintergründe jener Zeit – in die Geschichte der Menschheit, deren Zeiger die Hoffnung ist.

Bahro schreibt: „In der Großen Revolution haben zahllose Menschen das Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, formell ein utopisches Absolutum, als unmittelbares Ziel vor Augen gehabt, das nur noch ihrer eigenen Aktion bedurfte, um wirklich zu werden. Das wird von nun an nie mehr ganz in Vergessenheit geraten.“

Im Unterschied zu Theodor Körner oder Ernst-Moritz Arndt war Beethoven kein Patriot im politischen Sinne. Er dachte über die deutsche Nation hinaus: „Alle Menschen werden Brüder!“ Und genau darin lag der Fluchtpunkt, der seine inneren Kräfte gegen die Resignation und die Verzweiflung mobilisierte.

Aufbruch zwischen Münzer und Marx

Die Französische Revolution markierte in den deutschen Landen eine Spanne, die Bahro als den missglückten Aufbruch zwischen Bauernführer Thomas Münzer (ein Zeitgenosse Luthers) und Karl Marx verortete. Weil es nicht gelang, die feudalen Verhältnisse in den Kleinstaaten umzukrempeln, zogen sich die Deutschen in innere Befindlichkeit zurück, in nostalgische Verklärung der Natur und der Seele.

Dabei war der Ruf nach Schwarzrotgold auf der Wartburg (das Fest der Studenten 1817) der wichtigste Ausdruck der revolutionären Energie gewesen, die vom Aufstand in Frankreich übrig geblieben war.

Aber daraus wurde nichts, die Resauration bestimmte die weitere Geschichte. Die erhoffte Einigung Deutschlands musste fünfzig Jahre warten. Sie kam 1871 auf Befehl des preußischen Kaisers und seines Reichskanzlers – von oben. Der erste Versuch einer Demokratisierung von unten gelang erst 1919 mit der Ausrufung der Republik durch Karl Liebknecht – und wurde in kurzer Zeit wieder erstickt.

Der einzige Blütentraum

Zurück zu Beethoven, zurück zur Revolution in Paris. Bahro schreibt: „Nach 1815 musste auch Beethoven in den Tunnel. Er wäre verloren gewesen ohne das Licht der Erinnerung.“ Vereinsamt und taub musste er erkennen, „daß außer Musik kein jugendlicher Blütentraum gereift ist, auch jener privateste einer geliebten Gefährtin, eines eigenen Kindes nicht. Dieser Beethoven kniet nieder zum „Heiligen Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit“. Er will noch leben.“

Mit der Neunten Sinfonie und in der Missa Solemnis schwingt sich Beethoven noch einmal auf, lässt Robespierre anklingen, der in Paris gerufen hatte: „Lassen wir die Priester und kehren wir zur Gottheit zurück. Wie ist doch der Gott der Natur so anders als der Gott der Priester! Der wahre Priester des Höchsten Wesens ist die Natur; sein Tempel die ganze Welt, sein Gedanke die Tugend, seine Feste die Freude eines großen Volkes.“

Schutzwall gegen die Resignation

Das ist auch Beethovens Religion, und das scheint durch bis zuletzt, bis zur Missa Solemnis (feierliche Messe, komponiert zwischen 1819 und 1823), und natürlich in der Neunten Sinfonie (1824 uraufgeführt) mit der „Ode an die Freude“. So gerät ihm die Musik zum Schutzwall gegen die Resignation, gegen die Verzweiflung, die viele seiner Zeitgenossen ereilte.

Mit Bahro: „Alles oder nichts. Das Unerwartete erwarten. Glauben an das, was es geben muss, auch wenn es noch lange auf sich warten lässt.“ Das ist der Kern der Missa Solemnis, das ist der Kern seiner letzten vollendeten Sinfonie. Er antizipiert die Befreiung, die eines Tages kommen muss – und wird. Bei Goethe liest sich das als berühmter Monolog des Faust:

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn!
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön.
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
nicht in Äonen untergehn.

So erreicht die Neunte Sinfonie eine Leichtigkeit, die keine Sinfonie vorher erreichte: weniger Leiden, weniger Tragik, mehr Freude. Die Niedergeschlagenheit um 1815 fehlt fast völlig. „Abschied feiernd“, schreibt Bahro, „steigt das heldenhafte Subjekt der Fünften Sinfonie wie Phoenix aus der Asche.“

Er kommt mit sich ins Reine

Beethoven kommt mit sich ins Reine. „Am Ende seines Lebens weiß er: Dies ist das menschliche Leben, das man zu führen berufen ist“, urteilt Bahro. „Der wissende Kampf um die Freiheit, und das heißt: um mehr Glück.“ So erfüllen sich Beethovens eigene Worte, als er vom universellen Menschen sprach: „Wir Endliche mit dem unendlichen Geist.“

Diese Läuterung, diese beinahe überirdische Kraft in seinem Spätwerk ist kaum zu überhören, von jedem Menschen spürbar. Karl Liebknecht spielte die späten Sonaten gern auf dem Klavier, Lenin war von Beethoven beeindruckt, und Richard Wagner ging mit der Neunten Sinfonie 1849 in Dresden auf die Barrikaden. In unserer Zeit wurde seine Vertonung der „Ode an die Freude“ zur Hymne der Europäischen Union.

Noch einmal sei Franz Werfel zitiert, der anläßlich des 100. Todestags von Beethoven 1937 sagte: „Alle, die Beethoven aus ehrlichem Herzen feiern wollen, müssen sich sagen, sie feiern einen Empörer und Erneuerer der Kunst und des Geistes… Wer prinzipiell gegen neue Kunst ist, muss gegen den Erneuerer Beethoven sein.“

Unser Tipp:
Rudolf Bahro
… die nicht mit den Wölfen heulen
Das Beispiel Beethoven und sieben Gedichte
Europäische Verlagsanstalt (EVA), Köln 1979
130 Seiten, gebunden
ISBN 3-434-00403-3

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© Media-Paten
Donnerstag, 17. Dezember 2020

Once Upon A Time In The Studio

Wie entsteht die deutsche Fassung für einen Tarantino-Film? Ein Video der Media-Paten erläutert den Prozess, bis das gute Stück fertig ist – in sieben Akten. Kaum zu glauben, dieser Aufwand – und diese Perfektion.

Der Tipp kam von Felix Würgler: Ein neues Video der Media-Paten erlaubt spannende Einblicke hinter die Kulissen der Synchronisierung. Der Film Once Upon A Time In Hollywood von US-Regisseur Quentin Tarantino wurde in den Studios von Iyuno Germany in Berlin-Schöneberg übersetzt, eingesprochen und neu gemischt. Damit alles leicht klingt, musste jeder Laut und jeder Regler sitzen. Richtig harte Arbeit, sehr anschaulich und unterhaltsam präsentiert!

Zu finden hier.

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© H.S Eglund
  • Straßenszene aus dem heutigen Kazimierz in Krakau. © H.S Eglund
  • In der ehemaligen Synagoge befindet sich heute ein Buchladen. © H.S. Eglund
  • Erinnerung an den Sänger in Krakau. © H.S. Eglund
  • Die Liedersammlung von Manfred Lemm, erschienen in der Edition Künstlertreff. © Edition Künstlertreff
  • Eine CD mit Gebirtigs Liedern. Mittlerweile ist die Sammlung auf eine CD-Reihe angewachsen. © Edition Künstlertreff
  • Cover einer CD mit Liedern Gebirtigs von Bente Kahan. © H.S. Eglund
Mittwoch, 16. Dezember 2020

Mordechai Gebirtig: Sänger einer verbrannten Welt

Im Januar 1942 wurde die „Endlösung“ beschlossen. Wenige Monate später starb Mordechai Gebirtig, erschossen von einem deutschen Besatzer. Er war der singende Tischler, Poet des Krakauer Judenviertels. Ein Enkel der Killer nahm seine Lieder mit nach Kazimierz.

Seltsam muss es gewesen sein, das alte, jüdische Viertel von Krakau. Kazimierz, ein schmieriger, klebriger Menschenbrei aus Orient, deutschem Bierwesen und dem mittelalterlichen Anachronismus der K.u.K. Monarchie. Vor achtzig Jahren ging diese Welt unter, vergast und verbrannt im Todestrakt von Auschwitz, kaum dreißig Kilometer vor der alten Königsstadt.

Noch heute dominieren Ruinen, und nur selten verirren sich die Touristen hierher. Lieber schlendern sie durch die Tuchhallen, zwischen den Säulen des Wawel, der alten Königsburg, und in der Krönungskirche, deren Goldprunk so gar nicht zum Armutsgelübde eines Jesus Christus passt.

Beruhigende Stille

Normalerweise steppt auf dem Wawel der Bär, denn in der Gunst der Traveller und Globetrotter steht die polnische Königsstadt ganz oben – neben Paris, Prag und Prenzlauer Berg. Corona hat die Menschenströme gestoppt, beinahe beruhigend, wie still es ist.

Auch in Kazimierz herrscht merkwürdige Stille. Hier blieb die Zeit stehen, hier haben die berühmten polnischen Restauratoren bisher nur zögernd Hand angelegt. Kazimierz: Das Viertel der galizischen Juden, die es längst nicht mehr gibt. Eine Geisterstadt, Refugium von Erinnerungen.

Nehmen Sie ein altes Schwarzweißfoto in die Hand, und betrachten Sie es eine Weile. Dann verstehen Sie, welche Art von Stille ich meine. Sachte. Nur sacht, ganz sachte kehrt jüdisches Leben zurück – fünfundsiebzig Jahre nach dem Krieg und dreißig Jahre nach den Zusammenbruch des Ostblocks.

Der letzte Sänger des Jiddisch

Im Januar 1942 kamen in einer Villa am Wannsee in Berlin eine Handvoll Männer zusammen, um die „Endlösung der Judenfrage“ zu beschließen. Beschlossene Sache war sie seit zwanzig Jahren, war schon in „Mein Kampf“ nachzulesen.

Im Juni 1942 starb im Krakauer Ghetto ein Mann, erschossen auf offener Straße. Das Projektil stammt aus dem Gewehr eines deutschen Besatzers, doch der Name des Mörders ist unbekannt.

Unbekannte Opfer, verschollen

Viele Opfer dieser Zeit blieben unbekannt, verschollen. Den Holocaust und die Jahrzehnte überdauert hat der Name dieses Toten: Mordechai Gebirtig, ein jiddischer Komponist. Gebirtig war ein einfacher Mann, ein Tischler, der seine Lieder zuerst auf einer kleinen Flöte ausprobierte. Als ihn die tödliche Kugel traf, stand er im 65. Lebensjahr.

Mehr als neunzig Lieder hat er hinterlassen. Heute gilt Gebirtig als der letzte Sänger des schwungvollen Jiddisch; der letzte Sänger einer verbrannten Welt. „Der Bogen reicht vom schlichten Kinderlied, zu bacchantischen Trinkliedern bis hin zum fordernden Arbeiterlied“, schreibt die Edition Künstlertreff, die seine Lieder wieder ausgegraben hat. „Nicht die romantisierende Schtetl-Welt ist es, die Gebirtig in seinen Liedern aufleben lässt, sondern das Leben der kleinen Leute im jüdischen Stadtteil Krakaus.“

Streitapfel der Geschichte

Kleine Leute, kleines Viertel, große Weltgeschichte: Als Mordechai Gebirtig das Licht der Welt erblickte, gehörte Krakau zu Österreich-Ungarn. Im Ersten Weltkrieg zerfiel der Vielvölkerstaat, Galizien wurde zum Streitapfel zwischen dem weißen, katholischen Polen und den roten, heidnischen Bolschewisten aus Moskau und Petrograd.

Zusehends verschlechterte sich die Situation der jüdischen Bevölkerung, die allen ein Dorn im Auge war. Gebirtigs Lieder wurden politischer und schärfer, auch ironischer, um nicht die Hoffnung zu verlieren.

Ein Beispiel ist der „Arbetlosemarsch“. 1938 schrieb er für Juden, die sich gegen ein Pogrom wehrten, das Lied „Undzer shtetl brent“. Darin ruft er zum Widerstand auf, unerhört für seine Zeit. Das Lied ist düster, wie eine Totenglocke, als nähme es den Untergang der Jidden vorweg.

Ein Kraftfahrer aus Leipzig

Als die Nazis das Land überrannten, fanden nur wenige Katholiken den Mut, Juden zu helfen. Und noch weniger Protestanten. Der Großvater des Autors hatte sich 1938 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet.

Im Zivilleben transportierte der Kraftfahrer die Zigaretten für Reemtsma zwischen den Fabriken in Dresden und dem Kontor in Leipzig. In Uniform stürmte er mit Hurra durch den Schlagbaum hinter Gleiwitz, um neuen Lebensraum gen Osten zu erobern.

Seine Infanteriedivision eroberte Warschau. War er der Scherge, der den jiddischen Sänger erschoss? Er hätte es sein können. Er war es. Wer auch nur einen Schuss abgegeben hat, hat sie alle auf dem Gewissen.

