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H. S. Eglund

Schriftsteller • Writer • Publizist

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© H.S. Eglund
  • Blick aufs Haff von der Terrasse. © H.S. Eglund
  • Schautafel am Weg zum Sommerhaus. © H.S. Eglund
  • Ochsenblut und Niddener Blau. © H.S. Eglund
  • Pegasus überm First. © H.S. Eglund
  • In der Ausstellung wird die Familie Mann thematisiert. © H.S. Eglund
  • Die Räume sind didaktisch klug gegliedert. © H.S. Eglund
  • Fotos und digitale Elemente wechseln sich ab. © H.S. Eglund
  • Die Familie Mann brachte einige bekannte Namen hervor. © H.S. Eglund
  • Holt längst vergangene Zeiten herauf: Ausstellung im Innern des Domizils. © H.S. Eglund
  • Vom Haus führt eine Terrasse zum Park, der das Haff überblickt. © H.S. Eglund
  • Hier kann man die Welt vergessen, durchaus. © H.S. Eglund
  • Der spröde Charme des Baltikums. © H.S. Eglund
Mittwoch, 11. Januar 2023

Ein Hauch von Ewigkeit: Thomas Mann in Nida

Das frühere Ferienhaus des Schriftstellers befindet sich auf der Kurischen Nehrung. Den Nazis diente es als Jagdhütte und Lazarett. Die Besetzung durch die Sowjets überstand es knapp. Heute birgt es ein feines Kulturzentrum – und wird erstaunlich gut besucht.

Magische Landschaft: Im Jahr 1929 Jahre war Thomas Mann nach Königsberg gereist, denn der arrivierte Autor suchte Abstand. Abstand zu den krisengeschüttelten Metropolen seines Heimatlandes.

Hinter ihm lagen der Erste Weltkrieg und ein düsteres Jahrzehnt von Revolution, Putsch und Weltwirtschaftskrise. Deutschland war in Aufruhr, nirgends kam er zur Ruhe.

Spröde, karge Landschaft

Von Königsberg reiste Mann mit seiner Familie nach Rauschen weiter, einem mondänen Badeort an der Ostsee. Die spröde, karge Landschaft des Baltikums faszinierte ihn. Bei einem Ausflug auf die Kurische Nehrung schien der Ort gefunden, der Stille und Abgeschiedenheit versprach: Nidden, damals zu Litauen gehörig.

Am Ende der Welt

In Nidden, heute Nida, ließ Thomas Mann ein Sommerhaus errichten, am bewaldeten Hang einer hohen Düne. Von dort hatte er einen wunderbaren Ausblick auf das Kurische Haff: Vor sich das Haff, hinter sich die Ostsee. Die Nehrung ist recht schmal, an manchen Stellen nur einige hundert Meter breit. Sie macht das brackige Haff zum Binnenmeer.

Wer heute auf die Nehrung fahren will, muss in Kleipeda die Fähre benutzen. Seit die Hafeneinfahrt ausgebaggert und verbreitert wurde, ist die Nehrung faktisch eine langgezogene Insel.

Ihr südliches Ende ist versperrt, denn dieser Teil der sandigen Dünenbank gehört zur russischen Exklave von Kaliningrad, früher Königsberg. Normalerweise rege von Tagestouristen frequentiert, ist der Grenzübergang seit Februar 2022 verwaist. Russland hat den Grenzverkehr dichtgemacht, hier ist die Welt zu Ende.

Nötiges Kleingeld durch den Nobelpreis

Das Grundstück erlaubt den nahezu unbegrenzten Blick auf das Kurische Haff, das die Nehrung vom Festland trennt. Es liegt still, irgendwie verschlafen, man möchte sagen: zeitlos. Das nötige Kleingeld für den Bau der geräumigen Sommerkate floss im Dezember 1929: Für seinen Roman Buddenbrooks erhielt Thomas Mann den Nobelpreis für Literatur.

Joseph und seine Brüder

Von 1930 bis zur Emigration im Jahr 1933 verbrachte die Manns in Nidden ihre Sommerferien. Während der Aufenthalte entstanden Artikel und Briefe, schrieb der Meister an Joseph und seine Brüder, seinem Opus Magnus.

Zwischen 1933 und 1943 erschienen insgesamt vier Bände. Zwei wurden im Ausland geschrieben, ebenso im Ausland publiziert. Denn Thomas Mann stand – wie Klaus Mann und Heinrich Mann – auf der Schwarzen Liste der Nazis. Als die Braunhemden an die Macht kommen, flieht er mit seiner Frau Katja und den Kindern in die Schweiz, kurzzeitig nach Frankreich, später in die USA.

Onkel Toms Hütte an der Ostsee

Die Einheimischen bezeichneten das Anwesen des bekannten Dichters als Onkel Toms Hütte, in Anspielung auf den Roman von Harriet Beecher Stowe. Das Seebad Nidden bekam durch die Anwesenheit der Familie Mann eine kostenlose Werbung, wurde zum Mekka der Literaturszene.

Die Nazis erreichen Nidden

Im Sommer 1932 war die Idylle zu Ende. Die Nazis bedrohten Thomas Mann, schickten ihm ein angekohltes Exemplar der Buddenbrooks ins Feriendomizil. Weder der Schriftsteller, noch seine Familie kehrten später nach Nida zurück.

Im Jahr 1939 wurde das einstige Memelland, das nach dem Ersten Weltkrieg an Litauen gefallen war, von der Wehrmacht besetzt. Hermann Göring beschlagnahmte das Haus und nutzte es als Jagdhaus Elchwald.

Unterkunft für deutsche und sowjetische Soldaten

Im Zweiten Weltkrieg wurden verwundete Offiziere der Luftwaffe einquartiert, zur Rekonvaleszenz. Als die Rote Armee vorrückte, platzte eine Granate auf dem Grundstück, das hölzerne Gebäude blieb als Ruine zurück.

In den ersten Jahren nach dem Krieg diente das stark beschädigte Haus als Unterkunft für sowjetische Soldaten. Türen und Fenster wurden zu Brennholz gemacht, die Einrichtung der Räume gleichfalls verbrannt. 1954 stellten es die Sowjets als Kriegsruine auf Abriss.

Renovierung im Todesjahr

Allerdings wurde im Jahr darauf bekannt, wer der frühere Hausherr gewesen war. Im August 1955 war Thomas Mann in der Schweiz verstorben. Es folgte eine erste Renovierung, um das Haus zum Wohnheim für russische Fachkräfte umzubauen.

