Mordechai Gebirtig: Sänger einer verbrannten Welt
Im Januar 1942 wurde die „Endlösung“ beschlossen. Wenige Monate später starb Mordechai Gebirtig, erschossen von einem deutschen Besatzer. Er war der singende Tischler, Poet des Krakauer Judenviertels. Ein Enkel der Killer nahm seine Lieder mit nach Kazimierz.
Seltsam muss es gewesen sein, das alte, jüdische Viertel von Krakau. Kazimierz, ein schmieriger, klebriger Menschenbrei aus Orient, deutschem Bierwesen und dem mittelalterlichen Anachronismus der K.u.K. Monarchie. Vor achtzig Jahren ging diese Welt unter, vergast und verbrannt im Todestrakt von Auschwitz, kaum dreißig Kilometer vor der alten Königsstadt.
Noch heute dominieren Ruinen, und nur selten verirren sich die Touristen hierher. Lieber schlendern sie durch die Tuchhallen, zwischen den Säulen des Wawel, der alten Königsburg, und in der Krönungskirche, deren Goldprunk so gar nicht zum Armutsgelübde eines Jesus Christus passt.
Beruhigende Stille
Normalerweise steppt auf dem Wawel der Bär, denn in der Gunst der Traveller und Globetrotter steht die polnische Königsstadt ganz oben – neben Paris, Prag und Prenzlauer Berg. Corona hat die Menschenströme gestoppt, beinahe beruhigend, wie still es ist.
Auch in Kazimierz herrscht merkwürdige Stille. Hier blieb die Zeit stehen, hier haben die berühmten polnischen Restauratoren bisher nur zögernd Hand angelegt. Kazimierz: Das Viertel der galizischen Juden, die es längst nicht mehr gibt. Eine Geisterstadt, Refugium von Erinnerungen.
Nehmen Sie ein altes Schwarzweißfoto in die Hand, und betrachten Sie es eine Weile. Dann verstehen Sie, welche Art von Stille ich meine. Sachte. Nur sacht, ganz sachte kehrt jüdisches Leben zurück – fünfundsiebzig Jahre nach dem Krieg und dreißig Jahre nach den Zusammenbruch des Ostblocks.
Der letzte Sänger des Jiddisch
Im Januar 1942 kamen in einer Villa am Wannsee in Berlin eine Handvoll Männer zusammen, um die „Endlösung der Judenfrage“ zu beschließen. Beschlossene Sache war sie seit zwanzig Jahren, war schon in „Mein Kampf“ nachzulesen.
Im Juni 1942 starb im Krakauer Ghetto ein Mann, erschossen auf offener Straße. Das Projektil stammt aus dem Gewehr eines deutschen Besatzers, doch der Name des Mörders ist unbekannt.
Unbekannte Opfer, verschollen
Viele Opfer dieser Zeit blieben unbekannt, verschollen. Den Holocaust und die Jahrzehnte überdauert hat der Name dieses Toten: Mordechai Gebirtig, ein jiddischer Komponist. Gebirtig war ein einfacher Mann, ein Tischler, der seine Lieder zuerst auf einer kleinen Flöte ausprobierte. Als ihn die tödliche Kugel traf, stand er im 65. Lebensjahr.
Mehr als neunzig Lieder hat er hinterlassen. Heute gilt Gebirtig als der letzte Sänger des schwungvollen Jiddisch; der letzte Sänger einer verbrannten Welt. „Der Bogen reicht vom schlichten Kinderlied, zu bacchantischen Trinkliedern bis hin zum fordernden Arbeiterlied“, schreibt die Edition Künstlertreff, die seine Lieder wieder ausgegraben hat. „Nicht die romantisierende Schtetl-Welt ist es, die Gebirtig in seinen Liedern aufleben lässt, sondern das Leben der kleinen Leute im jüdischen Stadtteil Krakaus.“
Streitapfel der Geschichte
Kleine Leute, kleines Viertel, große Weltgeschichte: Als Mordechai Gebirtig das Licht der Welt erblickte, gehörte Krakau zu Österreich-Ungarn. Im Ersten Weltkrieg zerfiel der Vielvölkerstaat, Galizien wurde zum Streitapfel zwischen dem weißen, katholischen Polen und den roten, heidnischen Bolschewisten aus Moskau und Petrograd.
Zusehends verschlechterte sich die Situation der jüdischen Bevölkerung, die allen ein Dorn im Auge war. Gebirtigs Lieder wurden politischer und schärfer, auch ironischer, um nicht die Hoffnung zu verlieren.