Als Gebirtig verblutete, war der Leipziger Chauffeur Horst Torge bereits auf dem Weg durch Russland, zur Wolga. Bald war auch sein Lied zu Ende: Gefangenschaft in den Trümmern von Stalingrad Anfang 1943, Arbeitslager in Südrussland, Tod an Typhus im heißen, staubigen Sommer 1946.

Ein altes Lied, ein leises Lied

Dass wir die Lieder Gebirtigs noch – oder wieder – kennen, ist maßgeblich dem Wuppertaler Sänger und Komponisten Manfred Lemm zu verdanken. Mehr als zehn Jahre lang trug er die Lieder des Krakauer Tischlers zusammen, durchforstete Archive und Sammlungen.

Viel Glück und der Zufall hatten ihre Hände im Spiel. Entstanden ist ein bibliophiles Gesamtwerk mit den jiddischen Texten und ihrer deutschen Übersetzung. Parallel dazu erschienen in der Edition Künstlertreff inzwischen 69 Lieder, die Lemm mit seinem Ensemble auf vier CDs eingespielt und dem Vergessen entrissen hat.

Lemms Vertonungen der Gebirtig-Texte wurden in die fünfbändige Yiddish Anthology der Hebräischen Universität von Jerusalem aufgenommen. Mit Konzerten in Israel, Nordamerika und überall in Europa bringt Lemm die jiddischen Lieder erneut ins Bewusstsein: Diese Sehnsucht, diese Wehmut, diese Wut. Diese große Leichtigkeit und dieses verschmitzte Lächeln. Dieser Verlust, der Europa verringert.

Lieder leben davon, dass man sie singt

In der Nachkriegszeit, in der DDR, war es vor allem die bekannte holländische Sängerin Lin Jaldati, die die Lieder Gebirtigs in ihrem Repertoire hatte. Knapp war sie dem Tod entronnen, hatte die Konzentrationslager überlebt – und Anne Frank in den letzten Tagen ihres Lebens begleitet.

Nach dem Krieg gehörte sie zu den wenigen jüdischen Stimmen in Ostdeutschland, weigerte sich beharrlich, das Jiddisch zu vergessen. Auf Youtube gibt es einige sehr schöne Aufnahmen aus dieser Zeit, aus der so wenige Zeugnisse erhalten sind.

Auch die norwegische Sängerin Bente Kahan hat sich des Erbes von Gebirtig angenommen. Seit Beginn der neunziger Jahre führt sie die Lieder öffentlich auf, hat eine beeindruckende Sammlung von CDs mit jiddischen Liedern produziert.

Der Auftaktsong ihrer CD „Farewell Cracow“ heißt „Kinder yorn“ („Kinderjahre“), und es ist diese Melodie, die plötzlich Leben in die stillen Ruinen von Kazimierz zu bringen scheint.

Wie eine längst vergessene Stimme schwingt sie durch die Gassen, fernes Echo einer fernen Zeit. Denn nichts verschwindet jemals ohne Spur, und kein Lied verstummt für immer.

Mehr über Mordechai Gebirtig findet sich hier.

Lin Jaldati singt Gebirtig (Video auf Youtube).

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© Rebecca Budd/Hanne Siebers
Samstag, 12. Dezember 2020

Podcast: Die Robben von Blakeney Point

Hanne Siebers war mit Rebecca Budd zu Tea, Toast & Trivia verabredet – ein faszinierender Podcast über Fotografie und Natur. Siebers ist für den Natural Trust im Norden von Norfolk unterwegs. Im Gespräch erläutert sie ihre ganz spezielle Sicht auf diese ganz spezielle Küstenregion – durch die Linsen ihrer Kamera.

Ausgedehnte Schutzgebiete für zahlreiche seltene Vögel und Robben: Blakeney Point an der Küste von Norfolk gehört zu den bezauberndsten Landschaften in Europa. Das Schilfgebiet ist das zweigrößte Vogelschutzgebiet Europas nach dem Wattenmeer. Und in der Robbenkolonie kommen jedes Frühjahr mehrere tausend Robbenbabys zur Welt. Das Areal wird vom Natural Trust geschützt und verwaltet, der größten privaten Schutzorganisation in Großbritannien.

Einen Traum erfüllt

Die Norwegerin Hanne Siebers hat sich einen Traum erfüllt: Sie ist in Norfolk mit der Kamera unterwegs. Die Küste zur Nordsee – the Wash – ist durch versandete Flachwasser gekennzeichnet, mit dichten Schilfgürteln und sandigen Landzungen, die flach und weit ins Meer laufen. Geprägt durch Ebbe und Flut, ist es ein Paradies für seltene Vögel und die Meeressäuger, die hier eine riesige Kolonie bilden – eine der zehn größten Robbenkolonien weltweit.

Bei Ingwertee und selbstgemachten Sandwiches plaudert sie mit Rebecca Budd aus Vancouver über Fotografie – als Mittel der Kommunikation, als eigene Sprache, als Mittler zwischen dem Tier in seiner natürlichen Umgebung, zwischen ihr als Fotografin und dem Betrachter der Bilder.

Eine unsichtbare Verbindung

So stellt sich eine unsichtbare Verbindung ein. Das Teleobjekt schafft eine Nähe zu den Robben, zu den Vögeln, die in der Natur niemals erreichbar ist – ohne zu stören. „Das ist für mich die beste Medizin“, sagt Hanne Siebers. „Auswärts mit der Kamera zu sein, bei den Tieren, in der Natur.“

Die ehemalige Krankenschwester schwört auf die „heilende Kraft der Natur“, wie sie sich am Blakeney Point offenbart. Das fragile Schutzgebiet wird vom Natural Trust verwaltet. Der Zugang für Bird Watcher und Seal Watcher ist streng limitiert. In der Brutsaison dürfen die Nester der Vögel nur mit einer speziellen Lizenz fotografiert werden.

Die Regeln der naturverträglichen Fotografie

Hanne Siebers erklärt die wichtigsten Regeln der naturverträglichen Fotografie. Denn sie will die Geschichten der Natur erzählen, ohne sie in ihrem Lauf zu beeinträchtigen. Sie bringt ihre Botschaft – die Botschaft ihrer Bilder – auf herzerfrischende Weise ins Gespräch, selbstverständlich und doch intensiv reflektierend.

Ein wunderbarer Ausflug nach Norfolk und zum Blakeney Point – ein natürliches Paradies für Tiere und Menschen gleichermaßen. Wer braucht da noch Reisen?

Der Podcast ist in ausgezeichneter Sprachqualität aufgenommen und dauert eine knappe halbe Stunde. Die Zeit vergeht wie im Fluge – eine lebendige Reise in die raue und doch verletzliche Landschaft an der Küste von Norfolk. Unbedingt reinhören!

Fotos von Hanne Siebers auf der Website des Guardian.

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© H.S. Eglund
  • So sieht das Land aus, wenn es für die Abraumbagger der Grube bereit ist. Die Häuser sind verschwunden, die Brachen fein säuberlich geharkt. © H.S. Eglund
  • Schluss mit Ausschank: Die frühere Dorfkneipe in Manheim und eines der letzten Gebäude. © H.S. Eglund
  • Was der Krieg nicht schaffte, schafft die Kohle: Solche Haufen bleiben von den alten Ortschaften übrig. © H.S. Eglund
  • Es fährt ein Bus nach Nirgendwo: Hier steigt niemand mehr ein. © H.S. Eglund
  • Dieses frühere Gehöft wird als eines der letzten von den Baggern niedergerissen. © H.S. Eglund
  • Die einstmals katholische Kirche in Manheim. Fenster und Türen sind vernagelt. Die Ruine wartet auf den Abriss. © H.S. Eglund
  • Die Rodung des Hambacher Forstes zu stoppen, war eine politische Entscheidung. Warum wird nicht der gesamte Kohlebergbau beendet? © H.S. Eglund
  • Der Hambacher Forst ist durch starke Trockenheit gefährdet - nicht nur durch die Abraumbagger. Der Wassermangel wird durch die Tagebaue verschärft. © H.S. Eglund
  • Nur an wenigen Stellen ist noch zu erkennen, wie alt und urig der Hambacher Forst ist. © H.S. Eglund
  • Die Erschließungsstrassen für den Tagebau zerschneiden den Rest des Hambacher Forsts, der im Mittelalter als Bürgewald bekannt war. © H.S. Eglund
  • Wahrzeichen der alten Energiewirtschaft: Masten der Stromtrassen über dem Hambacher Forst. © H.S. Eglund
  • Das Kohlekraftwerk Niederaußem, eine der ältesten Dreckschleudern am Rhein. © H.S. Eglund
  • Die Abgaswolke über einem Kohlekraftwerk bei Grevenbroich hat die Dimensionen eines großen Wirbelsturms. © H.S. Eglund
  • Vielerorts erinnern Grabsteine an die Orte, die der Kohle zum Opfer fielen - wie hier am Rand des Hambacher Tagebaus. © H.S. Eglund
  • Der Hambacher Tagebau - so weit das Auge reicht. Mondlandschaft auf der Erde. © H.S. Eglund
  • Hier erkennt man sehr gut die schichtweise Erschließung der Kohleflöze, die bis zu 500 Meter tief unter dem Mutterboden liegen. © H.S. Eglund
Freitag, 11. Dezember 2020

Totes Dorf am Rand der Grube

Manheim bei Kerpen im äußersten Westen der Republik steht zum Abriss. Die Bagger räumen Jahrhunderte alte Fassaden weg, ebnen die Fundamente ein. Denn der Tagebau Hambach frisst sich durch Land – obwohl ihn kein Mensch mehr braucht. Außer die Bosse von RWE in Essen – und ihre Lakaien in Düsseldorf.

Kohle in Kraftwerken zu verfeuern, ist mehr als ein Anachronismus: Obwohl Sonnenstrom und Windkraft saubere und kostengünstigere Alternativen bieten, darf der Energiekonzern RWE weiter machen wie bisher. Er darf Fluren und Wälder in Wüste und die ganze Schwemmsandebene des Rheins in eine Mondlandschaft verwandeln.

Er darf weiterhin die Emissionen – Kohlendioxid, Feinstaub und Schwermetalle – in die Höhe schrauben wie die Rauchsäulen über den Meilern, die bis nach Grevenbroich mit dicken Schornsteinen gen Himmel stinken.

Die Bagger rollen, graben und dröhnen

Darüber sollte auch eine kurzfristige Delle der Emissionen aufgrund geringeren Energieverbrauchs durch die Coronakrise nicht hinwegtäuschen. Die Bagger rollen, graben und dröhnen, als gäbe es keine Klimakatastrophe, keine Erderwärmung, keine Dürren und drohenden Mangel an Wasser. Auch in diesem Sommer fiel der Rhein nahezu trocken, wenn auch nicht so stark wie 2018 und 2019.

Der Tagebau Hambach ist der größte in der Bundesrepublik. Und wie die Tagebaue in der Lausitz oder im sächsischen Revier südlich von Leipzig steht er für die längst überkommende Ära der Kohleverstromung. Er steht für einen Skandal, weil die Laufzeit der Kohlekraftwerke künstlich bis 2038 verlängert wurde – obwohl sich Deutschland schon 2030 komplett aus sauberen Energien mit Strom versorgen könnte – Millionen E-Autos und Wärmepumpen inbegriffen.

Mondkrater zerreißen die fruchtbare Ebene

Beim Besuch vor Ort fühlt man sich in die Mitte der 1970er Jahre zurückversetzt. Das Bild ist das gleiche wie in der Lausitz oder bei Leipzig: Eine gigantische Grube – ein Mondkrater – zerreißt die fruchtbare Ebene östlich des Rheins. Beinahe reicht sie bis zum Horizont. Die Wände dieses künstlichen Kraters fallen steil in die Tiefe – etliche hundert Meter tief.

Schrill quietschen die Abraumbagger, die sich von der Aussichtsplattform am Kraterrand wie Spielzeug ausnehmen. Aus der Ferne erscheinen sie filigran, doch es sind tonnenschwere Ungetüme aus Stahl, deren wuchtige Schaufeln sich durch die Erde wühlen, sie zermahlen und zerstäuben, bis die dunkelbraune Kohle sichtbar wird. Südwestlich wird der Tagebau von Hambacher Forst begrenzt, der sich als dünne grünblaue Linie auf dem gegenüberliegenden Rand abzeichnet.

1978 begann der Aufschluss

Seit 1978 wühlen hier die Bagger, 1984 wurde die erste Kohle gefördert. Bis die stählernen Kolosse ihre Motoren endgültig abstellen, werden sechzig Jahren Umweltzerstörung im größten denkbaren Stil vergangen sein.

Weil sich eine ganze Reihe ähnlicher Tagebaue in der Region befinden, ähnelt die Landschaft den Badlands in Süddakota: Tote Halden, tote Gruben, und am Rand der Krater tote Dörfer, deren Häuser erblindet sind und auf die finale Erlösung warten – die kleinen Bagger, um die Ruinen einzuebnen.

Manheim ist so ein Ort. Das mehr als 1.200 Jahre alte Dorf gehörte zu Kerpen im Rhein-Erft-Kreis, in dem wahrlich kaum ein Stein auf dem anderen bleibt. Bis 2022 soll das Dorf verschwinden, die Bewohner werden nach Manheim-Neu umgesiedelt, westlich von Kerpen gelegen.

