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H. S. Eglund

Schriftsteller • Writer • Publizist

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© H.S Eglund
Samstag, 6. Februar 2021

Auf Youtube: Der neue Roman in packenden Bildern

Soeben ist der erste Videotrailer zum neuen Roman von H.S. Eglund erschienen: eine spannende Story in eindrucksvollen Fotografien aus dem Osten Afrikas.

Laetoli – Aksum – Jambiani: Drei Stationen markieren den Weg des jungen Forschers Martin Anderson. Er steht vor einer glänzenden Karriere, als ihn der Ruf von Professor Miller erreicht, einer Koryphäe der Archäologie. In Laetoli in Tansania forscht Miller an Millionen Jahre alten Fossilen menschlicher Vorfahren. Der alte Kauz behauptet: Ich habe die ersten Menschen gesehen! Hat ihn der Afrikakoller erwischt?

Andersons Reise verschlägt ihn zu den Vulkanen des Rift Valley und zur Serengeti, nach Axum im Norden Äthiopiens und auf die Insel Sansibar. Unbedingt will er die Wiege der Zivilisation finden. Doch das dunkle, heiße Afrika entzieht sich jeder Logik. So gerät die Expediton des jungen Forschers zur Suche nach sich selbst. Andersons Verwirrung wächst, als er Sewe Akashi begegnet, Millers junger Assistentin.

Der neue Roman von H.S. Eglund spielt im Osten Afrikas, zwischen den grasigen Savannen am Victoria-See, der kahlen Halbwüste am Roten Meer und der Küste des Indischen Ozeans. Der Trailer auf Youtube fängt die Szenerie in eindrucksvollen Bildern ein: Reinschnuppern! Reinstöbern!

Hier geht‘s zum Video.

© Warner Bros.
Mittwoch, 3. Februar 2021

James Dean: Rebel Without a Cause?

Vor 90 Jahren wurde einer der faszinierendsten Schaupieler Amerikas geboren: James Byron Dean, genannt Jimmy. Innerhalb eines Jahres avancierte er zum Idol und schrieb Kinogeschichte – mit nur drei Filmen. Kurz darauf war er tot – und blieb der ewig junge Aufrührer.

Ich erinnere mich genau: Ich saß allein vor der Glotze in der guten Stube, Geschwister und Eltern waren außer Haus, und es war spät am Abend; Sonnabendabend, der späte Film nach dem Wort zum Sonntag. Die Sprecherin sah gut aus, und sie kündigte diesen Film an: … denn sie wissen nicht was sie tun.

Die Namen, die sie nannte: Nicholas Ray als Regisseur und James Dean in der Hauptrolle; sie klangen geheimnisvoll und weit wie die Prärie oder die Rocky Mountains, besondere Sehnsuchtsorte in der Fantasie des Halbwüchsigen im grauen, abgerockten Ruinenviertel der Industriestadt Leipzig, irgendwann Ende der 1970er.

Nach dem Wort zum Sonntag

Erst das Wort zum Sonntag, danach Jimmy Dean – stärker konnte der Kontrast nicht sein. Der graue, gesichtslose Pfarrer, der eine ähnlich verlogene Sprache benutzte wie die Funktionäre im Osten – und danach James Dean, der so war, wie jeder Halbwüchsige sich selber wünscht: Sei ein Rebell, auch wenn Du keinen Grund dazu hast! Pass Dich nicht an, niemals!

Jugend kommt kantig in die Welt, die Rebellion ist ihr Recht – und ein bisschen ihre Aufgabe. Im Englischen trägt Deans bekanntester Film den Titel: Rebel Without a Cause – Rebell ohne Grund. Rebellisch zu sein, dafür braucht man keine Gründe, nicht in diesem Alter: die Ödnis der geordneten Verhältnisse, die moralische Enge der amerikanischen Städte, wie der Städte Europas, Deutschlands – und der DDR. Gründe wie das staubtrockene Vorbild der Eltern, die im Job und im Alltag ergrauten und verdorrten.

