Neu gesehen: Janis – Little girl blue
Vor 50 Jahren starb die begnadete Sängerin, die einer ganzen Generation ihre Stimme lieh. Ihr Leben auf der Bühne war ein Tanz auf der Nadel. Bevor es richtig losging, stürzte sie ab.
Genau fünfzig Jahre ist es her, dass Janis Joplin an einer Überdosis Heroin starb, in ihrem Hotel in Los Angeles. Ein Zufall, ein Unfall – der Fall von der Nadel? Vermutlich, denn gerade hatte sie das neue Album Pearl eingesungen, mit neuer Band. Sie schöpfte neue Hoffung, und eigentlich stand sie am Beginn einer großartigen Karriere.
Janis Joplin gehört zum Club 27. Das ist die sarkastische Schublade für die jungen Wilden der Rockgeschichte, die im Alter von 27 Jahren – meist drogenbedingt – aus der Welt gingen: Janis Joplin, Jimmy Hendrix, Amy Winehouse, Kurt Cobain oder Jim Morrison. Waren sie so früh verbraucht, aufgeraucht, am Ende ihrer Kräfte?
Kunst ist die Alternative zum Irrenhaus
Kunst ist die Alternative zum Irrenhaus, ist die Flucht aus dem unerträglichen Da-Sein, in das der Mensch hineingeboren wird. Echte Künstler kommen unter innerem Schmerz in die Welt, und bei Janis Joplin war es nicht anders. 1943, mitten im Krieg, ist ihre Heimatstadt Port Arthur ein großer Ölhafen in Texas.
Dort rauchen die Raffinerien, bleinerner Dunst liegt über Lake Sabine, der die Industriestadt mit dem Golf von Mexico verbindet. Ihr Vater ist Manager bei Texaco. Die Mutter hat ein Gesangsstudium aufgegeben, um sich den drei Kindern zu widmen. Sie arbeitet im Büro, ganz die texanische Mittelklasse. In der Dokumentation Janis – Little girl blue von Amy Berg findet sich das bezeichnende Zitat eines Schulfreundes:
Frauen sollten nicht fluchen, sie sollten sittsam sein, und sie sollten nicht wissen, das es unterhalb ihrer Gürtellinie etwas gab.
Die kleine Janis passt so gar nicht ins Schema. Sie fliegt aus dem Schulchor, weil sie sich nicht einfügen will – oder kann. Sie ist pickelig, sie ist aufbrausend, und sie weigert sich, Nigger zu hassen. Die Folge sind Mobbing und Ausgrenzung, bis die junge Frau nach Austin flüchtet, um durch Bars und Cafés zu tingeln.
Der schwarze Blues hat es ihr angetan, der voll Sehnsucht und Trauer steckt, sie entdeckt ihre Stimme, die ungeschliffen aber kraftvoll ist. Odetta oder Otis Redding werden ihre Vorbilder, ebenso Bob Dylan, damals – 1960 – noch ziemlich unbekannt. Wieder wird sie zum Opfer: Die Studenten des College in Austin wählen sie zum „hässlichsten Mann“, neue Verletzung lassen die alten aus Port Arthur nicht heilen.
Unsicher und tief verletzt
In der Dokumentation, ziemlich am Ende, sieht man Janis Joplin auf einem Klassentreffen ihrer Highschool zehn Jahre nach dem Abschluss. Als Musikerin steht sie bereits im Rampenlicht, ist Interviews und Scheinwerfer eigentlich gewöhnt. Doch im Kreise ihrer ehemaligen Mitschüler wirkt sie plötzlich unsicher und tief verletzt, fällt in die Rolle der Außenseiterin zurück, die sie einst war. Das hat immer an ihr genagt, ebenso der Druck der Eltern, die sie lieber vor einer sittsamen Klasse als Lehrerin gesehen hätten, als auf der Bühne.
1963 war das Jahr, in dem Janis Joplin aus Austin nach San Francisco floh. Dort bildete sich gerade ein kreativer Hotspot, ein völlig neues Gefühl von Freiheit mit einer sehr lebendigen Musikszene. Ein bißchen war es wie Anfang der 1990er Jahre, als frustrierte und gelangweilte Jugendlichen aus Bayern und Baden-Württemberg nach Berlin strömten, weil sie mit dem Lebenskonzept ihrer Eltern – schaffe, sei brav, zahl deine Steuern! – nichts anfangen konnten.