Pripyiat am Rhein

Kein Mensch ist in der Ruinensiedlung unterwegs. Die Häuser sind leer, wirken, als wären sie gerade verlassen. Unwillkürlich ist man an die Bilder von Pripyat erinnert, der toten Stadt von Tschernobyl. Freilich, in der Atomtechnik sind die Schäden monströser, verheerender und nicht in Jahrhunderten zu heilen.

Dass die Kohle ähnliche Wunden reißt, wird in der Öffentlichkeit wenig diskutiert. Damit das Ruhrgebiet und die dicht besiedelten Regionen in Nordrhein-Westfalen mit Strom versorgt werden, wurde Stillschweigen vereinbart. Der Preis der Kohleverstromung: Gigantische Krater, Emissionen, Trockenheit, Entwurzelung von Generationen und Kahlschlag in einer alten Kulturlandschaft – all das ist kaum zu fassen. Nicht in Worten, nicht in Zahlen.

Sinnlose Zerstörung

Manheim ist tot, weil die Grube naht. Die Zerstörung dieses und etlicher anderer Orte ist nicht zu reparieren. Die fruchtbaren Äcker von einst sind weg, unwiederbringlich, denn der Abraum brachte tote Mineralien aus der Tiefe nach oben, faktisch gibt es keine Mutterböden mehr.

So steht Manheim als Symbol einer völlig sinnlosen Zerstörung. Denn die Kohle wird eigentlich nicht mehr gebraucht. Lediglich die Trägheit des politisch-industriellen Komplexes der alten Energiewirtschaft lässt die Bagger weiterrollen. Denn sie mahlen Erde, fördern Kohlebrocken und spucken – ganz am Ende der Kette bis zur Kilowattstunde elektrischer Strom – viel Geld aus.

Es ist das alte Geschäftsmodell der Kohlemeiler, das nicht sterben will. Die unselige Allianz aus RWE, Politik und Lobbyismus will die Energiewende aufhalten. Stoppen kann sie den Lauf der Zeit nicht mehr – wohl aber verzögern.

Nachbarn des Hambacher Forstes

Manheim ist tot, und war voller Leben – mehr als tausend Jahre lang. Im Mittelalter als eine der Bürgegemeinden erwähnt, die Anteile am Bürgewald – heute als Hambacher Forst bezeichnet – hielten. Mittlerweile ist der Forst durch die Rodung für den Tagebau auf ein Wäldchen geschrumpft, über den kümmerlichen Rest wird derzeit vor Gericht gestritten.

Denn auch der Wald steht den Baggern im Weg. Zwar gab es aufgrund von Protesten durch Umweltaktivisten – einer starb dabei – ein Moratorium, aber die Sache ist juristisch noch nicht vom Tisch. Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) und Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) halten an den Plänen zur Verstromung der Braunkohle fest, sekundiert von Lokalpolitikern verschiedener politischer Färbung.

Seltsame Allianz der Parteien

Bei der Kohle sind sich SPD, CDU, FDP und AfD erstaunlich einig – in NRW wie in Sachsen oder Brandenburg. Statt die erneuerbaren Energien beherzt auszubauen, werden Solarenergie und Windkraft ausgebremst und durch bürokratische Hürden verteuert. Nur langsam, sehr langsam, setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Zukunft Deutschlands als Industrieland und als Land des Wohlstands in den sauberen Energien liegt.

Wie langsam diese Erkenntnis reift, beweist, dass die parteipolitischen Strukturen in Deutschland genauso eng mit der alten Energiewirtschaft verquickt und verbandelt sind, wie beispielsweise in Russland – oder früher in der DDR, heute Brandenburg und Sachsen.

RWE wuchs mit den Kommunen

In NRW hängt das mit dem einzigartigen Unternehmensmodell von RWE zusammen: 1898 als lokales Stadtwerk in Essen gegründet, wuchsen die Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke AG unter Konzernlenker Hugo Stinner durch billigen Strom aus Steinkohle und den Einstieg von Kommunen im Umland – als Anteilseigner und als Stromkunden – zum westdeutschen Energieriesen, zum größten Stromerzeuger im Deutschen Kaiserreich.

Ab 1914 wurde auch Braunkohle verstromt, um die steil anwachsende Nachfrage aus dem Ruhrgebiet – vor allem für Waffen – zu bedienen. Steinkohle wurde knapp, weil sie nicht nur für Strom sondern auch für Stahl benötigt wurde.

Größer kommunaler Miteigentümer ist heute die Stadt Dortmund. Jahrzehntelang hat sie von der erklecklichen Rendite profitiert, die RWE abwerfen konnte. Niemand redete über die Flächenzerstörung, über die Emissionen, über Rückbau oder Renaturierung.

Mittlerweile ist die Kohleverstromung ein Verlustgeschäft, damit ist kein Blumenkohl mehr zu gewinnen. Sauberer Strom aus Sonne und Wind deckte im Sommer 2020 bereits mehr als die Hälfte des deutschen Bedarfs. Die neuen Technologien bestimmen die Preise und sind bereits preiswerter als der Strom aus alten, abgeschriebenen Kohlemeilern.

Politische Seilschaften am Werk

RWE macht minus, die Stadtkämmerer in NRW sind erschreckt. Hinzu kommt die Angst vor der traditionell einflussreichen Gewerkschaft der Bergarbeiter, die in den politischen Strukturen der Bundesrepublik – wie damals in der DDR oder heute in Russland – gut positioniert ist.

Aus diesen Gründen wird die dringend notwendige Modernisierung der Stromversorgung durch Sonne und Wind verzögert, gebremst und verteuert – nur um das RWE-Modell zu retten. Dort haben längst institutionelle Anleger das Sagen übernommen und die kommunalen Anteilseigner in die Minderheit gedrängt. Ob sie wollen oder nicht: Die Kommunen zahlen sprichwörtlich die Zeche.

Mit dem unlängst abgesegneten Deal von RWE und Eon wurden die Kraftwerke und die Stromnetze fein säuberlich aufgeteilt. Alle Regeln der Marktkontrolle wurden von Bundesminister Altmaier (CDU) außer Kraft gesetzt, als er diese Absprache – faktisch ein Tausch von Assets mit marktbeherrschender Stellung – abnickte. Und der Kohlekompromiss, der faulste Kompromiss in der Geschichte der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung – erlaubt RWE, den Hambacher Tagebau ungestört auszuweiten.

Stumme Zeugen des Raubbaus

Im Rheinland wird nicht nur Raubbau an der Natur betrieben. Auch Geschichte und Orte kommen unter die Schaufel. Die Häuser sind leer, die Fenster ausgeschlagen. Kaum, dass sich ein Fahrzeug in die Gassen von Manheim verirrt.

Ein paar Bautrupps lassen Bagger kreisen, zerren Steine aus der Brache, auf der einst ein Haus stand. Die Fenster und Türen der katholischen Pfarrkirche St. Albanus und St. Leonhardus sind vernagelt, seit sich hier vor einigen Jahren jugendliches Protestvolk verbarrikadiert hatte. Bald ist auch sie an der Reihe, geben ihr Dynamit und Bagger den Rest.

Seit 2011 läuft die Umsiedlung, 2022 oder 2023 wird der Tagebau den Ort schlucken. Erstmals erwähnt wurde Manheim im Jahr 898. Damals war Germanien noch weitgehend von Wald bedeckt, nur an großen Flüssen wie Rhein, Main oder Elbe gab es zivilisatorische Erschließungen. Ein Beispiel ist das nahegelegene Köln am Rhein, eine Gründung der Römer.

Im Jahr 1027 übernahm der Erzbischof von Köln das Grundrecht über Manheim und seine Umgebung. Der Legende nach schenkte der heilige Arnold den umliegenden Gemeinden den Bürgewald, der vorher unter kaiserlichem Wildbann stand. Im Gegenzug lieferten die Einwohner eine Wachssteuer ab – in Form von Altarkerzen.

Ein wenig effektiver Energieträger

Nun fällt der Ort der Braunkohle zu Opfer, dem am wenigsten effektiven und schmutzigsten Energieträger. Um einen Kubikmeter Braunkohle zu fördern, müssen die Bagger mehr als sechs Kubikmeter Abraum beräumen. Der Heizwert der rheinischen Braunkohle liegt zwischen acht und zehn Megajoule pro Kilogramm.

Zum Vergleich: Frisches Holz aus dem Wald liefert rund sieben Megajoule pro Kilo, Müll zwischen 2,5 und zwölf Megajoule und Steinkohle zwischen 25 und 33 Megajoule pro Kilogramm.

Zwischen 1,5 und sechs Prozent Asche bleiben nach der Verstromung von der Braunkohle übrig, der Rest entweicht als Wasserdampf und Kohlendioxid in die Atmosphäre. Ursprünglich enthielt das rheinische Revier rund 55 Milliarden Tonnen Braunkohle.

Die Braunkohle wird per Hambachbahn nach Bergheim-Auenheim und von dort weiter per Bahn zu den Kraftwerken Niederaußem, Neurath und Frimmersdorf in Grevenbroich sowie nach Goldenberg bei Hürth-Knapsack transportiert.

Einige dieser Kraftwerke sind längst abgeschrieben und gehören zu den größten Dreckschleudern Deutschlands. Würde man sie zeitnah abschalten, würden die Emissionen aus deutschen Schornsteinen um mehr als ein Viertel sinken. Doch niemand drückt den Knopf, niemand hat den politischen Mut, die Bagger vor 2038 abzustellen. Obwohl schon heute mehr Menschen in den Branchen der erneuerbaren Energien in NRW arbeiten, als in der Kohleverstromung.

Ein gigantisches Loch in der Erde

Stattdessen schwadronieren RWE und Politiker von einem riesigen See, der nach dem Ende des Kohleabbaus – etwa ab 2040 – entstehen soll. Bis zum Ende des Kohlegeschäfts werden im Tagebau Hambach rund 18,6 Kubikkilometer Erdreich abgebaut sein. Jährlich fielen und fallen rund 0,3 Kubikkilometer Abraum an. Bis zum Frühjahr 2009 wurde der Abraum zum ausgekohlten Restloch Bergheim gekarrt, um diese Grube zu füllen.

Seitdem wird der Abraum am westlichen Rand des Tagebaus und auf der Sophienhöhe verkippt, die das Umland bereits um 200 Meter überragt. Durch die ausgebaggerte Kohle entsteht in Hambach ein gigantisches Restloch, das mit Wasser aufgefüllt werden soll.

Die Illusion der Renaturierung

Dieses Loch, diesen Krater zu fluten, entspricht der sogenannten Renaturierung, wie sie bereits in der Lausitz und in Mitteldeutschland praktiziert wird. Und wird genau dieselben Probleme schaffen: In der Lausitz versäuern die Seen, weil im Abraum schwefelhaltige Mineralien nach oben gefördert wurden. Sie reagieren mit dem Wasser der Spree und dem Luftsauerstoff. Im Ergebnis entsteht eine saure, ungenießbare Brühe.

Einige Restlöcher in der Lausitz werden chemisch als Säuren eingestuft. Sie bedrohen sogar den Spreewald, denn an manchen Tagen kehrt sich der Lauf der Spree aufgrund des Wasserbedarfs der Tagebaue um. Dann suppt die rostbraune Brühe ins Naturschutzgebiet.

Aus dem eisenhaltigen Wasser flockt Eisen aus, das sich als Rost im Sand und in der Uferzone der Gewässer absetzt. Zudem scheidet sich gelber Schwefel ab, der das Terrain für Tiere, Pflanzen – und Menschen – unbewohnbar macht.

Wüste durch Kohle, Wüste durch Flutung

In Mitteldeutschland gibt es dieses Problem nicht in diesem Maße, weil die Böden kalkhaltiger sind und die Pyrite – die schwefelhaltigen Mineralien – weitgehend neutralisieren. Als viel schwierigeres Problem erweist sich hier der enorme Wasserbedarf. Denn die Flutung der Tagebaurestlöcher gräbt der ganzen Region zwischen Leipzig, Chemnitz und Dresden sprichwörtlich das Wasser ab.

Gleiches in der Lausitz, wo die ohnehin kargen, aus der Eiszeit stammenden Sandböden noch stärker austrocknen. Eine Metropole wie Berlin ist mittlerweile chronisch von Wasserknappheit geplagt. Der Aufwand zur Wasserversorgung und damit die Kosten steigen. Deshalb zieht sich die Flutung der Lausitzer Tagebaue weit in die Länge – es fehlt einfach an Wasser.

Als ob es keine schlechten Erfahrungen mit Flutungen gibt, halten die RWE-Bosse und ihre Lobbyisten in der Düsseldorfer Staatskanzlei an den Fantasien einer neuen Seenlandschaft fest. Der Tagebau Hambach ist bis zu 299 Meter tief. Damit markiert er die tiefste Senke in Nordrhein-Westfalen. Es ist bereits jetzt klar, dass seine Flutung die ganze Rheinebene ausdörren wird. Nach der Kohlewüste kommt die Wüste aus Wassermangel.