Eine Explosion in Schwarzweiß

Als ich den Film sah, war James Dean schon ein Vierteljahrhundert tot. Meine Realität war eine gänzlich andere als für den Außenseiter Jim Stark. Leipzig war nicht Los Angeles, ich stand nicht außerhalb der Clique, und doch war mir alles unglaublich vertraut: der gelangweilte, nach Liebe hungernde, mit der Gruppe konfrontierte Teenager.

Der zerrissene Einzelgänger, der Outlaw – Dean hat ihn nicht gespielt. Er hat ihn ganz tief aus seinem Inneren heraufgeholt, wie die tiefe Eruption eines emotionalen Vulkans. Das war echt und genauso explosiv wie Feuer spuckende Berge.

Das war präzise – ohne erkennbare Berechnung. Das war brutal – gegen sich selbst, bis zur Grenze der Selbstverstümmelung. In Judy (gespielt von Natalie Wood) hatte er die perfekte Partnerin, die weibliche Seite derselben Medaille.

Diese Schmerzen, diese Sehnsucht, diese Zerrissenheit Jim Starks: Das ging nicht durchs Auge ins Hirn, das traf direkt ins Herz. Das wühlte mich auf, und dieses Gefühl ist noch immer da, wenn ich mir jenen Abend in Erinnerung rufe.

Traumtänzer werden nicht alt

Was ich damals nicht wusste, nicht wissen konnte: Jemand, der so viel gibt, sich als Künstler derart entblößt, lebt am Rande der Erschöpfung. Solche Traumtänzer sind genial, aber sie werden nicht alt. So steht James Dean in einer Reihe mit Jimmy Hendrix, Janis Joplin oder James „Jim“ Morrison; Dean war der jüngste unter diesen Giganten.

Als er im September 1955 mit seinem Porsche Spyder in den Tod fuhr, war er nicht einmal 25 Jahre alt. Es blieben drei Filme: Jenseits von Eden, … denn sie wissen nicht, was sie tun und Giganten. Jenseits von Eden war die epochale Verfilmung eines Romans von John Steinbeck (Regie: Elia Kazan). Und Giganten zeigte James Dean in einem Western, der den Beginn des Ölzeitalters markiert. Diese beiden Filme brachten ihm poshum zwei Oscars ein – als bester Hauptdarsteller. Auch sie zeigten ihn gespalten, verzweifelt, unfertig und von widrigen Ereignissen getrieben.

Ein Heiliger, ein erstarrtes Denkmal

Die näheren Umstände seines Unfalls Ende September 1955 sind vielfach beschrieben und in Dokumentarfilmen nachgezeichnet. So exzessiv wie seine Filmrollen geriet der Kult um seine Person. Sein früher Tod machte Auflage: Die Medien stilisierten ihn zum Heiligen, als sei er im Augenblick des Unfalls zu seinem eigenen, ewig jugendlichen Denkmal erstarrt.

Die Kreuzung der State Routes 41 und 46 bei Cholame in Kalifornien wird noch heute als James Dean Memorial Junction bezeichnet. Kurz vor seinem Tod hatte Dean einen Werbespot gedreht, in dem er vor Raserei warnte. Nicht einmal Hollywood kann solche Stories erfinden.

Wer war James Dean?

Wer war James Dean? Ein glühendes Talent, ein strahlender Meteor am falschen Himmel der Traumfabrik? Der grellste Komet in der Geschichte des amerikanischen Films?

Einen Abend lang, für eine schlaflose Nacht war er der untersetzte, seltsam gebrochen strahlende Held, der Underdog, der schnelle Autos liebte. In den Augen des jugendlichen Zuschauers, der bis nach dem Wort zum Sonntag ausgehalten hatte, war er der große Bruder, die Ikone, wie sie nur in der Literatur und auf der Leinwand entsteht.

James Dean hat sich selbst gezeigt, erbarmungslos und offen. Mit neun Jahren verlor er die Mutter, wuchs in kleinen, engen Verhältnissen bei Verwandten auf, der Vater im Krieg in Europa. James Dean, der einen Traum hatte – den Traum von der Karriere am Broadway, beim Film. Der ganz unten anfing: als Platzanweiser und Parkwächter, bis er 1951 seine erste, klitzekleine Rolle bekam. Der innerhalb von drei, vier Jahren kometenhaft aufstieg und alle anderen überstrahlte.