Viel Talent, wenig Geld
Zwei Unterschiede zu Janis Joplin gab es freilich: Sie hatte echtes Talent, und sie hatte kein Geld in der Tasche. So war ihr der wirkliche Bruch mit der Ödnis der Mittelklasse möglich, konnte sie alles zurücklassen. Das ging freilich nicht ohne innere Wunden ab: Es war das ungeschützte Leben ohne Bankdepot und Versicherung.
Später bekannte sie: „Ich singe, weil ich dabei viele Gefühle habe.“ Sie sang, weil sie Mut machen wollte – zuerst sich selbst. In ihrem Innern war sie verletzlich und unsicher, das trieb sie zu Meth und Heroin. Nicht, um sich für die Bühne fit zu machen. Sondern um die Leere danach zu bewältigen, die schwierige Phase, vom emotionalen Höhenflug eines Gigs möglichst weich zu landen.
Kein Bock auf College
Ihr Leben lang hat Janis Joplin nach Halt gesucht. Nicht nach der ordnenden Leitplanke einer geregelten Arbeit, einer geregelten Familie, eines geregelten Hobbys. Sie brauchte Luft zum Leben und Menschen, die sie (aus)hielten. Nicht im finanziellen Sinne, sondern als Gleichgesinnte. Als Musiker, Texter und Produzenten, als Freunde und Lover.
Sie verweigerte das College, auch während eines kurzen Intermezzos in Port Arthur. Sie kehrt zur Familie zurück, um sich auszunüchtern, um clean zu werden. Doch sie bleibt die Außenseiterin. „Es tut mir leid, das schwarze Schaf zu sein“, schreibt sie später an ihre Familie.
Liebe – der Gegenentwurf zur Prüderie
Ihre emotionale Ehrlichkeit treibt sie aufs Neue von Texas weg. 1966 flieht sie wieder nach San Francisco und findet in Big Brother eine Band, in der sie sich aufgehoben fühlt. In der sie ihr Talent entfalten kann. Tatsächlich ist sie clean, sie liebt Frauen und Männer – laut und selbstverständlich. Was für ein Gegensatz zur Prüderie von Texas, zur Prüderie der amerikanischen Gesellschaft überhaupt, zur Prüderie auf der ganzen Welt!
In Monterey in Kalifornien findet im Juni 1967 ein Festival statt, das Janis Joplin und ihre Kapelle auf einen Schlag berühmt macht. Ihre kräftige, ungezähmte Stimme und die tiefen Gefühle, die ihre Lieder in die Herzen und Leiber der Leute bringen, sprechen einer ganzen Generation aus der Seele. Weil ihr Auftritt gefilmt wird, gehen die Bilder durch die Staaten, und über Amerika hinaus. Doch mit der Popularität kommt der Kommerz, mit dem Geld kommt der Zwang zum Erfolg.
Warum ist die Liebe wie Kugel und Kette?
(Ball and Chain)
Endlich wird sie als Sängerin ernst genommen, steht nicht länger am Zaun. Der Großverleih Columbia bietet ihr einen Plattenvertrag an, 1968 folgt die erste Goldene Schallplatte. Um im Musikgeschäft erfolgreich zu sein, finanziell erfolgreich zu sein, genügt Talent nicht. Vertriebsmacht ist genauso entscheidend wie in jeder anderen Industrie, und Columbia bot ihr diese Macht an. Fortan pendelt sie zwischen Manhattan und Hollywood, lebt in Hotels und auf den Bühnen.
Du wirst, Honey, deine Flügel ausbreiten und in den Himmel fliegen
(Summertime)
Los Angeles statt San Francisco, ist wie der Wechsel von Berlin nach München oder Hamburg: Besser fürs Geschäft, aber unzureichend für die Seele. Janis Joplin verlässt 1969 die Band Big Brother, damit verliert sie Halt und Heimat. Die neue Truppe Kozmic Blues Band wird von Managern zusammengestellt. Sie wollen Joplin zur Ikone aufbauen, zum Goldesel, der Dukaten scheißt – und sich dabei aufreibt.