Beinahe so groß wie der Bodensee

Der Tagebausee soll eine Fläche von 4.200 Hektar bedecken und bis zu 400 Meter tief werden. Das Wasservolumen summiert sich auf 3,6 Milliarden Kubikmeter. Größer ist in Deutschland nur der Bodensee. Derzeit streiten die Experten, woher das Wasser kommen soll: aus der Rur, der Erft oder per Pipeline aus dem Rhein.

Dabei ist längst klar, dass die erforderlichen Wasserreserven nirgends zur Verfügung stehen – egal, wie man die Zahlen hin und her schiebt. Allein aus diesem Grunde müsste der Abbau sofort gestoppt werden, um den Schaden wenigstens zu begrenzen.

Ein Solarpark von zehn Gigawatt

Im Mai 2020 kam die Idee auf, einen Solarpark in den alten Tagebau zu bauen. Dadurch würde sauberer Strom mit der Leistung von etwa zehn Gigawatt erzeugt. Das entspricht ungefähr der elektrischen Leistung der Kohlekraftwerke Weisweiler, Neurath, Niederaußem und Frimmersdorf.

Allerdings wäre die erzeugte Energiemenge deutlich geringer, weil ein Kraftwerk rund 8.000 Stunden im Jahr feuert, die Sonne aber nur rund 1.000 Stunden einstrahlt.

Dieses Szenario wurde übrigens – zumindest als Idee – in einem Gutachten des Bundeswirtschaftsministerium aus dem Jahr 2018 analysiert. Diese Studie ermittelte für die Nutzung alter Tagebaue enorme Potenziale, sowohl für Windräder als auch für Solarparks, mit tausenden von Jobs für die vom Kohlebergbau betroffenen Regionen.

Kombiniert man Windräder mit Solarparks, erreicht man ähnliche Strommengen wie aus konventionellen Dampfkraftwerken. Der Vorteil am Rhein: Die elektrischen Anschlüsse der alten Kohlekraftwerke an das Hochspannungsnetz lassen sich für solche modernen Solar- und Windkraftwerke nutzen.

Ein teures, träges Pumpspeicherwerk?

RWE ist auf diesen Vorschlag bislang nicht eingestiegen. Dort wird neben der Idee eines komplett gefluteten Sees auch überlegt, in den Hambacher Krater ein Pumpspeicherwerk zu bauen. Allerdings gehören solche Pumpspeicherwerke zur alten Energiewirtschaft, weil sie viel zu teuer und zu träge sind.

Ihre Aufgabe war und ist es, Netzschwankungen auszugleichen, indem sie elektrischen Strom saugen, um Wasser in die Höhe zu pumpen, in ein hoch gelegenes Reservoir. Braucht das Netz kurzfristig mehr Strom, werden die Schleusen geöffnet. Dann stürzt das Wasser auf Turbinen, die einen oder mehrere Generatoren treiben.

Solche Pumpspeicherwerke sind teuer: Wegen der künstlichen Seen, wegen der Rohre, der Pumpen, der Turbinen und Generatoren, wegen des Personals zum Betrieb. Es ist schon heute abzusehen, dass große Stromspeicher mit Lithiumbatterien diese Aufgabe viel schneller und mit geringeren Kosten erledigen.

Das Rennen verloren

Das ist der Grund, warum in Europa kaum noch Kohlekraftwerke oder Pumpspeicherkraftwerke gebaut werden. Sie haben das Rennen gegen Sonne, Wind und moderne Speichertechniken verloren.

Doch auch bei RWE ist ein Umdenken nicht gänzlich auszuschließen: Im Mai 2020 wurde bekannt, dass ein Pumpspeicherwerk an der Abraumhalde Sophienhöhe nicht möglich ist. Dort lässt sich kein oberes Speicherreservoir anlegen, der Boden ist viel zu locker, droht, zu rutschen. Nun überlegt RWE, künftig doch mehr mit Photovoltaik – Sonnenstrom – zu planen.

Nur – warum rollen die Bagger überhaupt weiter?

Der Autor hat 2016 den Roman Zen Solar verfasst, der sich mit der Energiewende in Deutschland, mit den Problemen und Perspektiven von Tagebauen, Kohlekraftwerken und Atommeilern befasst. Nähere Informationen, Leseproben und Auszüge als Audiodateien finden Sie hier.

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© HS Eglund
  • Eingang zum Brecht-Weigel-Haus in Buckow. © HS Eglund
  • Noch immer steigt Rauch auf aus dem Haus am Schermützelsee. © HS Eglund
  • Die Ausstellung präsentiert zahlreiche Exponate in ihrem historischen Zusammenhang. © HS Eglund
  • Zum See liegt ein großes, helles Arbeitszimmer. © HS Eglund
  • Im Gartenpavillon befinden sich die Originalrequisiten von Mutter Courage, in der Helene Weigel die Titelrolle spielte. © HS Eglund
  • Das Berliner Ensemble war das Vorzeigetheater der DDR. © HS Eglund
  • Szenenbilder aus Mutter Courage und ihre Kinder. © HS Eglund
  • Das Bühnenbild von Heinrich Kilger. © HS Eglund
  • Wie wäre es, wenn sich die Regierung ein anderes Volk wählte? © HS Eglund
  • Kaum verändert: das Haus, Buckow, der See. © HS Eglund
Sonntag, 29. November 2020

Brecht und Weigel: Vom Umgang mit den Welträtseln

Ein Haus in Buckow: Frau Carrar, Mutter Courage, Galilei und Arturo Ui sind gerade abwesend, vermutlich in den Pilzen unterwegs. Seeräuber-Jenny sitzt an der Kasse (leicht ergraut) und Mackie Messer fegt den Hof. Hier wird klar: Im Grunde genommen hat sich kaum etwas verändert.

Karg ist die Landschaft, herbstbraune Felder mit eingestreuten Hainen; Flachland ohne Hügel, nur gelegentlich von rotbunten Wäldern durchbrochen. Eine Stunde östlich von Berlin liegt Buckow, mitten im Schutzgebiet der Märkischen Schweiz. Hier haben eiszeitliche Gletscher das Terrain plattgewalzt, von Berlin bis zur Oder blinken klare Seen wie hingestreute Splitter aus Quarz.

Im Herbst fegt ein steifer Wind über den Schermützelsee, kräuselt seine Oberfläche, rauht sie auf wie Sand, der Widerschein der tiefen Wolken färbt das Wasser grau. Es ist Mitte Oktober, vor dem jüngsten Lockdown, vor dem Lockdown ist nach dem Lockdown, irgendwann wird das Brecht-Weigel-Haus wieder seine Pforten öffnen. Und dann, Leute: Nichts wie hin!

Ein Linker, aus der Mode gekommen?

Dreißig Jahre nach Deutschlands Wiedervereinigung scheint Brecht aus der Mode gekommen. War ja Marxist, Dialektiker, der Mann. Hat an die Arbeiterklasse geglaubt, ans Proletariat (obwohl: nach dem Krieg nicht mehr wirklich), war im Exil in den USA und kehrte nach Ostberlin zurück. Hat auf‘s falsche Pferd gesetzt, wie viele heute meinen, und ist somit Schnee von gestern.

Im Auto sitzen zwei Generationen: Eglund (Mitte fünfzig) und der Nachgeborene (sechzehn). Als Eglund sechzehn war, stand Bertolt Brecht auf dem Lehrplan der weiterführenden Schulen. „Leben des Galilei“ oder das „Friedenslied“ oder seine Warnung vor dem Kalten Krieg, der Anfang der 1950er Jahre in einen heißen umzuschlagen droht, im fernen Korea schon heiß wurde:

Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden.

Brecht als Schulstoff, das schreckte die DDR-Jugend ab. Es wirkte staatstragend, so doktrinär. Es passte geschmeidig in die Propaganda, schmeckte genauso fad und aufgesetzt. Dieser Eindruck änderte sich mit „Leben des Galilei“, quasi historisches Vorspiel zu Dürrenmatts „Die Physiker“ oder „In der Sache Robert J. Oppenheimer“ von Heinar Kipphardt.

Nicht Revoluzzer, nicht Reaktionär

Damit wurde erstmals dieser innere Zwiespalt auf die Bühne gebracht: Tiefgreifende Konflikte eines Wissenschaftlers, der die Wahrheit sucht – „und sie bewegt sich doch!“ Letztlich beugt sich Galilei der Inquisition, schwört der Erkenntnis ab, will weder Revoluzzer noch Reaktionär sein. Er bleibt ein Mensch, der Angst vor Folter und Märtyrertod hat, und gerade deshalb der Wahrheit ein Türchen offen hält: Wenn die Zeit reif ist, entlarvt sich die Lüge von selbst.

Ende der 1980er Jahre war die Zeit reif, den staatstragenden Lügen ein Ende zu bereiten. War es Zufall, dass Brecht während des Wendeherbstes 1989 plötzlich auf frechen Postern und in befreiten – befreienden – Reden erschien – auf neue Weise? Dass sich die DDR-Jugend plötzlich an Brecht erinnerte? Damals war ein Gedicht seiner „Buckower Elegien“ in aller Munde:

Nach dem Aufstand des 17. Juni
liess der Sekretär des Schriftstellerverbands
in der Stalinallee Flugblätter verteilen
auf denen zu lesen war, dass das Volk
das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
nicht doch einfacher, die Regierung
löste das Volk auf und
wählte ein anderes?

„Elegien“ nannte Brecht die Gedichtsammlung, die in den letzten beiden Jahren seines Lebens entstand. Im Sommer, wenn die Arbeit am Berliner Ensemble ruhte, zog er sich auf seinen Landsitz in die Märkische Schweiz zurück – nach Buckow. „Elegien“ wohl deshalb, weil es nichts mehr zu feiern gab, weil sich Trauer breitmachte. Weil die hochfliegenden Hoffnungen eines neuen Anfangs in Ostdeutschland – oder in ganz Deutschland – in den doktrinären und bürokratischen Niederungen des Stalinismus stecken blieben. Weil die Arbeiterklasse hüben wie drüben nur an ihren Wanst dachte, wie er formulierte:

Erst kommt das Fressen, dann die Moral

Und weil der Kalte Krieg tobte, der Brecht und Weigel schon Ende der 1940er Jahre aus dem Exil in den USA zurück nach Europa vertrieben hatte. In Westdeutschland wurde die Wiederaufrüstung propagiert, der Osten zog nach: Wehrpflicht wie einst zur Wehrmacht, nun zur Bundeswehr und zur Nationalen Volksarmee.

Wieder Uniformen, wieder Säbelrasseln, Deutsche vor dem Karren der Sowjets und der Amerikaner. Wie hat er sie gehasst, die deutsche Knechtseele auf beiden Seiten der Elbe. Das war das Thema seines Lebens, das zieht sich durch sein gesamtes Werk. Sind die Deutschen – die Menschen – überhaupt zum Frieden fähig?

1956, kurz vor Brechts Tod, rechnete Chrustschow in Moskau mit Stalins Verbrechen ab. Das war ein schwerer Schlag für die Linke, von dem sich niemals wirklich erholt hat. Brecht ahnte: Dieser Schlag war furchtbar, Oberwasser auf die Mühlen derer, die es immer schon besser gewusst hatten. Doch er hörte nicht auf, nach der Substanz zu graben. Darin war und blieb er bis zum Schluss ein marxistischer Dialektiker – ohne Mitglied einer Partei zu sein.

Die Patina – wie weggeblasen

In Buckow werden Bertolt Brecht und seine Figuren wieder lebendig. Der Staub, die Patina der Jahrzehnte sind wie weggeblasen. Helene Weigel steht als Mutter Courage wieder auf, im Pavillon hinter dem Haus wird der Planwagen aus der legendären Inszenierung aus den 1950ern liebevoll erhalten. Damit wurde das Berliner Ensemble berühmt, auf Tourneen auch international, und Brecht trat aus dem Schatten der piefigen Ostzone heraus.

In Westdeutschland wurden seine Stücke zunächst geächtet und mit Bann belegt. Vielleicht ist das der Grund, dass Dürrenmatt und Kipphardt den Faden aufnahmen, mit eigenen, aktuellen Dramen zur drohenden Weltvernichtung. Galilei reloaded.

Die Wahrheit schert sich nicht um Ideologie oder Macht oder Geld oder Grenzen. Sie bleibt das größte aller Rätsel in dieser Welt, lässt sich nicht ausschließen oder verbannen, nicht für alle Zeit aus allen Menschen. Das hatte schon Abraham Lincoln erkannt. Brecht führt im „Galilei“ das Licht als Gleichnis für die Wahrheit ein, auf geniale Weise:

Ich denke manchmal, ich ließe mich zehn Klafter tief unter der Erde in einen Kerker einsperren, zu dem kein Licht mehr dringt, wenn ich dafür erführe, was das ist: Licht.

