
Reingeschaut: Aves – Vögel von Tom Krausz
Eindringliche Portraits der Kreatur: So schaut der Mensch in den Spiegel der Natur und denkt obendrein nach – angeregt von Elke Heidenreich und Urs Heinz Aerni. Aus dem stummen Dialog wird das beredte Dreiergespräch, bei dem alle Federn lassen – nur die tierischen Charakterköpfe nicht.
Opulent, sinnlich, wunderbar – so werden Bildbände umschrieben, wenn sie vor allem eines sind: langweilig. Coffee table books, die man auf den Glastisch legt, damit Gäste und Besucher ins Glotzen und Schwärmen kommen. Denn die Intelligenzia neigt zum Zweitbuch.
Beim Fotoband „Aves – Vögel“ von Tom Krausz wäre der Plapperplausch unter Nachbarn schnell zu Ende: Fesselnd springen die Charakterköpfe aus den Seiten, danach hakt sich das Auge an den beigestellten Texten fest.
Durchdringende Physiognomie des Federtiers – stechender Blick aus großen, scharfen Augen. Dagegen reihen sich die Buchstaben leicht und luftig zu Erklärungen, Anekdoten und Zitaten, als wollte sich der Vogel direkt ins Hinterstübchen schwingen.
Auf Augenhöhe – im stummen Dialog
Die Fotos von Tom Krausz sind weniger Tierfotos, wie wir sie von den Professoren Grzimek oder Dathe kennen. Auch mit Brehms Tierleben hat das Buch wenig zu tun, dem Urwälzer der Zoologie, der gelegentlich von Autorin Heidenreich zitiert wird.
Es geht auch anders: 65 Gesichter von Vögeln treten in den stummen Dialog mit der Leserschaft. „Auge in Auge“, wie Tom Krausz selbst schreibt, besser: auf Augenhöhe, wie ein prüfender Blick in den Spiegel.
Es ist des Menschen Eigenart, dass er das Tier mit eigenen Augen – und nach eigenem Maßstab betrachtet. Geier, Ralle und Elster sind vermutlich ähnlich gestrickt. Nur schießen sie keine Fotos und drucken keine Bücher. Die vollformatigen Portraits sind von hoher fotografischer Qualität und auf beruhigende Weise schwarzweiß. Das schärft strukturelle Details: Ansätze von Federn, Wassertropfen auf dem Schnabel, der Hautsack am Hals.
Aufregende Lebensformen, faszinierend bis in die kleinste Einzelheit: So laden die Fotos zum Verweilen ein, zur nachdenklichen Musterung des Gegenüber. Das nimmt Geschwindigkeit aus der Sache, erfordert Verweildauer. Dieses Buch ist keine schnelle Lektüre, kein schneller Augenschmaus – kein Buch für den Coffee table.
Eher verduzt als stolz
Erst recht nicht, wenn die Texte ins Spiel kommen. Vorangestellt ist der Essay von Professor Dietmar Schmidt zur Physiognomik, zur Betrachtung von Tier, Gattung und Wesen. Sicher wird ihn manche Leserin und mancher Leser als hilfreiche Einführung verstehen, sehr geistreich und gelehrt, ein bisschen Wissenschaft muss doch sein, oder?
Spannender sind die den einzelnen Charakterköpfen beigefügten Texte von Elke Heidenreich und Urs Aerni. Sie sprechen zum Tier, übers Tier und sein Gesicht, das uns gegenüber tritt. Diese Texte verraten viel über die Kreatur, und viel mehr über ihre Autoren. Beispiele gefällig?
„Schauen Sie ihm mal direkt in seine Augen. Wirkt er nicht eher verduzt als stolz?“ (Urs Aerni über den Weißkopfseeadler – Heliaeetus leucocephalus)
„Sie waren also dagestanden mit Hündchen und Begleitung und müssten dann gesagt haben: Wie kommt der hierher?“ (So reden und schreiben vogelkundige Schweizer über den Blaubussard – Geranoaetus melanoleucus)
„Der Name ist nicht schmeichelhaft. Aber dieser Vogel ist ein Idiot.“
„Und der Felsen leuchtet weiß: komplett vollgeschissen.“
„Und wissen Sie, wer immer in der Nähe von Basstölpeln lebt und wohnt? Die Trottellummen. Na, da sind ja die Richtigen zusammen …“ (Elke Heidenreich über den Basstölpel – Morus bassanus)
„Mitunter ist das ein Schimpfwort für eine, sagen wir, etwas verpeilte Makramélehrerin – diese olle Schleiereule. Das Schimpfwort sollte nicht mehr durchgehen! Die Schleiereule ist etwas viel Wunderbareres als eine, sagen wir, verpeilte Makramélehrerin!“ (Elke Heidenreich über die Schleiereule – Tyto alba)
„Wollen wir den hier im Vorzimmer haben?“ (Elke Heidenreich über den Sekretär – Sagittarius serpentarius)
„Wie klug er ist in seiner Zerstörungslust. Wie sehr er uns gleicht. Nur haben wir nicht so einen entzückenden Federkragen um den Hals, um dessen Muster ihn selbst Coco Chanel beneiden würde.“ (Elke Heidenreich über den Kea – Nestor notabilis)
Sei schön und flieg, flieg!