Kurz vor Manns Tod war ihm der litauische Schriftsteller Antanas Venclova in Weimar begegnet. Venclova regte 1967 an, im Haus eine Zweigstelle der Stadtbibliothek von Klaipeda unterzubringen. Zugleich entstand eine Gedenkstätte für Thomas Mann, der in den Republiken der früheren Sowjetunion eine breite Leserschaft hatte.

Eine Spende aus Ostberlin

1975, anlässlich des hundertsten Geburtstags, spendete die Regierung in Ostberlin einige interessante Stücke für die Ausstellung. Ab 1987 wurde das Haus für westdeutsche Besucher geöffnet.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion Ende 1992 gingen Grundstück und Gebäude an den litauischen Staat über. Das Anwesen wurde aufwändig restauriert, wofür erhebliche Mittel aus Deutschland flossen.

40.000 Besucher im Jahr

Es entstand das heutige Kulturzentrum Thomas Mann (Tomo Manno). Darin wurden das Wohnzimmer, die Terrasse und der Arbeitsraum des Schrifstellers weitgehend wiederhergestellt.

Ein moderne und sehr ansprechende Ausstellung mit Tafeln, Fotos und digitalen Effekten rundet den Besuch ab. Immerhin: Jedes Jahr pilgern rund 40.000 Besucher auf die hohe Düne, streifen durch die Räume und den kleinen Park. Es ist eines der bestbesuchten Museen in Litauen.

Pegasus und Ochsenblut

Architektonisch lehnt sich das Haus an den Stil der kurischen Fischer an: Das Dach ist mit Reet eingedeckt. Den First krönen zwei sich kreuzende Pferdeköpfe, Symbol für Pegasus, das Ross der Dichter.

Der Anstrich trägt Ochsenblut als Farbe, typisch für das Baltikum und Skandinavien. Mit der rotbraunen Holzverkleidung kontrastieren blaue Fensterläden, Dachprofile und Balken am Giebel.

Das Blau des Haffs, das Blau der Fischer

Für Thomas Mann hatte das Niddener Blau eine spezielle Bedeutung. Bei einem Vortrag im Dezember 1931 in München erläuterte er:

Im Fischerdorf findet man an den Häusern vielfach ein besonders leuchtendes Blau, das für Zäune und Zierate benützt wird. Alle Häuser, auch das unsere, sind mit Stroh- und Schilfdächern gedeckt und haben am Giebel die heidnischen gekreuzten Pferdeköpfe.

Auf den Spuren des Großvaters

Enkel Frido Mann hat vor zehn Jahren ein interessantes Büchlein veröffentlicht: Mein Nidden. Auf der Kurischen Nehrung (erschienen im Mareverlag). Darin folgt er den Spuren seines Großvaters und erzählt die Geschichte der Kurischen Nehrung vom Deutschen Reich über die Sowjetherrschaft bis zum unabhängigen Litauen.

Unter anderem kommen Mitglieder der Familie zu Wort. Thomas Mann hatte seine Tagebücher aus der Zeit vor 1933 im Exil in Pacific Palisades (Kalifornien) größtenteils verbrannt.

Webseite des Vereins zur Förderung des Thomas-Mann-Hauses

Durch die Wüste mit Joseph und seinen Brüdern
(neu gelesen von H.S. Eglund)

Außerdem sehenswert in Litauen:
Saltojo: Die Geister aus der Unterwelt

Lesen Sie auch:
Coleridge: Aus Liebe zur Natur – aus Menschenliebe
Harriet Beecher Stowe: Großer Kampf einer kleinen Frau
Heinrich Böll: Wir kommen von weither
Stefan Heym – ein später Nachruf
Hemingway: Alter Mann ohne Meer

© H.S. Eglund
Mittwoch, 11. Januar 2023

Durch die Wüste mit Joseph und seinen Brüdern

Mit seinem Opus Magnus wollte Thomas Mann eine biblische Geschichte auf neue Weise bildhaft machen. Angeregt durch Goethe entstanden vier Bände. Ein Wälzer, der Durchhaltevermögen abverlangt. Im Kriechgang durch irdische Jammertal – bis zur zwiespältigen Offenbarung.

Im Lager der gutbürgerlichen Leserschaft steht Thomas Mann auf Augenhöhe mit dem Dichterfürsten. Goethes Faust gehört zur Pflichtlektüre an besseren Schulen, ebenso Manns Buddenbrooks. Das war im Westen so, das galt im Osten. Basta!

Der Kanon der deutschen Literatur: Deutschlehrer sehen sich als Gralshüter des kulturellen Erbes, das vorgestern beginnt und keine Gegenwart kennt. Im musealen Selbstverständnis dieser Berufsgruppe ist Literatur eine staubtrockene Angelegenheit. Je älter die Schwarte und weiter zurückreichend, desto besser.

Da muss man durch!

Da musst du durch, wenn du Abitur machen willst! Uns quälte vor vierzig Jahren eine zierliche Germanistin, die zugleich Russisch unterrichtete. Als ich Buddenbrooks aus der Hand legte, stand für mich fest: Nie wieder Thomas Mann, nie wieder diese Ödnis!

Weder Thema noch Stil hatten mich erreicht, geweckt, beseelt. Der didaktische Anspruch meiner Lehrerin prallte ab. Später bekam ich Tonio Kröger in die Hand, eine ausgetrocknete Novelle, die mein frühes Urteil verfestigte.

Fesselnd war das nicht

Lediglich Mario und der Zauberer vermochte mich stellenweise anzusprechen, wegen des Gleichnisses zum Faschismus. Wenn man es auf diese Weise lesen wollte, dieses Werk.

Denn blutarm und schwafelnd auch dies. Lange, endlose Schilderungen. Lange, endlose Schachtelsätze! Komm auf den Punkt, Mann! Fesselnd war das nicht.

Abkehr vom Autor

Manches braucht Jahre, und jegliches seine Zeit. Jugend kennt keine Ruhe. Deshalb scheitern Deutschlehrer:innen regelmäßig mit ihren Versuchen, die Jugend für Thomas Mann zu begeistern. Der Effekt ist gähnende Langeweile, die Abkehr junger Menschen vom Buch.

Oder vom Autor, wie in meinem Fall. Die zufällige Entdeckung im Reiseführer (keine App, ein Buch!) brachte mich im vergangenen Sommer nach Nida, auf die Kurische Nehrung. Überrascht stellte ich fest, dass es dort das Kulturzentrum Thomas Mann gibt. Und dass er dort an seinem Opus Magnus geschrieben hat: Joseph und seine Brüder.