Licht als des Pudels Kern, als Heiliger Gral der Wissenschaft (nicht erst seit Einstein), als einziger und letzter Apfel am Baum der Erkenntnis. Klar, sechseinhalb Jahrzehnte nach Brechts Tod nimmt sich seine Sprache merkwürdig antiquiert aus, so redet heute kein Mensch. Man könnte sagen: So klar und direkt redet heute kein Mensch mehr. Leider? Leider. Ein anderes Beispiel ist sein „Friedenslied“:

Frieden dem Roten Platze!
Und dem Lincolnmonument!
Und dem Brandenburger Tore
Und der Fahne, die drauf brennt.

In der DDR-Schule wurde es mit Pathos rezitiert, dafür gab es eine Eins, aber Brecht war Pathos zuwider. Das zieht sich durch sein gesamtes Werk: preußisches, faschistisches oder sozialistisches Pathos betrachtete er als Ausdruck von Scheuklappen, die der Mensch ablegen muss – will er zur Wahrheit vordringen.

Scheiß auf die Farben der Flaggen

Als Brecht dieses Gedicht schrieb, wehte Unter den Linden die rote Fahne. Heute ist es Schwarz-Rot-Gold, einst Symbol des Widerstands gegen Napoleon, Symbol des Aufbruchs zum geeinten Deutschland, zur deutschen Nation überhaupt. Verliert das Gedicht dadurch an Bedeutung?

Ob wir heute noch Nationalfarben und Flaggen brauchen, sei dahingestellt. Interessant an Brecht ist diese kurze, prägnante Form, die Berlin zwischen Washington und Moskau verortet, Nahtstelle des Kalten Krieges und Brücke des Friedens zugleich. Er schert sich nicht darum, welche Farben über der Quadriga flattern – wenn es nur nicht das Hakenkreuz ist.

Das ist seine bleibende Qualität, darin besteht Brecht vor der Kritik, von welcher Seite auch immer: Er gab sich nicht mit dem Status Quo zufrieden – weder politisch, noch in der Kunst. Er forderte zum Widerspruch heraus, zum Aufstand gegen die Bequemlichkeit, gegen die Selbstzufriedenheit, die immer zugleich Selbstillusion ist.

Vertane Chance: Schwerter zu Pflugscharen

Denn noch immer ist Frieden unerreicht. Seit der Wiedervereinigung gehört Deutschland vollständlich zum westlichen Lager (wie vor dem Zweiten Weltkrieg), steckt weiterhin Milliarden in Bundeswehr und Nato. Noch immer suchen gewisse Kreise die Konfrontation mit der Gegenseite, um ihre Macht zu konservieren. Dabei macht moderner Krieg weder ökonomisch noch politisch Sinn. Es kann nur Verlierer geben, denn das Atom respektiert keine Grenzen.

Die Chance der Wende 1989, eine ihrer maßgeblichen Hoffnungen, blieb ungenutzt und unerfüllt: Schwerter zu Pflugscharen! Das vereinte Deutschland als selbstbewusste, neutrale Brücke zwischen Ost und West, demilitarisiert, dafür ökonomisch umso stärker – Wirtschaftspartner für beide Seiten. So gesehen, hat die Wiedervereinigung 1990 zwar die Teilung nach dem Krieg und das Experiment des Kommunismus stalinscher Prägung beendet. Aber die historische Lehre aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts steht noch aus: das Ende aller Kriege.

Nichtkrieg ist kein Frieden

Frieden, wirklichen Frieden, das war es, was Brecht meinte. Friede den Hütten, der erst möglich wird, wenn sie zugleich Paläste sind. Das ging weit über Georg Büchners „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ von 1834 hinaus, das reichte weit jenseits der offiziellen Propaganda in der DDR. Weshalb Brecht schon Anfang der 1950er Jahre schwer unter Beschuss geriet – als Abweichler, als Formalist, der sich in bürgerlicher Borniertheit von der Revolution entfernt. Der sich Jubelhymnen verweigert und immer wieder bohrend nachfragte.

Es gibt eine eindrucksvolle Biografie, die der Literaturwissenschaftler Werner Mittenzwei kurz vor dem Ende der DDR veröffentlichte, drei Jahrzehnte nach Brechts Tod. Darin gelingt Mittenzwei eine erstaunlich kenntnisreiche und sachliche Rückschau auf Werk und Autor, auf die Zusammenhänge und historischen Bezüge – in der Weimarer Republik, im Exil, in der DDR. „Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln“ zeigt den Dichter und seine Wortmeldungen auf erfrischend ideologiefreie Weise. Das ist ein topaktuelles Buch, das von seinen Wertungen – auch den kritischen – nichts verloren hat.

Menschen aus Fleisch und Blut

Darin – wie in Buckow – erscheinen Weigel und Brecht wie Menschen aus Fleisch und Blut. Die Ausstellung ist nicht akademisch, nicht im Nachhinein krittelnd, vermeidet sorgfältig jede nachträgliche Siegerpose – weil es die DDR nicht mehr gibt, und Brecht an deutschen Schulen nicht mehr vorkommt. Hier wird der Dichter nicht ins Museum verbannt, wird nicht ad acta gelegt.

Im Gegenteil. Die Ausstellung zeigt Bertolt Brecht als Menschen, der uns weiterhin viel zu sagen hat. Freilich nur, wenn man ihm zuhören will. Und viele kommen, um zu hören. Das Brecht-Weigel-Haus in Buckow erfreut sich Besucher aus aller Welt – auch 64 Jahre nach seinem Tod, knapp 50 Jahre nach dem Tod von Helene Weigel im Mai 1971. Wollen wir hoffen, dass der Corona-Lockdown bis zum Mai 2021 beendet ist, damit das Haus wieder öffnen kann.

Warum bleibt Brecht aktuell? Werner Mittenzwei hat es zum Abschluss seiner Biografie auf den Punkt gebracht: „Ein Dichter, der den Lebenden riet, auf nichts mehr zu bauen als auf die Widersprüche, besteht vor der Nachwelt, weil den Menschen in ihren bedrohlichsten Situationen gerade noch so viel an Ausweg bleibt. Die Welträtsel werden nicht gelöst, aber wehe der Welt, die die Anstrengung verweigert, so zu leben, als könne man sie lösen.“

Webseite des Brecht-Weigel-Hauses in Buckow.

Unser Tipp:
Werner Mittenzwei
Das Leben des Bertolt Brecht
oder Der Umgang mit den Welträtseln
Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1986
ISBN 3-351-00218-1 (2 Bde.)

Aufbau Taschenbuch, 1997
ISBN: 374661340X

Zu Mittenzweis Biografie gibt es einen interessanten Essay im Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. Hier zu finden.

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© de Montesquiou
Freitag, 27. November 2020

Olga & Olga: Am Rand der Welt

Ein Dokumentarfilm erzählt vom schwierigen Leben auf dem Baltikum, an der Grenze zu Russland. Korrekturen kennt die Geschichte nicht, nur die Hoffnung auf einen neuen Anfang. Ein Bericht aus der Nordzone der EU.

Die Narwa trennt zwei Welten: Das westliche Ufer gehört zu Estland und somit zur EU. Am östlichen Ufer liegt Russland. Die gleichnamige Stadt – früher über den Fluss hinweg vereint – ist heute zerrissen. Denn Russen und Esten tun sich schwer, Gemeinsamkeiten zu finden. Neu zu finden, nach so langer gemeinsamer Geschichte.

Zwei Autostunden bis Sankt Petersburg

Weit oben in Norden, nördlich des Peipussees, fließt die Narwa in die Ostsee, beinahe dort, wo sich der Finnische Meerbusen zur Mündung der Newa verjüngt. Knapp 160 Kilometer sind es über Land bis St. Petersburg, Europas Tor nach Russland – zwei Stunden mit dem Auto. Zum Vergleich: Bis nach Moskau sind es rund 850 Kilometer.

Historisch gehörte die ganze nördliche Region viele Jahrzehnte zusammen – unter der Herrschaft der roten Zaren. Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion ist Estland als unabhängiger Staat neu erstanden, wie auch Litauen und Lettland, wie Weißrussland oder die Ukraine.

Zwei Frauen am Ufer

Ethische Spannungen und wirtschaftliche Umbrüche haben die vergangenen drei Jahrzehnte geprägt. In ihrem Dokumentarfilm „Olga & Olga“ erzählt die französische Filmemacherin Eleonore de Montesquiou von zwei Frauen, die an den Ufern der Narwa leben. Die immer hier gelebt haben, schon unter Chrustschow und Breschnew, die hier Kinder großgezogen und den Alltag bewältigt haben – immer mit Arbeit, viel viel Arbeit; und Liebe, wenig, sehr wenig Liebe.

Der Film kommt schwarzweiß daher, das schärft den Blick für Details. Seine Bilder sind ruhig wie der Lauf des Flusses, an dessen jenseitigen Ufer die alte Festung thront, Bollwerk gegen den Deutschen Orden. Bekannt ist Sergej Eisensteins Verfilmung der Schlacht auf dem Eis, als Alexander Newski im 13. Jahrhundert die teutonischen Ritter in ihre Schranken wies.

Danach geriet das Baltikum zunehmend unter Russlands Einfluss. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg in Russland blieb es weitgehend unabhängig. Erst 1940, als die Rote Armee gemäß Stalins Pakt mit Hitler vorrückte, wurden Estland, Litauen und Lettland als sowjetische Republiken einverleibt.

Dokumentation aus dem Zonenrandgebiet

Keine harten, schnellen Schnitte, denn gut erzählte Geschichten brauchen ihre Zeit. Die Kamera verweilt: im Ufergras, auf den herben Gesichtern der Frauen, auf Zigaretten und Aschenbechern, auf dem träge ziehenden Strom.

So öffnet sich das Ohr für die Gespräche der beiden Freundinnen mit der Chronistin, für die feine Ironie, wenn sie über vergangene Zeiten sprechen und vergangene Männer, über vergangene Jahre und Hoffnungen.

Es ist eine Dokumentation aus der Randzone der früheren Sowjetunion, die heute die Randzone der Europäischen Union ist – damals beinahe vergessen, heute fast unentdeckt. Wurden die Menschen des Baltikums einst zwischen den Fronten des Kalten Krieges zerrieben – Estland gehört kulturell und sprachlich mehr zu Finnland als zu Russland, so überschattet der Konflikt zwischen der EU und Moskau heute die Familien auf beiden Seiten des Flusses. Die alten Brücken sind dicht. Wer in den russischen Teil fahren will, braucht ein Visum.

Jenseits von Politik und Grenzen

Die junge Generation, die unter den neuen Verhältnissen aufgewachsen ist, hat keine Stimme in diesem Film. Es geht nur um die beiden Frauen, die sich sprichwörtlich über Wasser halten und dennoch den Mut nicht verlieren. Es ist ein Film über das Leben jenseits von Politik und Staatsgrenzen, jenseits von sprachlichen oder wirtschaftlichen Barrieren.

Es ist ein Film, der das Menschliche nach vorne stellt, die Optik scharf auf die Gesichter zieht: Lachen, Enttäuschung, Sorgen, Witz. Nach dem Zusammenbruch der Ideologien bleibt das rein Menschliche übrig, hat Bestand – im Leben der Menschen dort, in ihrer Geschichte und im Alltag.

Der Film lässt ahnen: Diese Grenze zu überwinden, wird möglich sein, wenn Kategorien wie Esten oder Russen, wie Europäer oder Russen keine Rolle mehr spielen. Denn selbstverständlich gehören die Russen hinter der Narwa genauso zu Europa, zur Welt, wie Esten, Deutsche oder Franzosen.

Die Familien haben sich im Laufe der Jahrhunderte ohnehin gemischt, sind Spiegel der Geschichte und ihrer Geschichten. So lösen sich Trennlinien auf, es bleibt die artifizielle politische Naht, verteidigt von obskuren Interessengruppen in Tallin, Brüssel und Moskau.

Wer diesen Film sieht, ahnt auch: Es wird noch viel Wasser aus dem Peipussee durch die Narwa fließen, bevor diese letzte Grenze aus Europa verschwindet.

Unser Tipp: OLGA & OLGA
Ein Film von Eleonore de Montesquiou.

Hier geht‘s zum Trailer.

Zum kompletten Dokumentarfilm. (Passwort: narva)

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© Nachtschatten Verlag
  • Albert Hofmann synthetisierte schon 1938 das Lysergsäurediethylamid (LSD), entdeckte seine Wirkung jedoch erst fünf Jahre später. Das Bild stammt aus einem seiner letzten Interviews. © Nachtschatten Verlag
  • Cover des Dokumentarfilms The Substance. © Nachtschatten Verlag
  • Ende der 1930er Jahre im Labor. © Nachtschatten Verlag
  • Cover von Hofmanns eigenem Buch. © dtv
  • Cover der Festschrift, herausgegeben von Christian Rätsch. © Edition Rauschkunde
Montag, 23. November 2020

LSD: Glück aus der Retorte?

Vor 77 Jahren wurde das LSD entdeckt. Von Albert Hofmann, einem unscheinbaren Chemiker in Basel, der die Droge 1943 im Selbstversuch erprobte. Dennoch wurde er alt, sogar steinalt: Vor sieben Jahren starb er hochbetagt, mit 102 Jahren. Bis zuletzt nannte er die magische Substanz „mein Sorgenkind“. Und stritt für sein Lebenswerk.