Eine Konzerttournee führt sie nach Frankfurt am Main, Stockholm und in die Royal Albert Hall nach London. Ihre Energie reißt die Leute von den Stühlen, sie tanzen in den Gängen und auf der Bühne. Das gab es in der Alberthalle noch nie. Doch während immer mehr Fans kreischen, wird die Leere in ihrem Innern immer größer.
Der übliche Schuss Heroin danach
Janis Joplin ist ausgepumpt und erschöpft, sie findet sich selbst nicht mehr wieder, ist ruhelos und unzufrieden. Wieder sollen Alkohol und Drogen die Wogen glätten. Heroin wird der übliche Schuss, der sie nach einem Konzert runterholt. Langsam, ganz langsam, läuft die Sache aus dem Ruder.
Im August 1969 sind Janis Joplin und Kozmic Blues Band beim Festival in Woodstock dabei. Weil alle Zufahrtsstraßen von den Autokolonnen der Fans blockiert sind, schwebt sie mit dem Helikopter ein. Als sie auf die Bühne soll, ist sie vollgepumpt mit Drogen. Ihre Bandkollegen schieben sie nach vorn, und halb im Delirium legt sie einen sensationellen Auftritt hin. Der Preis: Sie gerät an die Grenze ihrer seelischen und physischen Kraft. Als sich kurz darauf die Band auflöst, gerät ihr Konsum von Alkohol und Heroin zum Dauerexzess.
Neuer Fluchtpunkt: Rio de Janeiro
Wieder eine Flucht, dieses Mal nach Rio de Janeiro und den Norden Brasiliens. Sie trampt, um clean zu werden. Dort trifft sie David, vermutlich die Liebe ihres Lebens. Der Weltenbummler, der eigentlich nach Afrika weiterziehen will, hilft ihr beim Entzug. Er hält sie, im sprichwörtlichen Sinne, wenn sie nachts von Krämpfen geschüttelt wird, weil der Körper seine gewohnte Dosis nicht bekommt.
Zusammen kehren sie nach Kalifornien zurück. Doch der Druck des Musikgeschäfts ist enorm, schon bald tanzt die Prinzessin wieder auf der Nadel. David verlässt sie, weil die Drogen stärker sind als die Liebe.
Man ist doch alles, womit man sich zufrieden gibt
(Janis Joplin)
1970: neues jahr, neue Band. Janis Joplin arbeitet an einer neuen Platte: Pearl. A capella spielt sie den Song Mercedes Benz ein. Und von Kris Kristofferson – damals noch ein ziemlich unbekannter Songwriter – bekommt sie Me and Bobby McGee:
Freedom is just another word for nothing left to loose.
(Me and Bobby McGee)
Als sie am 4. Oktober 1970 aus dem Studio kommt, ist die Platte beinahe fertig. Vielleicht, heißt es in einem ihrer Songs: maybe, maybe, maybe. Vielleicht wollte sie sich einfach einen schönen Trip gönnen, wie mancher nach der Schicht zum Bier greift. Vielleicht hatte sie zu viel Alkohol intus, um Heroin zu vertragen. Vielleicht war sie sehr einsam, und hilflos und leer, denn niemand steht so nah am Rand der Klippe wie ein Künstler, ohne Netz und doppelten Boden.
Fest steht: Vorsatz war es nicht. Gerade – mit der neuen Band und der neuen Platte – hatte Janis Joplin neue Hoffnung geschöpft. Nicht unbegründet: Drei Monate nach ihrem Tod kam Pearl auf den Markt, vier Millionen Platten wurden verkauft. Me and Bobby McGee wurde zur Hymne. Noch heute jagt ihre Stimme dem Hörer eine Gänsehaut über den Rücken.
Das Telegramm aus Kathmandu
Vielleicht wollte Janis Joplin nur fort, weit fort. Zu einem Menschen wie David. Zwischenzeitlich war der Globetrotter in Kathmandu gestrandet, am Fuße des Himalaya. Am Morgen nach ihrem Tod fand man an der Rezeption sein Telegramm, es war ungeöffnet:
Ich vermisse dich wirklich. Es ist ist nicht dasselbe, wenn man allein ist. Ein Treffen in Kathmandu geht immer, aber Ende Oktober ist die beste Zeit. Ich liebe dich, Mama. Mehr als du weißt.
JANIS – Little girl blue
Dokumentation, ca. 99 Minuten
Arsenal Filmverleih/good!movies
Regie: Amy J. Berg
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