Das Ende der großen Party
Die Buchmesse in Leipzig im Mai wurde abgesagt. Als Ersatz soll es ein digitales Lesefest geben. Für kleine Verlage und unabhängige Autoren ergeben sich dadurch neue Chancen.
Die Absage der Leipziger Buchmesse Mitte der vergangenen Woche verursachte in den Feuilletons ein gewaltiges Rauschen, überraschend kam sie nicht. Der Hickhack um den Impfstoff gegen die Coronaviren ließ es bereits erahnen: Auch in diesem Jahr wird es keine Großveranstaltungen geben. Und die Leipziger Buchmesse mit rund einer Viertelmillion Besuchern ist eine gigantische Show.
Statt dessen wird es ein virtuelles Programm geben, also Präsentationen und Lesungen im Internet. Für kleine Verlage und unabhängige Autoren bieten sich dadurch neue Chancen. Denn für sie ist die Messe schon lange keine Bühne mehr, höchstens eine Party, bei der sie nur Zaungäste sind.
Dominiert von den großen Verlagen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk – der sich gerne mit großen Verlagen und ihren Autoren schmückt – waren die Kleinverleger schon lange an den Rand gedrückt.
Von Cosplayern überrrant
Und: Da die Buchmesse mit einer Fachveranstaltung für Comics zusammengelegt wurde, gab es in Leipzig in den Messehallen beinahe mehr jugendliche Cosplayer als Leser von ernsthaften Romanen oder Sachbüchern. Freilich, die fantasievollen Kostüme der jungen Leute sind wunderbar anzuschauen und von großer Ästhetik.
Für die ehrwürdige Buchmesse wäre es jedoch besser gewesen, wenn die Leipziger Manga-Comic-Convention einen eigenen Termin im jährlichen Veranstaltungskalender bekommen hätte. Denn letztlich war es die Comic-Messe, die immer mehr Publikum anzog, und nicht die klassische Schau der Neuheiten auf dem Buchmarkt. Damit hat sich die Messeleitung in die Tasche gelogen, wenn sie nach der Messe – jedes Jahr wieder – steigende Besucherzahlen meldete.
Veränderungen im Buchmarkt ignoriert
Und sie hat die dramatischen Veränderungen auf dem Buchmarkt ignoriert. Statt die Messe den Branchenriesen zu überlassen, hätte sie kleine Verlage und freie Autoren stärker ansprechen müssen.
Eine vielfältige Regionalmesse für Sachen oder den Osten Deutschlands hätte mehr Zukunft, als eine zweite Großmesse – im Frühjahr in Leipzig, im Herbst in Frankfurt. Der Versuch, Frankfurt als Leitmesse der Branche zu schlagen, ist gescheitert.
Historie allein – Leipzig als einstiges Zentrum der Verlage und der Messen – reicht als Konzept nicht aus. Es gibt in Leipzig keine nennenswerten Verlage mehr, alle Lichter sind nach der Wende ausgegangen, alle Hoffnungen auf eine Renaissance erloschen. Die wenigen kleinen Verlage, die immer aufs Neue antreten – Respekt! – brauchen keine Riesenparty.
Die Folge: Seit Jahren blieben immer mehr kleine und mittlere Verlage der Leipziger Messe (wie auch der Frankfurter Messe) als Aussteller fern. Und immer mehr Leserinnen und Leser wurden von den bunten Massentumulten am Messegelände eher abgestoßen als eingeladen.
Das Lesefest wird überleben
Immerhin hatte die Leipziger Messe einen großen Vorteil beispielsweise gegenüber Frankfurt: Es war das Fest der Leserinnen und Leser. Das Beiprogramm war viel wichtiger als die Messe selbst. Allerdings wurde das Marketing von „Leipzig liest“ ebenso von den großen Playern der Branche dominiert, wie die Buchhandlungen im Zentrum der alten Messestadt.
Wie überall sind sie längst in der Hand von Thalia oder Hugendubel. Dort kommen kleine Verlage oder unabhängige Autoren, die ihre Werke selbst verlegen, ohnehin nicht rein. Sie versprechen zu wenig Umsatz, da wirkt das Gesetz der Größe: Große Handelsketten (auch Amazon im Internet) begünstigen nur große Produzenten, die finanzkräftig sind, über Masse verkaufen und die Flächen in den Verkaufsräumen belegen.