Diese Schweizer: Ein bisschen eigenbrötlerisch, ein bisschen selbstverliebt, kühl und unnahbar wie die Alpen, unerreichbare Viertausender eben. Und doch: Irgendwie so nah am Puls dieser Erde. So naturverbunden und bodenständig, wissend und grün wie die Wiesen und die Gletscher. Die Unberührbaren im Herzen Europas.

Als Hitler in Prag und Wien einmarschierte, hockte im Baseler Labor der Chemiefirma Sandoz ein junger Chemiker, gerade 32 Jahre alt. Fernab der politischen Turbulenzen isolierte er Stoffe aus der Natur, um sie später auf ihre medizinische Wirksamkeit zu überprüfen. Sandoz war der erste Pharmakonzern, der eine solche Naturstoffabteilung gegründet hatte.

Aus dem Mutterkorn des Roggens

Im Jahr 1938 experimentierte Hofmann mit dem Mutterkorn des Roggens, einem schwarzen Pilz, der seit dem Mittelalter bekannt ist. Daraus extrahierte er das Lysergsäurediethylamid, abgekürzt LSD. Weil die medizinischen Überprüfungen in einer anderen Abteilung liefen, verschwand diese Entdeckung vorerst im Stahlschrank.

1938 war ein Schicksalsjahr: Im gleichen Jahr entdeckten Otto Hahn und Fritz Straßmann in Berlin die künstliche Spaltung der Atomkerne. Und das Münchener Abkommen gab Hitler freie Hand, um seinen Weltkrieg vorzubereiten.

Zwei Monate nach Stalingrad

Fünf Jahre später hatte der Krieg seinen Höhepunkt erreicht: Zwischen Englands Küsten und Hawaii rannten Armeen von Millionen Soldaten gegeneinander an, der Erdkreis brannte. Im Februar 1943 stürmte die Rote Armee den Kessel von Stalingrad, der Vormarsch der teutonischen Horden war gestoppt. Über deutschen Städten erschienen alliierte Bomber, und zwischen friedlichen Atollen der Südsee lieferten sich amerikanische und japanische Flugzeugträger mörderische Schlachten.

Und noch immer hockte Albert Hofmann in seinem Baseler Labor. Als er ein Medikament für den Blutkreislauf suchte, erinnerte er sich des seltsamen Abkömmlings der Lysergsäure und kramte die alten Berichte hervor.

Ein Selbstversuch mit der rätselhaften Substanz

Im April 1943 wagte er einen Selbstversuch mit der rätselhaften Substanz. Er wählte eine sehr schwache Dosis. Es folgte „ein Trip ins Ungewisse“, wie er später bekannte. „Es war ein furchtbares Erlebnis, als sei ich in einer anderen Welt. Furchtbar quälend. Die Angst: Wahrscheinlich ist es das Ende. Ich bin schon drüben.“

Der Bruchteil eines Milligramms hatte ausgereicht, um ihn in eine unbekannte Welt zu befördern. Originalton Hofmann: „Alles, was ich dachte, war bildlich da.“ Bei späteren Trips sucht er den Beistand eines erfahrenen Mediziners. Nun wandeln sich die Bilder: Keine Angst mehr, nur noch Glück und Geborgenheit.

Ganz der Wissenschaftler, notierte Hofmann seine Eindrücke, zumal die Erlebnisse auch nach dem Abklingen der Wirkung nicht aus seiner Erinnerung verschwanden. Daraufhin unterzogen sich Kollegen ähnlichen Versuchen.

Viel stärker als Meskalin

Schnell stellte sich heraus: Das Lysergsäurediethylamid wirkt stark auf die Psyche und zwar fünftausend bis zehntausend Mal stärker als das Meskalin, ein botanisches Halluzinogen, das zur Jahrhundertwende entdeckt worden war.

Meskalin war damals unter Intellektuellen und Künstlern sehr verbreitet. Aldous Huxley fasste seine Visionen im Meskalinrausch in dem Essay „Die Pforten der Wahrnehmung“ zusammen, der 1953 erschien.

Nun kam das LSD, aus dem Sandoz bald ein Medikament für psychisch kranke Patienten herstellte. Zwei Jahre nach Kriegsende testete ein Züricher Psychiater den neuen Wirkstoff erstmals an sich selbst.

Damit war der Anwendung in der Psychotherapie das Tor geöffnet. Der amerikanische Psychologe Humphrey Osmond nannte die Wirkungen des LSD „psychedelisch“, was so viel bedeutet wie: die Seele enthüllend, entfaltend. Stanislav Grof, ein tschechischer Psychiater, der später in die USA auswanderte, urteilte: „Psychedelische Erfahrungen reichen weiter und tiefer als die Psychoanalyse.“ Grof experimentierte mehr als fünfzig Jahre mit LSD. Denn nach der Zulassung als Medikament wurde es zehn Jahre lang ausschließlich unter ärztlicher Aufsicht verwendet.

Ein Verwandter der Botenstoffe im Gehirn

Chemisch gesehen ist Lysergsäurediethylamid mit Botenstoffen im Gehirn verwandt. Es setzt die Selbstkontrolle des Gehirns außer Kraft, reguliert die Ängste herunter und verstärkt Glücksgefühle. Akustische Wahrnehmungen werden in Bilder umgesetzt, in „Farben wie glitzerndes Wasser“, wie Albert Hofmann bestätigte. „Das Ich löst sich in der Umgebung auf. Man fließt mit dem Erleben, man ist das Erleben selbst. Das kann man genießen.“

Auf diese Weise kann man depressive Patienten stabilisieren. Oder, wie Grof sagte: „Es war der Heilige Gral der Psychiatrie“. Das LSD erwies sich als Katalysator für die innere Fantasie. „Wie das Mikroskop für den Biologen oder das Teleskop für den Astronomen erlaubt das LSD einen tiefen Blick in die verborgene Psyche der Patienten“, gab Hofmann zu Protokoll. „Von großer Bedeutung erschien mir auch, dass ich mich an alle Einzelheiten des im LSD-Rausch Erlebten erinnern konnte.“

Ein Rausch ohne Kater

Je mehr sich Hofmann mit seinem „Wunderkind“ beschäftigte, umso mehr verblüffte es ihn: „Was ich ferner an LSD erstaunlich fand, war seine Eigenschaft, einen derart umfassenden, gewaltigen Rauschzustand zu erzeugen, ohne einen Kater zu hinterlassen. Ganz im Gegenteil fühlte ich mich am Tag nach dem LSD-Experiment in ausgezeichneter physischer und psychischer Verfassung.“

Wie Meskalin einige Jahrzehnte zuvor gelangte auch das LSD auf den Schwarzmarkt. Laien nahmen sich der Substanz an. Bald gehörte es in den intellektuellen Kreisen Amerikas zum guten Ton, „high“ zu sein. Bekannte Schauspieler wie Cary Grant nahmen LSD, das damals noch frei zugänglich war. Auch das Militär und die CIA interessierten sich dafür, denn LSD schien als Wahrheitsserum für Verhöre geeignet.

So war es der amerikanische Staat, der die Verbreitung der „Zauberdroge“ ankurbelte. Zahlreiche Institute erhielten Forschungsaufträge, ob sich LSD zur Gehirnwäsche oder zur gezielten Veränderung einer Persönlichkeit eignet. Solche Versuche fanden nicht etwa in Stalins Russland statt, sondern im „freiesten Land der Welt“.

Orange Sunshine war unzuverlässig

In den fünfziger Jahren war LSD die stärkste bekannte Droge. Die US Army plante, Lysergsäurediethylamid über feindlichen Städten zu versprühen, um den Widerstand der gegnerischen Streitkräfte und der Bevölkerung zu brechen. Das als „Orange Sunshine“ bezeichnete LSD verweigerte jedoch den Dienst als Waffe. Es erwies sich unzuverlässig und schwer vorhersehbar in seiner Wirkung.

Deshalb entschieden sich die Luftwaffengeneräle im Vietnamkrieg lieber für eine andere Chemikalie, ein Entlaubungsmittel aus der Gruppe der Dioxine, dessen Namen nach der farblichen Markierung der Transportfässer gewählt wurde: Agent Orange.

Kosmisches Gelächter statt Enthemmung

Mitte der sechziger Jahre landeten amerikanische GIs in Südvietnam. Wie die Soldaten in allen Kriegen der Geschichte bekamen die Schlächter jede Menge Alkohol auf den Weg. Im Unterschied zum LSD enthemmt Whisky die aggressiven Triebe. Er macht böse und brutal. Im Alkoholrausch begangene Taten belasten die Seele kaum, denn sie verschwinden im Vergessen.

LSD hingegen ruft beim Menschen nur ein „kosmisches Gelächter“ hervor, macht ihn unfähig zur gezielten Aktion oder gar Gewalt. Bezeichnenderweise sind keine Fälle von Vergiftung durch LSD bekannt, anders als beim Alkohol oder Suchtdrogen wie Heroin, Kokain oder den Amphetaminen.

Ein Mann springt aus dem Fenster

Zwar gab es Tote durch LSD, jedoch nur durch die „Fremdartigkeit und Unberechenbarkeit seiner psychischen Wirkungen“, wie Albert Hofmann berichtete. Das erste Opfer war ein gewisser Dr. Olson, dem man Anfang der fünfziger Jahre bei Drogenexperimenten der US Army ohne sein Wissen eine hohe Dosis LSD verabreichte. Der Mann sprang aus dem Fenster. „Seiner Familie war damals unerklärlich, wie es bei diesem ruhigen, ausgeglichenen Mann zu dieser Tat hatte kommen können“, schrieb Hofmann in seinen Lebenserinnerungen. „Erst fünfzehn Jahre später, als die Geheimakten über jene Versuche veröffentlicht wurden, erfuhr sie den wahren Sachverhalt.“

Der damalige US-Präsident Gerald Ford musste den Hinterbliebenen öffentlich das Bedauern der Nation versichern. Kurz darauf analysierte Hofmann in seinem Baseler Labor einige Pilze, mit denen sich die Hochlandindianer Mexikos seit Generationen in prophetischen Rauschzustand versetzten. Das isolierte Psilocybin zeigte nahe Verwandtschaft zum LSD. Offenbar handelte es sich um eine sakrale Droge, die einigen Naturvölkern schon sehr lange bekannt war.

Ein gewisser Dr. Leary

Zurück zur Army, zurück in die USA. Die Verbreitung des LSD an den Universitäten erreichte auch die renommierte Harvard-Universität, wo Timothy Leary unterrichtete. Der Psychologe wandte sich der Droge zu und setzte öffentliche Selbsterfahrungstrips auf den Lehrplan. Schnell wandelten sich die Seminare in kollektive LSD-Partys, die Studenten strömten scharenweise in die Happenings des „Drogenapostels“. Leary und seine Kollegen wurden wegen unwissenschaftlichen Verhaltens der Universität verwiesen.

Ein Mäzen stellte ihnen daraufhin das rund hundert Hektar große Anwesen von Millbrook im Norden des US-Bundesstaates New York zur Verfügung. Dort gründete Leary eine psychedelische Kommune, die sich über mediale Aufmerksamkeit nicht beklagen konnte. Als er im „Playboy“ über die sexuelle Stimulation durch LSD dozierte, kam die Lawine ins Rollen.

Turn on, tune in, drop out

Fortan gaben sich in Millbrook die Gäste die Klinke in die Hand. „Turn on, tune in, drop out“: Das war Learys Slogan, der auch der Slogan der Hippie-Bewegung werden sollte. Millbrook war aber nicht der Ort für drogeninduzierte Exzesse, wie es später dargestellt wurde, um das LSD zu verteufeln. „In Millbrook nahm man fremde Personen als Freunde wahr, egal, aus welcher Bevölkerungsschicht sie kamen“, berichten ehemalige Mitglieder der Kommune in dem Dokumentarfilm „Substance“ des Schweizer Regisseurs Martin Witz. „Sogar die Mitglieder königlicher Familien kamen zu uns.“

Während Alkohol bisher noch jede Party ruiniert hat, erhebt LSD sie zum göttlichen Fest. Acid, wie das Lysergsäurediethylamid kurz genannt wurde, nivellierte die sozialen Unterschiede. Was in Millbrook abging, war eine anthropologische Revolte, Vorschau auf ein Leben ohne Hierarchien und Machtstrukturen. „Wir sind keine dummen Tiere, die nur einem Weg folgen“, sagte Timothy Leary damals in einem seiner zahlreichen Fernsehinterviews. „Wir sind auf der Erde, um zu fliegen.“

Kesey fliegt übers Kuckucksnest

Einmal quer durch den Kontinent, zur pazifischen Sonnenküste von Kalifornien: Dort scharte der Autor Ken Kesey eine kleine Gruppe von Aussteigern um sich, die im schrill bemalten Schulbus über die Lande fuhren und LSD-Trips propagierten. Kesey hatte in dem Roman „Einer flog übers Kuckucksnest“ die Erfahrungen verarbeitet, die er als Proband bei LSD-Experimenten in einer Klinik gesammelt hatte.

