Oster-Tipp: Bad Dürrenberg und Geiseltal
Sachsen-Anhalt ist beinahe wie ein Dschungelcamp, hier kann man gut die Einheimischen studieren. Ein Besuch lohnt sich: Weil die vergangene Größe als Industrierevier und zaghafte Zukunft im Tourismus eng beieinander liegen.
Autobahnausfahrt auf der A9, südlich kurz vor Leipzig. Wer dort abbiegt, gelangt in den Osten. In den tiefen, echten Osten, wie er östlicher kaum sein kann. Das Land zwischen den chemischen Werken von Leuna und Buna (Schkopau) ist flach wie ein Teller und gezeichnet von Jahrhunderten des Abbaus von Kohle, von großflächigen Schlägen für die Zuckerrübe, von einer Vergangenheit als industrieller Kern, der in der I.G. Farben gipfelte.
Industriekern der I.G. Farben
Hier wurden Ammniak und Benzin synthetisiert, Buna produzierte künstliches Gummi für Hitlers Wehrmacht, später für die holpernden Räder der DDR-Wirtschaft. Nach dem Krieg blieben Chemie und Kohle die dominierenden Zweige. Zigtausende strömten zur Schicht in die chemischen Fabriken, deren Gestank bis nach Leipzig wehte. In den Tagebauen im Geiseltal röhrten gigantische Bagger, hier hatte der Prolet noch ordentlich Dreck unter den Nägeln.
In der DDR bekam die Region Sonderration, das war man Kumpeln und Chemikern schuldig – bis der Traum platzte, und das Ausmaß des Desasters offenkundig wurde. Beide, Leuna wie Buna, waren zur Wende vor dreißg Jahren teure Sanierungsfälle, Jahrzehnte lang nichts investiert, lief ätzende Suppe aus den Rohren auf den Boden, ins Grundwasser und in die Flüsse.
Schluss mit der Schluderei
Der Westen machte Schluss damit. Die chemischen Werke gibt es zwar immer noch, doch da tropft nix mehr, solcherart Schluderei leistet sich kein Kapitalist. Wo früher Menschenmassen durch die Werkstore drängten, ist die Belegschaft heute auf einen Bruchteil geschrumpft. Statt Dreck unter den Nägeln trägt der Anlagenfahrer heutzutage weiße Kittel und Glacehandschuhe. Und in den Tagebauen fuhr die letzte Schicht im Sommer 1993 ein. Nun ruht still der See.
All diese Brüche sind gut sichtbar, und das macht diese Gegend durchaus interessant. Die Sehnsucht nach den Hitlers und Honeckers ist den Leuten ins Blut geschrieben, denn damals galt man was. Das hat mit Faschismus oder Stalinismus erstmal wenig zu tun, so weit dachten und denken die Leute nicht. Das war und ist vielmehr der Stolz des sogenannten Kleinen Mannes, der buddeln und schrauben und chemische Ingredenzien kochen durfte.
Der nicht erkannte, dass seine Arbeit dem Krieg nützte (unter Hitler) und die Umwelt auf katastrophale Weise zerstörte (unter Hitler und Honecker). Dass sich der Prolet auf Kosten seiner eigenen Kinder in die Tasche log: mit Eigenheim oder Neubauwohnung, mit Bergarbeiterversorgung und Schichtzulage. Mit dem qualmenden, knatternden Trabi vorm Tor.
Man war versorgt und wurde offiziös gebauchpinselt: Den Herren war noch jede Losung recht, damit sich die Proleten auf die Schulter klopfen und keinen eigenen Kopf machen. Der lächerliche Stolz auf die vergangenen Dreckschleudern ist den Leuten bis heute nicht auszutreiben – das gilt überall, auch fürs Ruhrgebiet oder die Kumpel am Rhein. Und bis heute gaukeln Wirtschaftspolitiker ihren Leuten vor, dass die guten alten Zeiten wiederkommen – irgendwann.
Der Prolet tritt von der Bühne
Aber das Zeitalter des tumben Proleten kommt nicht zurück, nie wieder wird es solche gigantischen Chemiefabriken oder Tagebaue geben wie einst. Das Zeitalter von Kohle, Stahl, Benzin und Gummi tritt ab, weil sich die Arbeitswelt verändert.