Der Lockdown verschäft die Krise
Dieser Trend wird durch den Lockdown aufgrund der Coronakrise verstärkt. Die meisten Bundesländer – außer beispielsweise Berlin, wo Bücher als Lebensmittel gelten – haben auch die Buchhandlungen geschlossen.
Das trifft vor allem kleine Händler, die kaum Rücklagen haben. Wer heute eine Buchhandlung betreibt, ist enthusiastischer Selbstausbeuter. Durch die monatelange Zwangsschließung werden sich die Umsätze noch mehr zu den großen Onlinehändlern verschieben, die ihre Lieferanten (die Verlage) mit Horroverträgen knebeln – und ihre Mitarbeiter versklaven.
Nur große Verlage, mit langem finanziellen Atem und langer Backlist, können diesen Druck aushalten. Sie profitieren vom massenhaften Abverkauf über das Internet, sie brauchen die große Gieskanne – die Masse macht‘s.
Leserinnen und Leser finden
Für kleine Verlage ist die Absage der Messe als teure Präsenzveranstaltung zunächst kein Beinbruch. Im Gegenteil: Sie öffnet ihnen die Chance, ihre Strategien zur Onlinevermarktung zu intensivieren.
Das Geld, das bislang die Messe verschlungen hat (inklusive Anreise, Abreise und Hotelübernachtungen), ist in den sozialen Medien und in einer ordentlichen Webpräsenz besser aufgehoben.
Dort kann man – durch den Lockdown beschleunigt – tatsächlich interessierte Leserinnen und Leser identifizieren und ansprechen. Zum Glück lassen sich Bücher heutzutage auch in kleinen Auflagen preiswert produzieren, sodass ihr Abverkauf einen Gewinn verspricht.
Diese Nische könnte an Bedeutung gewinnen, könnte sich abseits der ausgetretenen Pfade des Massengeschäfts – in den Handelsketten der Innenstädte und Amazon im Web – neu beleben. Denn es bleibt eine subversive Eigenschaft des Internets, dass Underdogs und kleine Player mit klugen Strategien und überschaubarem Budget durchaus erfolgreich sein können. Was in anderen Branchen gilt, gilt auch im Buchgeschäft.
Die Absage der Buchmesse in Leipzig zwingt die kleinen Verlage, sich eher regional zu orientieren: über spezielle Verkaufspartner im unabhängigen Buchhandel. Regionale Festivals oder thematische Veranstaltungen etwa zu Krimis oder Kinderbüchern werden die zentralen Messen ablösen. Das können gemischte Veranstaltungen sein, die virtuell und real zugleich stattfinden.
Zwei Seiten einer Schatzsuche
Attraktive Verkaufsfläche – die Domäne der großen Handelsketten – oder Lagerfläche – der Vorteil von Amazon – werden im kleinteiligen Geschäft unterhalb der Massenware an Bedeutung verlieren. Das ist die spannende Aufgabe für unabhängige Verlage und ihre Autoren: Die geneigte Leserschaft über das Internet und soziale Medien zu erkennen und zu erreichen.
Wer Bücher liest, sucht Schätze. Diese Schatzsuche hat zwei Seiten: Die Leserinnen und Leser, die immer hungrig auf gute Geschichten sind. Und die Autorinnen und Autorinnen, die ein offenes und ansprechbares Publikum suchen.
Dietrich Simon, der legendäre Verleger von Volk & Welt, hat einmal zu mir gesagt: „Ein gutes Buch findet immer seine Leser.“ Dieser Grundsatz gilt mehr denn je. Daran ändert die Absage der Leipziger Buchmesse 2021 kaum etwas.
Die Fotos zeigen den Messestand von H.S. Eglund auf der Leipziger Buchmesse 2018 mit den beiden Romanen Die Glöckner von Utopia und Zen Solar. Im Mai 2021 wird er seinen neuen Roman Nomaden von Laetoli präsentieren – beim virtuellen Lesefest.