Mit seinen Merry Pranksters begann die eigentliche Hippie-Bewegung. 1963 waren die Sandoz-Patente ausgelaufen, nun konnte jeder bessere Chemiker mit der entsprechenden Ausrüstung ganz legal LSD synthetisieren. Der Prozess ist sehr langwierig, wenn man eine hohe Reinheit erzielen will.

Leary an der Ostküste und Kesey in Kalifornien propagierten die spirituelle Revolution mit LSD. Noch wurde Acid von den Behörden geduldet. Im heruntergekommenen Stadtteil Haight Ashbury in San Francisco wurden die Drogen produziert und vermarktet. Dank der Medien und fantastisch anmutender Berichte über die „Zauberdroge“ strömten zigtausende junge Menschen nach San Francisco.

Doch LSD war nur das Symptom der Hippie-Bewegung. Die Ursachen lagen viel tiefer: In der gähnenden Langeweile der gut situierten Vorstädte Amerikas, in der seelenlosen Jagd nach Geld und im Krieg in Indochina, zu dem viele junge Männer als Wehrpflichtige eingezogen wurden. „Amerika ist heute ein Irrenhaus“, polemisierte Timothy Leary damals. „Die amerikanischen Menschen sind total besessen vom Materiellen, von Macht und Krieg. Es ist wirklich ein Irrenhaus.“

Mordlust der GIs schwand

Und nun zeigte das LSD seine Macht, aber anders, als von der Army seinerzeit erhofft: Learys Jünger schmuggelten die Droge heimlich nach Vietnam, um die GIs zu versorgen. Die Mordlust der Soldaten schwand, die Moral der Truppe bröckelte. Nichts verunsichert Unteroffziere und Generäle stärker wie „kosmisches Gelächter“. Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner will schießen.

Auf Fronturlaub zu Hause berichteten die Soldaten von der Gräuel im Namen der Demokratie. Der Widerstand innerhalb der USA wuchs, in der Flower-Power-Bewegung verbündeten sich Kriegsgegner und Hippies. LSD wurde ein Politikum, zumal klerikale Fundamentalisten einem telegenen Messias wie Timothy Leary nichts entgegenzusetzen hatten. Orange Sunshine statt Agent Orange: Rund 5.000 Dosen LSD passten in eine kleine Handtasche. Kein Problem, sie nach Saigon zu bringen.

Aber Leary ging noch viel weiter: Öffentlich rief der die amerikanischen Schüler auf, die Schule zu schwänzen: „Denn Schulerziehung ist die schlimmste Droge.“

Haight Ashbury erlebte einen ungeahnten Aufschwung. Aus dem ganzen Kontinent fielen bunt angezogene Jugendhorden in dem Viertel ein. Zehntausende kampierten auf den Bürgersteigen, als sei Christus im Reagenzglas auferstanden.

Der Ort der Träume

San Francisco wurde zum Ort ihrer Träume, ihrer Sehnsüchte, das kann nur verstehen, wer jemals geträumt hat und sich nach einem anderen Leben sehnte – jenseits des Kommerzes und des Geldes. Es war die Zeit der großen Konzerte von „The Greatful Dead“ und Jimi Hendrix. Veränderung schien möglich, fast in Reichweite. Der „Summer of Love“ 1967 markierte den Höhepunkt der Hippie-Bewegung, bevor massive Polizeieinsätze dem Zauber ein Ende bereiteten.

Denn die Hippie-Invasion spielte den Gegnern der Revolte in die Hände: Immer häufiger tauchten in den Bildern der Fernsehanstalten und der Zeitungen die verwahrlosten und verirrten Jugendlichen auf, von Polizisten im Wahnrausch aufgegriffen.

Kurzurlaub für die desorientierte Seele

Der Kapitalismus hatte sich des LSD bemächtigt. Er versprach Kurzurlaub für die desorientierte Seele, den schnellen Ersatz für die innere Emanzipation, die man nur mit sehr viel Arbeit erreichen kann.

Das LSD wurde mit Erwartungen überfrachtet, an denen schon andere gescheitert sind. Man denke nur an die Hostie beim kirchlichen Abendmahl: Symbol der unmündigen Gläubigen, die brav am Daumen ihres Hirten nuckeln. Nur nicht die verbotenen Früchte des Paradieses kosten, nur nicht selber Christus sein!

Der Geist aus der Flasche

Obwohl LSD keine giftige Suchtdroge ist, erschrak das bürgerliche Amerika vor der eigenen Freiheit – und zog die Reißleine. Bei Überdosis und fehlender Betreuung kann die kosmische LSD-Reise schnell zum Horrortrip geraten: Dann dominieren Ängste und Dämonen die innere Show. Das hatte schon Hofmanns erster Selbstversuch ergeben.

In Haight Ashbury drohte der Notstand. Leary und seine Jünger hatten den Geist aus der Flasche gelassen, nun verloren sie die Kontrolle. „Das LSD braucht Vorbereitung und Reife“, kristierte Albert Hofmann rückblickend. „Es ist unverantwortlich, jungen Menschen mit einem solchen Instrument reinzupfuschen.“ Womit er sicher nicht ganz Unrecht hatte. Aber das ist keine Eigenart des LSD. Das trifft für Alkohol, Computerspiele oder Motorräder gleichfalls zu. Allein in Deutschland gibt es jedes Jahr mehr Tote durch Motorradunfälle, als weltweit jemals durch LSD.

Ronald Reagan tritt zum Kreuzzug an

Back to USA: Im Herbst 1968 trat Ronald Reagan vor die Fernsehkameras, sicher nicht zum ersten Mal. Reagan war als Schauspieler bekannt geworden. Seinem Job, fremde Texte nachzusprechen, blieb er als Gouverneur von Kalifornien treu: „Es ist weder klug noch kultiviert, einen LSD-Trip zu machen”, wetterte er.

Obwohl es durch das LSD nur wenige Tote und überhaupt keine Vergiftungen gab, wurde Haight Ashbury im Oktober 1968 von der Polizei geräumt. Die Behörden verhängten ein Totalverbot für LSD, das bis heute gilt. US-Präsident Richard Nixon stempelte Leary öffentlich zum gefährlichsten Mann Amerikas, bis er sich im Zuge der Watergate-Affäre selbst als Betrüger outete.

Leary verschwand im Knast, wegen des Besitzes von Marihuana, das 1965 bei seiner Tochter an der mexikanischen Grenze gefunden worden war. Susan Leary wurde zu fünf Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Ihr Vater erhielt aufgrund des Marihuana-Tax-Actes eine Gefängnisstrafe von 33 Jahren wegen Steuerhinterziehung aufgebrummt.

Leary flieht in die Schweiz

Zwar wurde dieses Urteil 1969 vom Obersten Gerichtshof aufgehoben und der Marihuana-Tax-Act für verfassungswidrig erklärt. Doch schon im Juni 1970 fand die Polizei in Learys Wagen erneut zwei Joints, wofür er zehn Jahre Knast aufgebrummt bekam. Im September des gleichen Jahres konnte er aus dem Gefängnis in Kalifornien fliehen, die Black Panther brachten ihn über Algerien nach Europa.

In der Schweiz ersuchte er um Asyl, was die Regierung in Bern jedoch ablehnte. Allerdings lehnte sie auch einen Auslieferungsantrag der Amerikaner ab. Leary reiste nach Wien aus, von dort nach Kabul in Afghanistan, wo er 1973 erneut in amerikanische Hände fiel. Bis 1976 hockte er seine Strafe ab, danach blieben ihm noch zwanzig Jahre, bis er 1996 im Alter von 75 Jahren starb.

Zeit seines Lebens unterschied er sehr scharf zwischen psychedelischen Drogen wie LSD oder Haschisch und süchtig machenden Rauschgiften. Ganz zu schweigen von der Systemdroge Alkohol, die allein in Deutschland jedes Jahr rund 74.000 Menschen tötet, legal und gesellschaftlich akzeptiert. Ein LSD-Rausch dauert höchstens zwölf Stunden, ohne Kater, ohne Erinnerungslücken. Selbst die stetige Höherdosierung erzeugt keine Sucht wie andere Drogen. Akute LSD-Krisen kann der Arzt mit Chlorpromazin oder anderen Beruhigungsmitteln unter Kontrolle halten. Mit Blick auf die Hysterie und die Menschenjagd in den USA urteilte der Ethnobotaniker Terence McKenna: „LSD erzeugt psychotisches Verhalten bei denen, die es nie genommen haben.“

Ein politisierter Wissenschaftler

Albert Hofmann war viel älter als Leary, und er hat ihn um fast zwanzig Jahre überlebt. Bis zu seinem Ende hat ihn sein Sorgenkind politisiert, wie nur wenige Wissenschaftler. Bis 1971 arbeitete er bei Sandoz. Auch danach sprach er sich immer wieder für die therapeutische Anwendung von LSD aus. I

n zahlreichen Interviews, auf Konferenzen und Schriften hat er sich der Verteufelung der „Wunderdroge“ widersetzt. „Je tiefer man in die lebendige Natur hineinsieht, desto wunderbarer erkennt man sie und fühlt sich geborgen“, resümierte er kurz vor seinem Tod. „Man geht nicht mehr blind durchs Paradies. Denn Gott schlummert in dir.“

Albert Hofmann war ein Mystiker, wie Meister Eckehart oder William Blake aus England. Im Interview bekannte er: „Der Tod des Körpers ist nicht der Tod des Ichs. Der Mensch ist in größere Netze eingewoben.“

Doch ebenso erkannte er die Grenzen des LSD, der Droge des „Drop-out“ (Ausstiegs). Denn der Ausstieg allein beantwortet noch nicht die Lebensfrage, wohin der neue Einstieg erfolgen soll. Hoffnung und Revolte sind nur von Dauer, wenn sie ein positives Alternativkonzept erproben. Das geht nicht ohne innere Arbeit ab, dazu reicht der kurze Trip in die verborgenen Tiefen der Seele nicht aus. Er kann nur der Anstoß sein, die Inspiration.

Die eigentliche Befreiung ist im Alltag zu schaffen, bei vollem Bewusstsein und Verstand. LSD ersetzt nicht die Weisheit, die eine anthropologische Emanzipation benötigt. Aber es ist der Schlüssel zur Erkenntnis, zu der ausgerechnet eine amerikanische Regierungsbehörde die gängigen Bilder lieferte: Auf dem Höhepunkt der Hippie-Bewegung funkte die US-Weltraumbehörde Nasa erstmals Fotos vom Blauen Planeten zur Erde. Der kosmische Trip als Synonym für die innere Reise, „weil der Innenraum der Seele genauso unendlich und geheimnisvoll ist wie der Weltraum“.

Das letzte Wort

So könnte Albert Hofmann das letzte Wort haben. Denn nach dem Verbot des LSD in den USA zogen die meisten der so genannten zivilisierten Länder nach. Nur für einige Spezialkliniken galten Sondergenehmigungen, um hoffnungslos erkrankten Krebspatienten das Sterben zu erleichtern. Auch diese Genehmigungen liefen irgendwann aus.

Nun ruhen die Forschungen, weil die Wissenschaftler den Papierkrieg um die Droge fürchten. Lediglich Versuche mit Psilocybin sind seit einiger Zeit wieder möglich, um Todkranke auf das Ende einzustimmen. Die stärkste Stelle im Dokumentarfilm von Martin Witz ist das kurze Interview mit einem gestandenen Mann, der an Krebs leidet und in England mit Psilocybin behandelt wird. „Ich empfand nur Vertrautheit und Stille“, berichtet er in die Kamera. Da stockt er, bricht ab, mit Tränen in den Augen. Denn es gibt keine Worte mehr. Nur noch Frieden.

Tipps zur weiteren Information:

The Substance – Albert Hofmann’s LSD
Ein Dokumentarfilm von Martin Witz
DVD, 93 Minuten
Nachtschatten Verlag Solothurn, 2012
ISBN 978-3-03788-271-9
Preis: 25 Euro, CHF 29,80
Website des Nachtschatten Verlags

Christian Rätsch (Hrsg.)
Das Tor zu inneren Räumen
Heilige Pflanzen und psychedelische Substanzen
als Quelle spiritueller Inspiration
Edition Rauschkunde
280 Seiten, Paperback
Werner Pieper´s MedienXperimente, 1996
ISBN 978-3-930442-10-2

Albert Hofmann
LSD – mein Sorgenkind
Die Entdeckung einer „Wunderdroge“
220 Seiten, Paperback
Deutscher Taschenbuchverlag, 2001
ISBN 978-3-423-36135-4

Mathias Bröckers, Roger Liggenstorfer (Hrsg.)
Albert Hofmann und die Entdeckung des LSD
Auf dem Weg nach Eleusis
180 Seiten, kartoniert
Nachtschatten Verlag Solothurn, 2006
ISBN 978-3-03788-241-2

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© Klausbernd Vollmar
Freitag, 13. November 2020

Podcast: Farben in uns, um uns, zwischen uns

Klausbernd Vollmar war mit Rebecca Budd zu Tea, Toast & Trivia verabredet – ein spannender Podcast über Kontinente hinweg, zwischen Norfolk und Vancouver. Es geht um Farben: unsere Wahrnehmung, traditionelle und kulturelle Aspekte, um Gemälde, Mode und die Farbenlehre von Newton und Goethe. Eine halbe Stunde: schillernd und vielfältig wie ein Blick durchs Prisma.