Sofort machte es klick!

Thomas Mann in Nida? Ich war noch nie da! Sofort machte es klick: Joseph, der Sohn Jakobs, Genesis 37 – 50. Jeder ordentliche Atheist hat die Bibel gelesen, kennt ihren metaphorischen Schatz, weiß die Fülle der Figuren und Bilder zu schätzen. Der gottesfürchtige Jakob, der Zwist seiner Söhne, Aufbruch nach Ägypten, Josephs Dienst für den Pharao.

Goethe schrieb in Dichtung und Wahrheit:

Höchst anmutig ist diese natürliche Erzählung, nur erscheint sie zu kurz, und man fühlt sich berufen, sie ins einzelne auszumalen.

Wie kann man den Verfasser des Faust toppen? Wie kann man Faust toppen? Nur auf diese Weise! Nach einer Reise durch Palästina begann Thomas Mann 1926 mit dem ersten Band der Tetralogie.

Mein Interesse war geweckt, zumal die Werksgeschichte einer Odyssee gleicht. Innerhalb von 16 Jahren wurden es vier fette Bände. Die ersten beiden Bücher erschienen bei S. Fischer in Berlin. Die folgenden wurden aus dem Exil publiziert, in Wien und 1943 in Stockholm.

Leser:innen kriechen durch die Wüste

Genug der historischen Fakten, zum Buch: Tausendvierhundert Seiten hat der Literaturziegel, den ich mir nach dem Sommer in Litauen gekauft habe. Trotz Dünndruck ausreichend, um einen Menschen zu erschlagen.

Der Einband ist hart und belastbar. Im Jahr 1964, aus dem meine Ausgabe stammt, hat der S. Fischer Verlag noch Bücher für die Ewigkeit produziert.

Mit Sätzen erschlagen

Einen Menschen kann man auch mit Sätzen erschlagen, das wusste ich seit den Buddenbrooks. Es war eines der wenigen Bücher in meinem Leben, über das ich eingeschlafen bin, damals. Es hat mich förmlich betäubt. Und so begrüßt uns der Meister zu Beginn des Josephsbuchs:

… denn mit unserer Forscherangelegentlichkeit treibt das Unerforschliche eine Art von foppendem Spiel: es bietet ihr Scheinhalte und Wegesziele, hinter denen, wenn sie erreicht sind, neue Vergangenheitsstrecken sich auftun, wie es dem Küstengänger ergeht, der den Wanderns kein Ende findet, weil hinter jeder lehmigen Dünenkulisse, die er erstrebte, neue Weiten zu neuen Vorgebirgen vorwärtslocken.

Die Verbindung zur Kurischen Nehrung springt aus den Zeilen, kündigt einen Ritt in die Ewigkeit an. Und genauso liest sich das Buch: Der Leser, die Leserin, das Lesende kriecht durch seitenlange Sätze, wie ein ausgezehrtes Reptil im Wüstensand.

Zickenalarm in Reinkultur

Bis ins kleinste Detail verzweigend, wird Joseph eingeführt, wird Vater Jakob (bei Thomas Mann: Jaakob) eingeführt, wird das besondere Verhältnis der Beiden zelebriert. Jaakobs Weiber – die schielende Lea und die mandeläugige Rahel – erscheinen, reichlich verwickelt und verzwickt, dazu etliche Kebsen.

Zickenalarm in Reinkultur, immerhin bringt es der Stammesgründer auf stattliche zwölf Söhne – von vier Frauen. Der Knatsch entwickelt sich am Recht der ersten Geburt und an Josephs Überheblichkeit. Denn zweifellos ist er, Nummer Elf, den anderen intellektuell überlegen. Ist der wahre Sohn Jaakobs, der Segen spendet.

Siehe da, die Sache fasziniert

Vier Jahrzehnte nach den Buddenbrooks ist der Leser gereift. War selber in Wüsten unterwegs. Hat gelernt, dass es manchmal einer gewissen Anstrengung bedarf, eines gewissen Durchhaltevermögens, um belohnt zu werden. Ohne Fleiß kein Preis!

Und so windet er sich den langen Weg aus Kanaan durch die Sinai nach dem Land am Nil, wo Milch und Honig fließen. Szenen und Gespräche werden bis ins kleinste Detail ausgewalzt, bis die Schwarte kracht. Kostprobe gefällig?

Denn er horchte dabei zwischen seine Worte hinein und auf den Ton und die Bewegung seiner Rede, und es war ihm unbestimmt so, als möchte er dem Bruder dabei auf sein Gedankengeheimnis kommen, das – so schien es ihm – in der Rede aufgelöst war wie das Salz im Meere.

Buchstaben auf Seiten aus Papier

Als Thomas Mann solche Sätze schmiedete, stand das Radio am Anfang. Fernsehen war unbekannt. Es gab weder Computer noch Spielkonsolen oder Streaming, keine SMS oder E-Mail. Imagination entstand, indem man Buchstaben auf Buchseiten aus Papier reihte.

In dieser Disziplin war Mann erbarmungslos gegen seine Leser wie, sagen wir, Ronaldo gegen den Hüter des gegnerischen Tores. Widerstand ist zwecklos! Manns Ergüsse sind Akte von Gewalt.

Mit brutaler Konsequenz werden sie zu Ende geführt, bis der Leser mitten im Bild sitzt, das in seinem Hirn entsteht. Niemand kommt ungeschoren davon.

In trockenen Regionen unterwegs

Die biblische Geschichte spielt in trockenen Regionen, vom Nil abgesehen, und der Konflikt der Brüder mit dem Jungspund ist so neu nicht, siehe Kain und Abel. Doch wenn man sich durch Manns epochales Werk kämpft, wächst die Achtung quasi mit jeder Zeile. Denn das ist einzigartig:

Sie fielen auf ihn, wie das Rudel verhungerter Wölfe auf das Beutetier fällt; es gab kein Halten und kein Besinnen für ihre blutblinde Begierde, sie stellten sich an, als wollten sie ihn in mindestens vierzehn Stücke zerreißen. Ums Reißen, Zerreißen und Abreißen war‘s ihnen wirklich vor allem in tiefster Seele zu tun. „Herunter, herunter, herunter!“ schrien sie keuchend, und einhellig war die Ketonet gemeint, das Bildkleid, das Schleiergewand, das musste von ihm herunter, wenn es auch schwerhielt in solchem Getümmel; denn verschlungen war es ihm angetan, um Kopf und Schultern befestigt, und ihrer waren zu viele für eine Tat, sie waren einander im Wege, stießen einer den andern von dem fliegend und fallend zwischen ihnen Umhergeprellten weg und trafen sich wechselseitig mit Schlägen, die ihm galten und von denen freilich noch immer hinlängliche für ihn abfielen. Er blutete sofort aus der Nase, und sein eines Auge schloss sich zur blauen Beule.