Wir wollen es dabei belassen. Wirklich spannend wird es, wenn Elke Heidenreich beim Riesentukan (Ramphastos toco) über den Traum vom Team sinniert und beim Helmhokko (Pauxi pauxi) an Hegel denkt.
Kenntnisreich in fremdem Metier dokumentiert sie den größten Auftritt eines Truthahns (Meleagris gallopavo) in der Filmgeschichte. Und beim Storchenvogel Nimmersatt (Mycteria ibis) beginnt die Erläuterung mit der gleichnamigen Raupe und endet: „Also Nimmersatt, du weißt, worauf es ankommt. Sei schön und flieg, flieg!“
Urs Aerni schlägt den kühnen Bogen von Rosa Löffler aus Zoznegg zum Rosalöffler (Platalea ajaja) und klingelt mitternachts seinen Verleger aus dem Bett, um für den Keulenhornvogel (Ceratogymna atrata) tausend Druckzeichen mehr aus der leidgeprüften Verlegerbrust zu pressen.
So geht das weiter, geht das fort, köstlich und lehrreich, ohne zu belehren, höchst unterhaltsam. Nur zwei Vögel kommen sehr kurz – zu kurz, wie ich finde: der Königsalbatross (Diomedeida epomophora) und der Marabu (Leptoptilos crumeniferus). Sie werden mit knappen Reimen von Baudelaire und sächsischer Mundart abgefrühstückt. Obgleich sie wie König und Schatzmeister sind.
Der Albatross ist der König der Stürme
Der Albatros trotzt wie kein anderer den schwersten Stürmen auf See. Er war der Leitvogel der Skipper, wenn die Windjammer vom Kurs abkamen und das Land außer Sicht. Selbst beim stärksten Orkan steigt der Albatross hoch in die Lüfte und segelt mit seinen ausladenden Schwingen auf den Wolken. Wo er schwebt, ist rettendes Ufer nicht fern!
Der englische Dichter Samuel Coleridge – ein Zeitgenosse Goethes – widmete ihm seinen berühmten Rime of the Ancient Mariner, der hier nachgetragen werden soll:
„The ice was here, the ice was there,
The ice was all around:
It cracked and crowled, and roared and howled,
Like noises in a swound!
At length did cross an Albatross,
Thorough the fog it came;
As if it had been a Christian soul,
We hailed it in God‘s name.
It ate the food it ne‘er hat eat,
And round and round it flew.
The ice did split with a thunder-fit;
The helmsman steered us through!“
Marabus: die Buchhalter der Wildnis
Und die Marabus, die steif und hochbeinig durch die Savanne staken, sind die Schatzmeister der grasigen Meere – der Serengeti und der Mara in Ostafrika. Zu ihrer Ehrenrettung sei aus dem Roman Nomaden von Laetoli zitiert, der im Frühjahr 2021 erscheinen wird:
„Buchhalter der Wildnis: Wenn sich die Sonne in der Frühe langsam über der Serengeti ankündigt und zartes Licht auf die Akazien wirft, lüften die Marabus in den Kronen ihre riesigen Schwingen und stoßen wie kalte Engel herab, um nach frischen Kadavern zu suchen. Morgens ist die Luft klar und kühl und man kann weiter sehen als zu jeder anderen Stunde des Tages. Lautlos streichen die Riesenvögel über das flache Land. Haben sie ein Opfer gefunden, versammeln sie sich und kreisen höher, bis zu dreißig oder vierzig schwarze Schatten tanzen vor den Wolken. Die Nacht gehörte den Löwen, den Leoparden, den Hyänen und den wilden Hunden, die im Schutz der Dunkelheit ihr grausames Geschäft verrichten. Mit dem ersten Licht beginnt die Inventur und es ist, als schrieben die Marabus die Bilanz der nächtlichen Jagd in den jungfräulichen Himmel.“
Unsere Empfehlung lautet also:
Tom Krausz (Fotografien)
mit Texten von Elke Heidenreich und Urs Heinz Aerni:
Aves | Vögel
Charakterköpfe
Dölling und Galitz Verlag, 2020
176 S., 90 Duplexabbildungen
Hardcover mit Fadenheftung und Lesebändchen
Format 19,5 x 25,5 cm
ISBN 10: 3-86218-133-2
ISBN 13: 978-3-86218-133-9
Preis: 32 Euro