In Zeiten von Corona haben Podcasts hohe Konjunktur, nicht nur unter Virologen. Doch kaum ein Talk kommt so geistreich, spritzig und unaufgeregt daher, wie Clanmothers (Rebecca Budd aus Vancouver) Gespräch mit dem Autor und Psychologen Klausbernd Vollmar, der seit vielen Jahren in Cley-next-the-Sea an der Küste von Norfolk lebt. Vollmar ist ausgewiesener Experte für dieses Thema, er hat zahlreiche Publikationen über Farben und Farbenlehre veröffentlicht.

Es geht also um Farben, um die Spektralfarben des Lichts, um Goethes Farbenkreis, um Rudolf Steiners Kommentar desselben, um Wassili Kandinsky – den Farbenmeister vom Bauhaus – um Newtons Lehre vom Licht und seiner Farbigkeit.

Das Gespräch dreht sich aber auch – und vor allem – um die Wahrnehmung von Farben, etwa durch Kinder und Erwachsene, durch Frauen und Männer. Es geht um die kulturellen Einflüsse auf unsere Wahrnehmung und Interpretation von Farben, denn im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende wurden die Menschen durch Farben auf ganz verschiedene Weise angeregt.

Es geht ebenso um die biologischen und physikalischen Grundlagen der Farbrezeption und die interessante Frage, warum einige blinde Menschen Farben fühlen können. Der Podcast, der in sehr guter technischer Qualität aufgenommen ist, dauert eine halbe Stunde. Die Zeit vergeht wie im Fluge – eine farbenfroh schillernde Flucht aus dem grauen Alltag dieses Herbstes.

Unbedingt reinhören!

Hier finden Sie Klausbernd Vollmars Blog „The World according to Dina“.

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© HS Eglund
  • Bohley 1 Im Herbst 2020 liegt nur ein Gebinde aus dem Roten Rathaus am Grab. © HS Eglund
Sonntag, 8. November 2020

Die ungemalten Bilder der Bärbel Bohley

30 Jahre deutsche Einheit: Staatstragend und offiziell ging es zu – in den Medien und bei den Festakten in Potsdam und Berlin. Von Freiheit war die Rede, von Chancengleichheit und statistischen Differenzen zwischen Ost und West. Worum ging es damals wirklich? Ein Besuch bei Bärbel Bohley in Berlin.

Still ist es, regnerisch und kühl, richtiger Novembermist. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof unweit des früheren Tränenpalastes an der Friedrichstraße stehe ich an einem Findling, aufgerichtet für Bärbel Bohley, die hier seit 2010 liegt. Mehr als tausend Leute hatten damals den Trauergottesdienst in der Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg besucht, ihre Beerdigung geriet zum medialen Ereignis.

Im Herbst 2020 liegt ein Gebinde des Regierenden Bürgermeisters am Beet, angeschmuddelt durch den Regen. Keine weiteren Blumen, nichts. Efeu statt Lorbeeren? Wächst das Gras des Vergessens über ihrem Grab?

Bärbel Bohley war Bürgerrechtlerin, Frauenrechtlerin, emotional, nahe am Wasser gebaut und in ihrem Engagement vor allem ihm verpflichtet: dem Frieden. Klingt pathetisch, war es aber nicht. Nicht in ihrem Fall, denn nichts lag ihr ferner, als die patriarchale Geste des Siegerkranzes. Und nichts so nah wie die Friedenstaube von Picasso, Maler wie sie.

Eine erstaunliche Wandlung

Zwanzig Jahre vor ihrem Tod – im September 1989 – gehörte Bohley zu den Mitgründern des Neuen Forums in der DDR. Dem war eine erstaunliche Wandlung vorausgegangen, denn die im Spätmai 1945 geborene Berlinerin ging zunächst den geraden Weg des DDR-Sozialismus: Abitur, Lehrabschluss als Industriekauffrau, danach Ausbilderin für Lehrlinge.

Doch etwas im Alltag der DDR, ihrer Industrie, der „materiellen Produktion“ muss ihr gegen den Strich gegangen sein. Denn 1969 beginnt sie ein Studium an der Kunsthochschule in Weißensee, macht 1974 ihr Diplom als Malerin – und lebt fortan freischaffend.

Solo Sunny im Atelier

Das war in der DDR genauso ungewöhnlich wie suspekt – Solo Sunny im Atelier. Mit der Arbeiterklasse als Erfüllungsgehilfin der „historischen Mission“ konnte Bohley wenig anfangen. Als Künstlerin stellte sie sich bewusst an den Rand der Gesellschaft. Und machte sich andererseits vollkommen abhängig vom staatlichen Kunstbetrieb. Einen freien Kunstmarkt gab es faktisch nicht, Aufträge kamen nur von den Kirchen oder von offiziellen – staatlichen – Stellen.

Zunehmend sieht sich die Malerin ins Abseits gedrängt, ihre Werke passen nicht zum hochgelobten „sozialistischen Realismus“. Bohley betreibt Selbstverwirklichung, der Militarismus der DDR ist ihr zuwider, ebenso das Regime der alten Männer in Ostberlin und Moskau. Sie nimmt Kontakt zu den Grünen in Westdeutschland auf.

Das Schlachtfeld des Dritten Weltkriegs

Anfang der 1980er Jahre rüsten Nato und Warschauer Vertrag mit Atomraketen auf, die beiden Deutschländer sind das Schlachtfeld des Dritten Weltkriegs. In Bonn laufen Hunderttausende zu den großen Ostermärschen, aus den Westmedien erfährt der Ossi von Sitzblockaden mit Heinrich Böll und Petra Kelly.

1982 gründet Bärbel Bohley die Gruppe „Frauen für den Frieden“, trägt den Protest gegen das nukleare Wettrennen nach Ostberlin. Ein Jahr später nimmt sich die Stasi ihrer an, denn sie stört die Kreise der mächtigen Männer im Politbüro. Nach der U-Haft im Stasiknast in Hohenschönhausen wird sie in Bann und Acht getan: Keine Aufträge mehr, darf zwar malen, aber nix verkaufen.

Exil in England

Ein Jahr vor der Wende wird Bärbel Bohley ins Exil nach England abgeschoben – allerdings mit einem Pass der DDR. Sechs Monate bleibt sie auf der Insel, dann kehrt sie freiwillig in die DDR zurück. „Ich wollte wieder zurück“, bekennt sie später. „Denn wenn man etwas in eine Sache investiert hat, dann kann man es nicht aufgeben. Ich habe mich in der DDR auch zu Hause gefühlt, nicht weil ich sie liebe, sondern weil ich viele Freunde dort habe oder hatte. Insofern war es wirklich ein Ort, den man verändern muss. Ich habe im Westen gelernt, dass eine Opposition, zu der man sich bewusst bekennt, einfach in die DDR gehört und das hat die DDR-Opposition vorher nicht gemacht.“

Die Opposition in der DDR unterschätzt

Doch, hat sie, vielfach. Opposition hat es in Ostdeutschland seit Gründung der DDR gegeben: Opposition in den Reihen der SED, in den Reihen der Kirchen, in der Bauernschaft, unter Künstlern und sogar Militärs. Die Proteste gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann im Jahr 1976 kamen aus der DDR selbst. Robert Havemann blieb bis zu seinem Tod 1982 in Grünheide, ließ sich nicht vertreiben. Auch Schriftsteller wie Stefan Heym blieben bewusst in der DDR, trotz aller Widrigkeiten durch die SED und ihre Schergen. Rudolf Bahro, der 1977 mit dem Buch „Die Alternative“ Aufsehen erregt hatte, wurde in Bautzen hinter Schloss und Riegel gesetzt – und dann gleichfalls in den Westen verkauft.

Es gab oppositionelle Jugendgruppen in Jena und Ostberlin, die von der Stasi drangsaliert und abgeschoben wurden. Dass Bohley diese Gruppen nicht kannte oder nicht kennen wollte, hat wohl mit ihrem Egozentrismus zu tun.

Die Künstlerin war empfindsam, nach innen gekehrt und mitunter sehr selbstgerecht. Das war menschlich und schadete ihrem Engagement kaum. Vielleicht war es sogar notwendig.

Die Sache mit dem Pass

Dass Bärbel Bohley mit einem DDR-Pass nach England ausreisen und vor allem: wieder zurückkehren durfte, ist sehr, sehr seltsam. Eigentlich unvorstellbar, nach den Spielregeln jener Zeit.

Möglicherweise hat es mit dem Lernprozess in der SED zu tun: Dass es mehr Schaden bringt als Nutzen, wenn man die Leute aus dem Land verbannt. Sollen sie sich doch im Westen umschauen: Dort ist längst nicht alles Gold, was glänzt. Heute wissen wir: Wenig später wurde Millionen DDR-Bürgern diese Erfahrung erlaubt, und die allermeisten kehrten zurück.

Im September 1989 gehört Bohley zu den Gründern des Neuen Forums. Auch damit schreibt sie die innere Opposition in der DDR fort, denn das Neue Forum konstituierte sich in Grünheide, wo der bekannteste DDR-Dissident Robert Havemann bis zu seinem Tof 1982 im Arrest lebte. Havemann hatte es bis zuletzt abgelehnt, in den Westen zu gehen. Er war Kommunist und Dialektiker, vom Kapitalismus hatte er vor seiner Verhaftung durch die Nazis genug gesehen.

Kriegsopfer auf dem Balkan

Nach Wende und Wiedervereinigung wurde es still um Bärbel Bohley, um „Frauen für den Frieden“ und das Neue Forum. Bohley ging auf den Balkan, um Kriegsopfern zu helfen. Sie prozessierte gegen Gregor Gysi, der sie gegen die Stasi verteidigt hatte, und trat in Fernsehshows auf. Bekannt sind ihre Tränen bei der einen oder anderen Gelegenheit. Sie war nahe am Wasser gebaut.

Aber sie konnte auch handfest sein: Mit Hungerstreik und Mahnwache kämpfte sie darum, die Akten der Stasi öffentlich zugänglich zu machen. „Ich glaube nicht, dass die Strafjustiz in der Lage sein wird, Gerechtigkeit herzustellen“, sagte sie Anfang der 1990er. „Recht, so erscheint es uns jedenfalls manchmal, kommt als Ungerechtigkeit in den neuen Ländern an. Und darin sehe ich ein großes Problem. Unser Problem war ja nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen, unser Problem war, dass wir Gerechtigkeit wollten. Und insofern haben wir natürlich dem Westen unsere Probleme vor die Füße gekippt in der Hoffnung, dass mit dem westlichen Rechtsstaat auch Gerechtigkeit in die neuen Länder kommt.“ Ein Irrtum, vor dem sie auch das halbjährige Praktikum in England nicht bewahren konnte.

Vom Traum zum Albtraum

Der Aufbruch Bärbel Bohleys begann, als sie die Industrie verließ und Malerin wurde. Als sie begann, ihren Traum zu leben. Er endete, als sie 1989 den Pinsel aus der Hand legte, um sich nur noch der politischen Arbeit zu widmen.

In zwanzig Jahren von 1969 bis 1989 hat sie rund tausend Werke geschaffen: Gemälde, Zeichnungen und Grafiken. Viel naive Kunst, vieles mit treffendem Blick der DDR-Tristesse entrissen. „Ich bin keine politische Künstlerin“, bekennt sie 1990. „Ich bin ein politischer Mensch, der Kunst macht. Manchmal ist Kunst abwesend – dann ist Politik anwesend und bestürmt das Leben. Kunst ist für mich der Versuch eines utopischen Entwurfs vom Leben.“

Nach 1990 hat Bohley nur noch mit der DDR gekämpft, die längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet war. Sie hat – wie viele frühere Dissidenten – unablässig gegen die Stasi und das Unrecht der SED gestritten, als ob diese Wunden rückblickend heilbar sind. Man kann sagen: Ab 1990 hat sie sich nur noch an ihrem Albtraum abgearbeitet. Das hatte manchmal naive, manchmal manische Züge – daher die Tränen im TV.

Enttäuscht vom Desinteresse

Und vor allem war sie enttäuscht vom Desinteresse der Massen, der grauen Arbeiterklasse, der mehr an VW und Sony gelegen war, als an der Aufarbeitung des SED-Unrechts und des Stasistaats. Und die Kunst aus der DDR, mitsamt ihren Künstlerinnen und Künstlern, landete ebenso auf dem Müllhaufen der Geschichte, wie die ganze, kleine, graue DDR selbst.

Wohl deshalb drehte sie Deutschland den Rücken, zog sie nach Kroatien, wo sie mit großem Einsatz für den Wiederaufbau nach dem Jugoslawienkrieg kämpfte. Bilder hat sie keine mehr gemalt. Dabei wären gerade sie spannend gewesen: Bohleys Träume aus der neuen Zeit.

Hatte sie dafür keine Utopie?

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