Wir fragen: Welche Beschreibung einer Rachetat gegen den Einzelnen kann diesen Absatz übertreffen? Die Turbulenz der Szene entsteht durch die gedruckte Kette, springt faktisch aus dem Buch ins Hirn, wird pures Leben.

Anstrengend und dennoch verlockend

Schönheit schimmert aus diesem Stil, der anstrengend ist und dennoch verlockend. Was dem jugendlichen Leser verborgen blieb, aus fehlender Erfahrung verborgen bleiben musste, ist die Präzision, mit der Thomas Mann seine Charaktere, ihre Handlung, die Orte und Umstände zeichnet. Vergessen wir Radio, Fernsehen, Netflix und Computer, dann bleibt nur das:

Die Richtung war durch das Meer gegeben, das zur Rechten ihres sandigen Pfades unter dem zu heiligen Fernen absinkenden Himmel sich ewig erstreckte, bald ruhend in silbrig überglitzender Bläue, bald anrennend in stierstarken, schaumlodernden Wogen gegen das vielgewohnte Gestade. Die Sonne ging darin unter, die wandelnd-unwandelbare, das Gottesauge, in reiner Einsamkeit oft, glutklare Rundscheibe, die eintauchend einen flimmernden Steg über die unendlichen Wasser zum Strande und zu den anbetend Entlangziehenden herüberwarf, oft auch inmitten ausgebreiteter Festlichkeiten in Gold und Rosenschein, welche die Seele in himmlischen Überzeugungen wunderbar anschaulich bestärkten, oder in trübe glühenden Dünsten und Tinten, die eine schwermütig drohende Stimmung der Gottheit beklemmend anzeigten.

Was für ein Gefühl für Sprache!

Was für ein Bild, was für ein Gefühl für die (deutsche) Sprache! Es stimmt: So schreibt niemand, niemand außer Thomas Mann. Der ganze Zug der Zeit, vor Tausenden von Jahren biblisch angelegt, schwingt sich durch vier Bücher, bis Joseph vor den Pharao gerufen wird, um dessen Träume zu deuten. Bis der Günstling zum zweiten Mann im Staate aufsteigt, dessen Umsicht und vorausschauende Planung die Völker am Nil vor Dürre und Hunger bewahren.

Das letzte Korn der Sanduhr

Die Sanduhr ist ohne Bedeutung, solange ihre obere Hälfte gut gefüllt ist. Die Entscheidung fällt mit dem letzten Korn, dass durch die Öse rinnt. Denn die Zeit richtet über alles und jeden, ohne Gnade und Ausnahme, so viel ist gewiss.

Am Ende des vierten Buches stirbt Jaakob, innerlich im Frieden mit der Welt. Joseph ist die rechte Hand des Pharao, ein guter Fürst, nunmehr frei von Eitelkeit und vorschnellem Schwatz. Die Brüder sind geläutert, halleluja!

Und so ist denn diese Geschichte, Sandkorn für Sandkorn, still und stetig durch die gläserne Enge gelaufen; unten liegt sie zuhauf, und wenige Körnchen noch bleiben im oberen Hohlraum zurück. Nicht ist übrig von all ihrem Geschehen, als was mit einem Toten geschieht. Das ist aber kein kleines; lasst euch raten, andächtig zuzuschauen, wie die letzten Körnchen durchrinnen und sich sanft aufs unten Versammelte legen.

Tausendvierhundert Buchseiten sind bewältigt. Die Geschichte ist aus, und der Leser steht am Nil, ziemlich ratlos. Denn es scheint, als ob nicht nur Joseph nach Ägypten geflüchtet ist, sondern vor allem sein Autor.

Nach der Sommerflucht gen Nidden folgte das Exil um die halbe Welt. Die erbarmungslose Gegenwart jener Tage kommt in dem Buch überhaupt nicht vor. Nur aus einem einzigen Satz, ganz am Ende, lässt sich ein Bezug herstellen:

Es ist merkwürdig: die Schwäche der Sanften und Geistigen ist die Schwäche fürs Heldische.

Die Schwäche der Geistigen

Zweifellos, der Mann meint sich selbst, meint die eigene Schwäche, die schwache Positur seines Opus Magnus. Denn zwischen 1926 und 1943, den Jahren der Niederschrift und der Veröffentlichung des Romans, wird die Welt erschüttert.

Nachkrieg und Weltwirtschaftskrise treiben Millionen auf die Straßen, ins Elend. Zunächst marschiert der braune Mob in Italien und in Deutschland, später nimmt er die halbe Welt unter seine Stiefel.

Flammende Bücher halten dagegen. Gegen den Krieg, den vergangenen und den neuen, der droht. Remarques Im Westen nichts Neues rüttelt junge Menschen millionenfach auf. Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh wird Legende. Ernest Hemingway veröffentlicht In einem anderen Land (A Farewell to Arms), wird damit zum Sprecher der Verlorenen Generation.

Betont entrückt, außerhalb von Zeit

Nichts davon bei Thomas Mann. So plätschert Joseph und seine Brüder dahin, und man hat den Eindruck, dass sich der Autor drückt. Das Buch ist betont unpolitisch, betont unkonkret, betont entrückt, außerhalb konkreter Zeit. Und deshalb ist es – thematisch, von der Story her – sehr schwach.

Gelangweilter Sohn eines Patriziers

Kein Wunder, denn Thomas Mann wuchs in behütetem Wohlstand auf. Wie viele privilegierte Intellektuelle stimmte er ins Hurrageschrei des Ersten Weltkriegs ein, den er begrüßte und als männerhärtendes, reinigendes Gewitter deutete.

Der gelangweilte Sohn eines Lübecker Patriziers hockte in der Schreibstube, fühlte den Geist höherer Bestimmung in seinen Adern, jubelnd, hatte gewaltige Schlachten vor seinem inneren Auge – und wurde nicht zur Front eingezogen.