Ein Beispiel ist der „Arbetlosemarsch“. 1938 schrieb er für Juden, die sich gegen ein Pogrom wehrten, das Lied „Undzer shtetl brent“. Darin ruft er zum Widerstand auf, unerhört für seine Zeit. Das Lied ist düster, wie eine Totenglocke, als nähme es den Untergang der Jidden vorweg.
Ein Kraftfahrer aus Leipzig
Als die Nazis das Land überrannten, fanden nur wenige Katholiken den Mut, Juden zu helfen. Und noch weniger Protestanten. Der Großvater des Autors hatte sich 1938 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet.
Im Zivilleben transportierte der Kraftfahrer die Zigaretten für Reemtsma zwischen den Fabriken in Dresden und dem Kontor in Leipzig. In Uniform stürmte er mit Hurra durch den Schlagbaum hinter Gleiwitz, um neuen Lebensraum gen Osten zu erobern.
Seine Infanteriedivision eroberte Warschau. War er der Scherge, der den jiddischen Sänger erschoss? Er hätte es sein können. Er war es. Wer auch nur einen Schuss abgegeben hat, hat sie alle auf dem Gewissen.
Als Gebirtig verblutete, war der Leipziger Chauffeur Horst Torge bereits auf dem Weg durch Russland, zur Wolga. Bald war auch sein Lied zu Ende: Gefangenschaft in den Trümmern von Stalingrad Anfang 1943, Arbeitslager in Südrussland, Tod an Typhus im heißen, staubigen Sommer 1946.
Ein altes Lied, ein leises Lied
Dass wir die Lieder Gebirtigs noch – oder wieder – kennen, ist maßgeblich dem Wuppertaler Sänger und Komponisten Manfred Lemm zu verdanken. Mehr als zehn Jahre lang trug er die Lieder des Krakauer Tischlers zusammen, durchforstete Archive und Sammlungen.
Viel Glück und der Zufall hatten ihre Hände im Spiel. Entstanden ist ein bibliophiles Gesamtwerk mit den jiddischen Texten und ihrer deutschen Übersetzung. Parallel dazu erschienen in der Edition Künstlertreff inzwischen 69 Lieder, die Lemm mit seinem Ensemble auf vier CDs eingespielt und dem Vergessen entrissen hat.
Lemms Vertonungen der Gebirtig-Texte wurden in die fünfbändige Yiddish Anthology der Hebräischen Universität von Jerusalem aufgenommen. Mit Konzerten in Israel, Nordamerika und überall in Europa bringt Lemm die jiddischen Lieder erneut ins Bewusstsein: Diese Sehnsucht, diese Wehmut, diese Wut. Diese große Leichtigkeit und dieses verschmitzte Lächeln. Dieser Verlust, der Europa verringert.
Lieder leben davon, dass man sie singt
In der Nachkriegszeit, in der DDR, war es vor allem die bekannte holländische Sängerin Lin Jaldati, die die Lieder Gebirtigs in ihrem Repertoire hatte. Knapp war sie dem Tod entronnen, hatte die Konzentrationslager überlebt – und Anne Frank in den letzten Tagen ihres Lebens begleitet.
Nach dem Krieg gehörte sie zu den wenigen jüdischen Stimmen in Ostdeutschland, weigerte sich beharrlich, das Jiddisch zu vergessen. Auf Youtube gibt es einige sehr schöne Aufnahmen aus dieser Zeit, aus der so wenige Zeugnisse erhalten sind.
Auch die norwegische Sängerin Bente Kahan hat sich des Erbes von Gebirtig angenommen. Seit Beginn der neunziger Jahre führt sie die Lieder öffentlich auf, hat eine beeindruckende Sammlung von CDs mit jiddischen Liedern produziert.
Der Auftaktsong ihrer CD „Farewell Cracow“ heißt „Kinder yorn“ („Kinderjahre“), und es ist diese Melodie, die plötzlich Leben in die stillen Ruinen von Kazimierz zu bringen scheint.
Wie eine längst vergessene Stimme schwingt sie durch die Gassen, fernes Echo einer fernen Zeit. Denn nichts verschwindet jemals ohne Spur, und kein Lied verstummt für immer.
Mehr über Mordechai Gebirtig findet sich hier.
Lin Jaldati singt Gebirtig (Video auf Youtube).