So ist Bad Dürrenberg, einst ein schmuckes, reiches Industriestädtchen, faktisch ausgestorben. Kaum ein Ort, der auf den ersten Blick so leer und langweilig wirkt. Und dennoch so viele versteckte Juwelen offenbart. Denn die Uhren drehen sich weiter . Die Menschen arrangieren sich mit den neuen Bedinungen – was bleibt ihnen anderes übrig? Wo früher Dreck, Qualm und Säure herrschten, kommen nun Touristen. Zumindest einige. Aber immerhin: immer mehr.
Eine alte Saline an der Saale
Besonders spektakulär ist die alte Saline direkt am Ufer der Saale mit dem beeindruckenden Gradierwerk. Zwölf Meter hoch sind die Reisigwände, durch die langsam salziges Wasser rieselt, dass mächtige Pumpen aus der Erde fördern. Dabei reichert sich die Sole an, weil das Wasser auf seinem Weg nach unten verdunstet.
Die restaurierten Wände des Gradierwerks summieren sich auf 636 Meter, früher war das Bauwerk dreimal so lang. Das Mikroklima ist fantastisch: Selbst an heißen Sommertagen wirken die Salzreiser kühlend und entstauben die Luft – beinahe wie an der See. Zudem bietet sich dem interessierten Besucher ein besonderes Baudenkmal, denn die Anlage wurde sehr nah am historischen Original aus dem 19. Jahrhundert restauriert.
Der größte künstliche See Deutschlands
Im Sommer 1993 wurde im unweit gelegenen Tagebau Geiseltal die letzte Braunkohle gefördert, dann war Schicht imRevier. Seit 1700 ist der Abbau von Kohle urkundlich verbürgt, seit 1905 im großtechnischen Maßstab. Die gigantische Grube reicht fast achtzig Meter tief. Insgesamt wurden hier 1,4 Milliarden Tonnen Braunkohle aus der Erde geholt – für Kraftwerke, für die Zuckerfabriken in der Umgebung und für die chemische Industrie.
Zwischen 2003 und 2011 wurde der Tagebau mit dem Wasser der Saale geflutet. Auf diese Weise entstand der größte künstliche See Deutschlands (19 Quadratkilometer Fläche), einer der zehn wasserreichsten Seen zwischen Küste und Alpen. Freilich sind Ufer und Umland noch stark von der industriellen Vergangenenheit gezeichnet. Das ist keine intakte Natur, das wird noch Jahrhunderte dauern.
Doch langsam heilen die Wunden, die das Zeitalter der Industrie geschlagen hat. Dieser Prozess wird noch sehr lange dauern, denn die wirkliche Renaturierung der Restlöcher des Kohlebergbaus ist faktisch unmöglich. Die Abraumhalden bieten keinen Mutterboden, das ökologische Gleichgewicht aus Millionen Jahren wurde innerhalb weniger Jahrzehnte zerstört. Doch interessant zu sehen, wie sich die Natur den See und weiteren Seen in seiner Nähe und seine Ufer zurückholt – auf neue Weise.
Sehr freundliche Leute, dort
Und vor allem: Die Leute sind sehr freundlich, sowohl als Gastgeber von Unterkünften mit gewissem DDR-Charme, als auch in den Restaurants an der Uferpromenade des Geiseltalsees. Ostalgie mag es geben, aber sie drängt sich nicht auf.
So wie die Natur durch die Industrie zerrissen wurde, lebten auch die Kumpel und Proleten der gigantischen Tagebaue und Fabriken in innerer Zerrissenheit. Der Dreck, die Schichten, fehlendes Licht und frische Luft, Abgase und Lärm setzten den Menschen zu, von Havarien und Unfällen ganz zu schweigen.
Nun herrschen Stille, und Wasser und Grün. Man hat den Eindruck, dass die Narben der Industriegesellschaft langsam auch in den Einheimischen verheilen. Vielleicht ist der Stolz auf das, was da früher war, sogar hilfreich, tiefenpsychologisch betrachtet. Denn die Bagger und Schlote kehren nicht zurück, das ist bleiche Romantik ohne Zukunftsvision. Wer nach vorne blicken will, braucht Hinterland.
In dieser Weltecke im Herzen Deutschlands wird der Wandel deutlich sichtbar. Die Menschen, die dort geblieben sind und ihren Alltag haben, machen das Beste draus. An der Autobahn A9, rechts und links, drehen sich gewaltige Windparks. So steht Altes neben Neuem, gehen Vergangenheit und Zukunft ineinander über. Für den Besucher: sehr, sehr spannend.