Weltfremde Idylle gesucht

Die Wahrnehmung von Realität war Thomas Manns Sache nicht. Zeitlebens suchte er die weltfremde Idylle. Nur widerstrebend ließ er sich überzeugen, aus dem amerikanischen Exil gegen Hitler zu propagieren.

Und das, genau das, durchscheint im Prinzip alle seine Werke, vor allem Joseph und seine Brüder. Er ist der vermögende Intellektuelle, der sich niemals die Hände schmutzig machte, weder mit Arbeit, noch mit Blut.

Ignoranz der sozialen Verwerfungen

Er, der Bildungsbürger, der Hohepriester deutscher Literatur, hat den Ansturm der brauen Horden unterschätzt und ignoriert. Hat die sozialen Verwerfungen in Deutschland, in Italien und anderswo ignoriert. Diese herablassende Arroganz gegenüber Millionen, die ums tägliche Überleben kämpften. Aus diesem Nährboden wuchsen die braunen und schwarzen Orks.

Seltsam, oder einfach nur konsequent: In den Josephsbüchern gibt es keine Armut, keine Geknechteten. Die Welt ist sauber eingerichtet, wirkliches Elend tritt nicht zutage. Und so wird offenbar, was Thomas Mann wirklich bezweckte: die Flucht in verklärte Vergangenheit.

Rettungsanker in der tollwütigen Welt

Vielleicht war das Werk für ihn der Rettungsanker, um in der rasenden, tollwütigen Welt nicht den Verstand zu verlieren. Das sei ihm zugute gehalten. Andere wurden aktiv, die Namen haben wir genannt. Und es sind eben jene, die Millionen junge Menschen inspirierten, bis heute fesseln.

So bleibt – trotz literarischer Raffinesse – Joseph und seine Brüder ein theoretisches Werk. Die Welt war eben nicht so, nicht einmal zu Zeiten von Pharao. Wirklich Unangenehmes wurde ausgeklammert oder ins Privatissimum verlagert. Kunstvoll erdacht, die Schwarte, und dennoch menschenleer.

Starke Nerven und eiserner Wille

Joseph und seine Brüder: Ein Buch nur für Leser, die starke Nerven haben und eisernen Willen. Leichte Kost ist das nicht, das ist hammerhart und felsenschwer. Aber es öffnet eine faszinierende Reise durch biblische Land, durch Jahrtausende, um letztlich beim Kern des Menschen zu landen.

Denn das ist das Besondere, das Thomas Mann gelungen ist: Weder verfiel er der Frömmelei, noch erlag er der Versuchung, sich beim Kirchenlatein zu bedienen. Er hat den Humus durchkämmt, aus dem der Mensch erwächst, seit Urzeiten. Hat dem Stoff nachgespürt, der jeden von uns formt. Hat eines der schwierigsten und zwiespältigsten Bücher abgeliefert, die in deutscher Zunge geschrieben wurden. Eine uralte, zweifellos gültige Geschichte – ganz außerhalb der realen Zeit.

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© H.S. Eglund
  • Artikel im Tagesspiegel zur Abschiedsfeier von Rudolf Bahro an der Humboldt-Universität. © Tagesspiegel/HS
  • Das Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. © H.S. Eglund
  • Bahros Ideen wirken, bis heute. Der Wandel lässt sich nicht aufhalten. © H.S. Eglund
  • Von Efeu überwuchert, aber nicht aus der Zeit gefallen: Bahros unscheinbarer Grabstein. © H.S. Eglund
Sonntag, 27. November 2022

Rudolf Bahro: „Es denkt in der DDR“

Vor einem Vierteljahrhundert starb der Kritiker des Realsozialismus, der sich zum radikalen Ökologen wandelte. Er begriff die Wachstumskrise als innere Krise des Menschen, seiner furchtsamen Psyche und des totalitären Machtanspruchs des Patriarchats. Heute steht all dies zur Debatte. Denn es denkt überall, in Ost und West, im Norden und im Süden.

Von den einst so lautstarken Regimekritikern aus Ostdeutschland ist kaum noch etwas zu hören. Meist beschränken sie sich auf retrospektive Kritik an der DDR – Schnee von gestern.

Doch die Energiewende, Klimaschutz, Abbau der Bürokratie und mehr direkte Mitsprache der Menschen in diesem Land – das stand schon 1989 auf der Tagesordnung. Und harrt bis heute der Verwirklichung.

Junge, wie die Zeit vergeht

Drei Jahrzehnte liegt die Wiedervereinigung Deutschland zurück. Junge, wie die Zeit vergeht. Und von den Kritikern des Osten sind es vor allem zwei Namen, die aktuell geblieben sind: Robert Havemann, der vor vierzig Jahren starb. Und Rudolf Bahro, der nunmehr seit einem Vierteljahrhundert unter der Erde liegt, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof an der Chauseestraße in Berlin-Mitte.

Bahros Buch Die Alternative schrieb er im Verborgenen, veröffentlichte sie 1977 im Westen, kam dafür ins Gelbe Elend nach Bautzen und wurde 1979 nach drüben abgeschoben. Wie Robert Havemann, der sein Leben in weitgehender Isolation in Grünheide bei Berlin verbrachte, nutzte Bahro die Aufmerksamkeit durch westliche Medien geschickt aus.

In einem seiner ersten Interviews sagte er damals: Es denkt in der DDR. Kaum jemand glaubte seinerzeit daran, dass die SED-Herrschaft eines Tages unter die Räder kommen würde. Bahro sollte Recht behalten.

Experimente mit alternativen Lebensformen

Nach seiner Abschiebung trat er im Westen zunächst als linker Kritiker des Realsozialismus und Stalinismus auf. Er experimentierte mit alternativen Lebensformen, etwa in Kommunen oder einige Wochen bei Bhagwan in Rajneeshpuram im US-Bundesstaat Oregon.

Später gehörte Bahro zu den Wegbereitern der Grünen, weitete seine Kritik aus zu einer kritischen Analyse der Wachstumsgesellschaft, die im Osten wie im Westen gleichermaßen bestand, auf differenzierter ökonomischer Grundlage. Zunehmend erkannte er die innere, seelische Krise des Menschen als Kern des Problems, wurde zum radikalen Ökologen.

Die Logik der Rettung

Sein wichtigstes Buch war Logik der Rettung, im Jahr 1987 erschienen. Darin zeigt er sich als mutiger und visionärer Vordenker des ökologischen Zeitalters. Damals hielten ihn viele für einen Spinner, übrigens auch bei den Grünen. Doch im wesentlichen, im Kern, hat sich sein Ansatz als richtig und zukunftsweisend erwiesen.

