Olga & Olga: Am Rand der Welt
Ein Dokumentarfilm erzählt vom schwierigen Leben auf dem Baltikum, an der Grenze zu Russland. Korrekturen kennt die Geschichte nicht, nur die Hoffnung auf einen neuen Anfang. Ein Bericht aus der Nordzone der EU.
Die Narwa trennt zwei Welten: Das westliche Ufer gehört zu Estland und somit zur EU. Am östlichen Ufer liegt Russland. Die gleichnamige Stadt – früher über den Fluss hinweg vereint – ist heute zerrissen. Denn Russen und Esten tun sich schwer, Gemeinsamkeiten zu finden. Neu zu finden, nach so langer gemeinsamer Geschichte.
Zwei Autostunden bis Sankt Petersburg
Weit oben in Norden, nördlich des Peipussees, fließt die Narwa in die Ostsee, beinahe dort, wo sich der Finnische Meerbusen zur Mündung der Newa verjüngt. Knapp 160 Kilometer sind es über Land bis St. Petersburg, Europas Tor nach Russland – zwei Stunden mit dem Auto. Zum Vergleich: Bis nach Moskau sind es rund 850 Kilometer.
Historisch gehörte die ganze nördliche Region viele Jahrzehnte zusammen – unter der Herrschaft der roten Zaren. Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion ist Estland als unabhängiger Staat neu erstanden, wie auch Litauen und Lettland, wie Weißrussland oder die Ukraine.
Zwei Frauen am Ufer
Ethische Spannungen und wirtschaftliche Umbrüche haben die vergangenen drei Jahrzehnte geprägt. In ihrem Dokumentarfilm „Olga & Olga“ erzählt die französische Filmemacherin Eleonore de Montesquiou von zwei Frauen, die an den Ufern der Narwa leben. Die immer hier gelebt haben, schon unter Chrustschow und Breschnew, die hier Kinder großgezogen und den Alltag bewältigt haben – immer mit Arbeit, viel viel Arbeit; und Liebe, wenig, sehr wenig Liebe.
Der Film kommt schwarzweiß daher, das schärft den Blick für Details. Seine Bilder sind ruhig wie der Lauf des Flusses, an dessen jenseitigen Ufer die alte Festung thront, Bollwerk gegen den Deutschen Orden. Bekannt ist Sergej Eisensteins Verfilmung der Schlacht auf dem Eis, als Alexander Newski im 13. Jahrhundert die teutonischen Ritter in ihre Schranken wies.
Danach geriet das Baltikum zunehmend unter Russlands Einfluss. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Bürgerkrieg in Russland blieb es weitgehend unabhängig. Erst 1940, als die Rote Armee gemäß Stalins Pakt mit Hitler vorrückte, wurden Estland, Litauen und Lettland als sowjetische Republiken einverleibt.
Dokumentation aus dem Zonenrandgebiet
Keine harten, schnellen Schnitte, denn gut erzählte Geschichten brauchen ihre Zeit. Die Kamera verweilt: im Ufergras, auf den herben Gesichtern der Frauen, auf Zigaretten und Aschenbechern, auf dem träge ziehenden Strom.
So öffnet sich das Ohr für die Gespräche der beiden Freundinnen mit der Chronistin, für die feine Ironie, wenn sie über vergangene Zeiten sprechen und vergangene Männer, über vergangene Jahre und Hoffnungen.
Es ist eine Dokumentation aus der Randzone der früheren Sowjetunion, die heute die Randzone der Europäischen Union ist – damals beinahe vergessen, heute fast unentdeckt. Wurden die Menschen des Baltikums einst zwischen den Fronten des Kalten Krieges zerrieben – Estland gehört kulturell und sprachlich mehr zu Finnland als zu Russland, so überschattet der Konflikt zwischen der EU und Moskau heute die Familien auf beiden Seiten des Flusses. Die alten Brücken sind dicht. Wer in den russischen Teil fahren will, braucht ein Visum.
Jenseits von Politik und Grenzen
Die junge Generation, die unter den neuen Verhältnissen aufgewachsen ist, hat keine Stimme in diesem Film. Es geht nur um die beiden Frauen, die sich sprichwörtlich über Wasser halten und dennoch den Mut nicht verlieren. Es ist ein Film über das Leben jenseits von Politik und Staatsgrenzen, jenseits von sprachlichen oder wirtschaftlichen Barrieren.
Es ist ein Film, der das Menschliche nach vorne stellt, die Optik scharf auf die Gesichter zieht: Lachen, Enttäuschung, Sorgen, Witz. Nach dem Zusammenbruch der Ideologien bleibt das rein Menschliche übrig, hat Bestand – im Leben der Menschen dort, in ihrer Geschichte und im Alltag.
Der Film lässt ahnen: Diese Grenze zu überwinden, wird möglich sein, wenn Kategorien wie Esten oder Russen, wie Europäer oder Russen keine Rolle mehr spielen. Denn selbstverständlich gehören die Russen hinter der Narwa genauso zu Europa, zur Welt, wie Esten, Deutsche oder Franzosen.
Die Familien haben sich im Laufe der Jahrhunderte ohnehin gemischt, sind Spiegel der Geschichte und ihrer Geschichten. So lösen sich Trennlinien auf, es bleibt die artifizielle politische Naht, verteidigt von obskuren Interessengruppen in Tallin, Brüssel und Moskau.
Wer diesen Film sieht, ahnt auch: Es wird noch viel Wasser aus dem Peipussee durch die Narwa fließen, bevor diese letzte Grenze aus Europa verschwindet.
Unser Tipp: OLGA & OLGA
Ein Film von Eleonore de Montesquiou.
Zum kompletten Dokumentarfilm. (Passwort: narva)