Nicht zuletzt fiel Rudolf Bahro als Mensch auf, in all seinen Widersprüchen. Setzt man sich mit Bahros Biografie auseinander, mit seiner Suche nach dem, was Menschsein eigentlich bedeutet, tritt ein Wort Hölderlins hervor, aus einem Brief von Diotima an Hyperion:

Du wärst der denkende Mensch nicht, wärst Du nicht der leidende, der gärende Mensch gewesen.

Die hervorragend recherchierte und sehr ausgewogene Biografie Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare von Guntolf Herzberg und Kurt Seifert (erschienen 2002 bei Christoph Links in Berlin) liefert tiefe Einblicke, macht den Menschen Bahro lebendig und holt ihn in die Gegenwart.

Das ökologische Zeitalter, es kommt mit heftigen Geburtswehen. Dass es kommt, hat Rudolf Bahro gesehen. Denn es gibt keine Alternative: Nicht zur Erde, nicht zur friedlichen Gemeinschaft aller Menschen.

Zeit, seine Bücher und Schriften erneut zur Hand zu nehmen. Denn Bahro blieb nicht bei der Kritik der Zustände stehen. Er bot Auswege durch eigenes Handeln, blieb Optimist und erkannte den Wandel als positive Aufgabe.

Nachtrag: Rudolf Bahro starb am 5. Dezember 1997 in Berlin. Im Frühjahr 1998 verabschiedeten sich Freunde und Weggefährten von ihm, mit einer Feier an der Humboldt-Universität. Dort war er 1993 zum außerordentlichen Professor berufen worden, gegen erhebliche Widerstände durch akademische und politische Kleingeister.

Damals hatte ich das Glück, dieser Abschiedsfeier als Berichterstatter des Tagesspiegels beizuwohnen. Am 28. April 1998 erschien mein Report Mit grenzenloser Toleranz rebellisch, dem nichts hinzuzufügen ist.

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© Vicon Verlag
  • Cover des Romans von Pia Troxler. © Vicon Verlag
Samstag, 5. November 2022

Jubiläum oder Das Ende der Scham

Der Roman von Pia Troxler wagt sich an ein heikles Thema. Es geht um sexuelle Übergriffe eines Professors, der seine Machtposition gegen junge Frauen ausnutzt. Was als kundiger Einblick in akademische Strukturen beginnt, endet mit Mord und Totschlag. Eigentlich findet das Buch überhaupt kein Ende – braucht es auch nicht.

Denn alles bleibt offen, gleichsam erstarrt. Am Ende steht die ungeschriebene, unausgesprochene Frage:

So, jetzt seid Ihr dran. Wie geht es weiter?

Ein Beitrag zur aktuellen Me-too-Debatte, zweifellos ein wichtiger Beitrag, der sich ins Genre eines Romans kleidet. Das ist gewagt, weil bei diesem Thema überall Tretminen lauern.

Zu leicht könnte die Autorin versucht sein, Partei zu ergreifen. Zu verführerisch ist die Chance, in Propaganda gegen männlichen Sexismus und Chauvinismus zu verfallen; Klischees zu liefern statt Erzählung, statt Kopfkino, das der Leserschaft eigene Urteile überlässt.

Wesentlich für die Authentizität

Als ich anfing, Pia Troxlers Roman Jubiläum zu lesen (soeben im Vicon Verlag erschienen), stolperte ich zunächst über die Sprache. Da scheint eine Schweizerische Einfärbung durch, an die ich mich als Bewohner des größten Kantons erst gewöhnen musste.

Im weiteren Verlauf der Handlung wurde der Stil jedoch schlüssig, denn der Roman erzählt aus einem Institut, aus einer Hochschule in der Schweiz. Sprache ist wesentlich für Authentizität, erst recht im Roman. Nach anfänglichem Stolpern kam ich gut in Tritt, zumal die Handlung wesentlich durch Dialoge getrieben wird, das macht sie flüssig und schnell.

Toxic Masculinity wie in Hollywood

Hauptfigur der Erzählung ist Sibylle Beckenhofer, eine Studentin am Institut für Sozial- und Technikforschung. Unter fadenscheinigen Gründen wird sie von Professor Karl Großholz in sein Arbeitszimmer gelockt und grob begrabscht.

Zuerst schmeichelt er ihr, spielt mit ihrem Wissensdrang, auch mit ihrer Eitelkeit. Dann zeigt er unverhohlene, hemmungslose Gier. Toxic Masculinity ist der Fachbegriff, der sich dafür eingebürgert hat.

Daneben treten weitere Frauen auf, die unter den Übergriffen des erfolgreichen Professors leiden, sie oft stumm erdulden. Ähnlich Harvey Weinstein in der amerikanischen Filmbranche haben Professoren nicht selten die Macht, über die künftige Karriere ihrer akademischen Schützlinge zu befinden – und zu entscheiden.

Die Scham überwinden

Neben Großholz tritt Professor Knoll auf, so etwas wie der Dekan und damit Vorgesetzter am Lehrstuhl. Kenntnisreich wird der akademische Betrieb dargestellt, hier anhand von soziologischen und Themen der Technikgeschichte.

Langsam finden die Frauen zusammen, überwinden ihre Scham. Denn geschickt nutzen Leute wie Großholz das Gefühl der Beschämung und Beschmutzung bei den Frauen aus, um unter Umständen jahrzehntelang weiterzumachen.

Kenntnisnahme erzwingen

Eine Anwältin wird eingeschaltet. Sie zwingt Professor Knoll, die Entgleisungen seines Kollegen zur Kenntnis zu nehmen. Knoll windet sich, einem Aal gleich, denn das 30-jährige Jubiläum des Instituts steht vor der Tür.

Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, wer stört solche Festlichkeiten gern mit Vorwürfen des Sexismus? Nach der Party verliert Großholz völlig die Kontrolle über sich selbst, bringt eine junge Frau um. Und tut, als wäre nichts gewesen. Nur den Kollegen Knoll, den macht er zum Mitwisser.

Die Leiche im Aktenschrank

Die Leiche liegt verborgen, wo die meisten Leichen schlummern: im Aktenschrank. Ob und wie sie entdeckt wird, ob und wie Großholz überführt und vollends entlarvt wird, wird nicht erzählt. Doch am Ende sieht der Leser das Blaulicht der anrückenden Polizei vor seinem geistigen Auge. Wie in Fernsehkrimis, dort als Cliffhanger bezeichnet.

Der Roman also endet und endet nicht. Nun könnte die Diskussion beginnen, über sein eigentliches Thema, den Missbrauch von Macht. Doch dieses Thema, das die Handlung über weite Strecken trug, ist durch den Mord in den Hintergrund getreten.

Scheiß Fernsehkrimis

Oder wurde auf die Spitze getrieben – und übertrieben. Soll heißen: Der Roman, der sich zum Krimi wandelt, hätte dieser Metamorphose nicht bedurft. Scheiß Fernsehkrimis, sie machen das Schreiben nicht unbedingt einfacher. So habe ich zwei Bücher gelesen, eines über Missbrauch, eins über Mord.

Zudem wird zum Ende hin seitenweise erläutert, was den Professor innerlich zur finalen Schandtat treibt. Psychologisch gesehen sind die inneren Monologe streckenweise geglückt und nachvollziehbar. Doch stets hören sie vorm emotionalen Urgrund auf. Unbeantwortet bleibt: Wo nahm der Schaden seine Anfang?

Urteil über eine literarische Figur

Es hätte dem Roman gut getan, weniger akademisches Fachwissen zu präsentieren, weniger Details der ausufernden Feier zum Jubiläum, dafür mehr Innensicht des Täters. Nicht, um ihn zu entschuldigen. Sondern um ihn als Figur gleichrangig neben die weiblichen Akteure zu setzen, sie literarisch auf eine Stufe zu stellen.

Denn die Frauen sind in ihrer Situation durchweg einfühlsam und behutsam dargestellt, das ist eine große Stärke des Romans. Auch ihre unterschiedlichen Reaktionen, wie sie mit den Übergriffen umgehen, wird verständlich, bis tief in ihre Gefühlswelt hinein, mit all dem emotionalen Chaos, das der Professor anrichtet.

Der Unterschied zwischen Belästigung und Mord

Nicht die Autorin oder der Autor sollten Urteile bilden, sondern Leserinnen und Leser. Der Mord am Ende des Romans stellt Professor Großholz außerhalb aller Normen.

Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob es um seine Motivation geht, Frauen zu demütigen, sie im normalen Institutsbetrieb sexuell zu belästigen. Oder ob es um Mord geht, vor dem diese Frage – zwangsläufig – verblasst.

Worum geht es im Roman?

Im Roman von Pia Troxler geht es eindeutig um sexuelle Übergriffe, die von bestimmten institutionellen Strukturen unterstützt werden. Schonungslos legt sie diese Strukturen frei, in denen maskuline Dominanz angelegt und konserviert ist.

Wir erwähnten Hollywood. Ebenso gut könnten wir die Kirchen nennen. Im Detail verschieden, geht es um haargenau das gleiche System von Abhängigkeit, um die gleiche, falsch verstandene Kollegialität. Um die gleiche, perfide Ausnutzung von Scham, um Übergriffe zu vertuschen.

Der Hammer war nicht nötig

Oder reden wir von Mord? Ich behaupte, dass die Autorin damit leider dem Holzhammer verfallen ist, um das Urteil zu zementieren. Jetzt ist jedem klar: Großholz gehört abgestraft, und zwar richtig! Er ist ein Ungeheuer.

War gar nicht nötig. Dass Großholz lebenslang in der Falle sitzt, Triebtäter im wahrsten Sinn dieses Wortes ist, hat die Autorin bereits verdeutlicht, weitgehend überzeugend. Spannender wäre (für mich) die Frage gewesen, wie lange ihn Knoll deckt, wie lange das akademische Getriebe solche Leute schützt. Wann Wegschauen zur Mitschuld wird.

Ein Gleichnis, in Form eines Romans

Denn das war das eigentliche Thema, deshalb nahm ich diesen Roman zur Hand. Ich kann mit dem Ende (das keines ist) gut leben, immerhin bringt es mich zum Nachdenken. Dass schließlich ein Mord geschieht, führt mich zwar von der breiten Bedeutung und Brisanz weg, führt mich weg vom Gleichnis, dass die Story stellvertretend für Filmproduzenten, Regisseure, Kardinäle, Bischöfe und Popen steht.

Das ist jedoch kein Problem, tut dem Buch keinen Abbruch. Denn Literatur ist Aneignung durch Lesen. Als Beitrag zur aktuellen, dringenden Diskussion funktioniert dieser Roman ausgezeichnet, auch ohne sein letztes Kapitel. Und mancher, der ihn liest, wird sich gerade am Mord erfreuen, wird durch diese Episode einen Zugang finden, der mir verwehrt blieb.

Diesem Buch und seiner Autorin wünschen wir zahlreiche Leserinnen und Leser und vor allem viele spannende Diskussionen.

Auf der Website des Vicon-Verlages finden Sie eine ausführliche Beschreibung.

Website der Autorin Pia Troxler.

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© H.S. Eglund
  • Trutzburg des Glaubens: das Ulmer Münster. © H.S. Eglund
  • Das hohe Portal macht die Besucher klein. © H.S. Eglund
  • Pompöser Bau, Kathedrale des rechten Glaubens. © H.S. Eglund
  • Architektonisch durchaus interessant. © H.S. Eglund
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Freitag, 28. Oktober 2022

Stippvisite nach Ulm: Bischof, ich kann fliegen!

Die Stadt und ihr modernistischer Zwilling Neu-Ulm sind schwer von der Donau gezeichnet. Nix wie durch und weg, der Fluss weiß, warum er flieht. Ein Report über und für Durchreisende.

Ulm hat ein gotisches Münster und ohne Münster wäre es nichts. NICHTS. Der sprichwörtliche Reichtum der Stadt – im Mittelalter stand „Ulmer Geld“ für außergewöhnlichen Wohlstand schlechthin – hat das Zentrum verdorben.

Wie ein archaischer Fels ragt der 161,53 Meter hohe Kirchenbau aus der umgebenden Bebauung auf. Abgesehen von ein paar Überbleibseln aus der Geschichte: alles glatter Beton, glattes Glas und kalter Stahl – glatte, langweilige Fassaden.

Wie gefräßige Hyänen zerren die kahlen Bauten des Wirtschaftswunders an der stolzen Kathedrale, und es scheint, als wollte der hohe gotische Turm in den Himmel entfliehen.

Berblingers Traum, ein Vogel zu sein

Ein Vogel müsste man sein, über all dem Grau der Konsumtempel, sich aufschwingen zur Spitze des mittelalterlichen Zepters.

„Bischof, ich kann fliegen“,
Sagte der Schneider zum Bischof.
„Pass auf, wie ich’s mach‘!“
Und er stieg mit so ’nen Dingen,
Die aussahn wie Schwingen
Auf das große, große Kirchendach.

Früher gehörte Brechts Gedicht zum Schulkanon. So ein Bischof bot eine wunderbare Karikatur, Fleisch gewordene Arroganz der Katholiken. Tiefenpsychologisch gesehen, war es ein Fluchtversuch, den Brecht in Verse brachte:

Der Bischof ging weiter.
„Das sind so lauter Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof vom Schneider.

Im Jahr 1811 wollte der Schneider Albrecht Berblinger tatsächlich mit selbstgebauten Flügeln vom Münster schweben. Das ist urkundlich gesichert. Dichterische Freiheit erlaubt, dass der Pionier des Flugwesens stirbt:

„Der Schneider ist verschieden“,
Sagten die Leute dem Bischof.
„Es war eine Hatz.
Seine Flügel sind zerspellet
Und er lag zerschellet
Auf dem harten, harten Kirchenplatz.“

Berblingers Versuch, das andere Ufer der Donau zu erreichen, schlug fehl. Das stimmt. Er stürzte in die Fluten, aber er überlebte und wurde zur Zielscheibe des Spottes – der Plebejer und der Katholiken. Lassen wir noch einmal Brechts Bischof zu Wort kommen:

„Die Glocken sollen läuten,
Es waren nichts als Lügen,
Der Mensch ist kein Vogel,
Es wird nie ein Mensch fliegen“,
Sagte der Bischof den Leuten.

Brecht stilisiert den Schneider zum Frontmann des Fortschritts, zum verkannen Genie. In Wahrheit wollte auch Berblinger nur – weg!

Die Flucht der Donauschwaben

Ulm als Ausgangspunkt der Flucht, Ulm als äußerster Vorposten im Osten von Württemberg. Neu-Ulm auf der anderen Seite der Donau liegt bereits in Bayern. Von Ulm zogen die Donauschwaben aus, um den Südosten Europas gegen die Türken zu verteidigen.

Als Wehrbauern ließen sie sich nieder – in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien. Wer einen Grund sucht, warum sie sich Ende des 17. Jahrhunderts in ihren Karren auf den beschwerlichen Weg gen Süden machten, braucht nicht lange zu suchen. Denn Ulm hält niemanden, es ist ein Ort, den man verlässt.

Niemand bleibt auf Dauer

Albert Einstein wurde 1879 in Ulm geboren, ebenso Hildegard Knef (1925) und Siegfried Unseld (1924). Die Karrien dieser Leute sind jedoch mit anderen Städten verbunden. Einstein ging nach Bern, nach Berlin, nach Princeton – in Ulm blieb sein Genie unerkannt.

Die Knef reiste um die ganze Welt, von seltsamer Unrast getrieben. Unseld übernahm 1959 den Suhrkamp-Verlag in Berlin und Frankfurt/Main. Sogar für die piefige Bundesrepublik war Ulm als geistiges Zentrum ungeeignet. Die Boheme residierte und publizierte andernorts: Frankfurt, Hamburg, München.

Geistige Enge, in Stein gehauen

Und wie frustrierend müssen die Jugendjahre der Geschwister Scholl gewesen sein, die ab 1932 in Ulm aufwuchsen. Sophie und Hans Scholl schulten hier ihre Widerständigkeit, sahen hier den brauen Aufmarsch in den Köpfen der ach so christlichen Mitmenschen.

Sophie Scholl war siebzehn Jahre alt, als sie in Ulm die Reichskristallnacht erlebte. Als brave Katholikinnen und Katholiken ihren jüdischen Nachbarn die Scheiben einwarfen und die Synagoge in Brand setzten. Offenbar war bei den Ulmern Hopfen und Malz verloren, denn die Scholls gingen nach München, an die Universität.

Die Liste seltsamer Ehrenbürger

Dort hofften sie, Zeichen zu setzen, bis sie 1943 mit Flugblättern erwischt und hingerichtet wurden. Immerhin: Ihre Schwester Inge wurde später – nach dem Krieg – zur Ehrenbürgerin der Stadt ernannt. Sie hatte sich dem Vermächtnis der Weißen Rose verschrieben und die Volkshochschule von Ulm ins Leben gerufen – Bildung gegen die Leere und den Hass in den Hirnen.

Unter den Ehrenbürgern ist Inge Aicher-Scholl so etwas wie die Friedenstaube unter Falken. Reichskanzler Otto von Bismarck steht in der Liste der Geehrten ebenso wie Paul von Hindenburg, Kriegsherr und Reichspräsident, der Adolf Hitler in den Sattel hob.

Natürlich war auch Adolf Hitler einst Ehrenbürger von Ulm, wurde 1945 jedoch verschämt aus den Annalen gestrichen. Ludwig Erhard, Bundeskanzler nach Adenauer, war Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Ulm und steht seither gleichfalls in der Liste. In der Inge Aicher-Scholl übrigens die einzige Frau ist.

Die Quelle der Fluchtgedanken

Warum taugt Ulm nur zur Durchreise, nur für ein kurzes Essay im Hotelzimmer? Vielleicht liegt es an der Donau, deren Wasser unablässig durch die Stadt rinnt, wie die Zeit. Alles in dieser Stadt atmet GESTERN.

Der Fluss erträgt die Tristesse. Unablässig teilt er Ulm von Neu-Ulm, Baden-Württemberg von Bayern, trennt die Schwäbische Alp von den niederen Ebenen gen Osten hin, gen Augsburg, und nach Süden, zum Allgäu. Augsburg hat wenigstens die Fugger und die Puppenkiste. Dort wurde Bertolt Brecht geboren. Naja, ist ja auch abgehauen. Die ganze Weltecke scheint dürftig.

Von Nordwesten treiben dicke, schwere Wolken heran, grau wie die Fassaden im Zentrum von Ulm. Sogar der Regen scheint zu fliehen, die schwangeren Bänke driften südwärts, zum Alpenrand. Es folgen drei feuchte Tage in München. In Ulm kein Tropfen.

Mit Bert Brecht: Wann, bitte, geht der nächste Zug nach Berlin?

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Roman zur Wende 1989: Die Glöckner von Utopia

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