Das letzte Wort gehört dem Regisseur seines ersten, durchschlagenden Filmerfolgs: „James Dean sah genauso aus wie Cal Trask in Jenseits von Eden“, erinnerte sich eila Kazan Jahre später. „Und er sprach auch so. Als er das New Yorker Büro von Warner Brothers betrat, wusste ich sofort, dass ich den richtigen Mann für die Rolle gefunden hatte. Er war vorsichtig, störrisch und misstrauisch und schien voller unterdrückter Gefühle.“

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Brecht und Weigel: Vom Umgang mit den Welträtseln

© Tom Schulze
  • Der Autor an seinem Messestand in Leipzig 2018. © H.S. Eglund
  • Eigentlich lohnt sich die Investition in diesem kleinen Stand nicht. © H.S. Eglund
  • 2018 war H.S. Eglund in Leipzig mit zwei Romanen vertreten. © H.S. Eglund
Sonntag, 31. Januar 2021

Das Ende der großen Party

Die Buchmesse in Leipzig im Mai wurde abgesagt. Als Ersatz soll es ein digitales Lesefest geben. Für kleine Verlage und unabhängige Autoren ergeben sich dadurch neue Chancen.

Die Absage der Leipziger Buchmesse Mitte der vergangenen Woche verursachte in den Feuilletons ein gewaltiges Rauschen, überraschend kam sie nicht. Der Hickhack um den Impfstoff gegen die Coronaviren ließ es bereits erahnen: Auch in diesem Jahr wird es keine Großveranstaltungen geben. Und die Leipziger Buchmesse mit rund einer Viertelmillion Besuchern ist eine gigantische Show.

Statt dessen wird es ein virtuelles Programm geben, also Präsentationen und Lesungen im Internet. Für kleine Verlage und unabhängige Autoren bieten sich dadurch neue Chancen. Denn für sie ist die Messe schon lange keine Bühne mehr, höchstens eine Party, bei der sie nur Zaungäste sind.

Dominiert von den großen Verlagen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk – der sich gerne mit großen Verlagen und ihren Autoren schmückt – waren die Kleinverleger schon lange an den Rand gedrückt.

Von Cosplayern überrrant

Und: Da die Buchmesse mit einer Fachveranstaltung für Comics zusammengelegt wurde, gab es in Leipzig in den Messehallen beinahe mehr jugendliche Cosplayer als Leser von ernsthaften Romanen oder Sachbüchern. Freilich, die fantasievollen Kostüme der jungen Leute sind wunderbar anzuschauen und von großer Ästhetik.

Für die ehrwürdige Buchmesse wäre es jedoch besser gewesen, wenn die Leipziger Manga-Comic-Convention einen eigenen Termin im jährlichen Veranstaltungskalender bekommen hätte. Denn letztlich war es die Comic-Messe, die immer mehr Publikum anzog, und nicht die klassische Schau der Neuheiten auf dem Buchmarkt. Damit hat sich die Messeleitung in die Tasche gelogen, wenn sie nach der Messe – jedes Jahr wieder – steigende Besucherzahlen meldete.

Veränderungen im Buchmarkt ignoriert

Und sie hat die dramatischen Veränderungen auf dem Buchmarkt ignoriert. Statt die Messe den Branchenriesen zu überlassen, hätte sie kleine Verlage und freie Autoren stärker ansprechen müssen.

Eine vielfältige Regionalmesse für Sachen oder den Osten Deutschlands hätte mehr Zukunft, als eine zweite Großmesse – im Frühjahr in Leipzig, im Herbst in Frankfurt. Der Versuch, Frankfurt als Leitmesse der Branche zu schlagen, ist gescheitert.

Historie allein – Leipzig als einstiges Zentrum der Verlage und der Messen – reicht als Konzept nicht aus. Es gibt in Leipzig keine nennenswerten Verlage mehr, alle Lichter sind nach der Wende ausgegangen, alle Hoffnungen auf eine Renaissance erloschen. Die wenigen kleinen Verlage, die immer aufs Neue antreten – Respekt! – brauchen keine Riesenparty.

Die Folge: Seit Jahren blieben immer mehr kleine und mittlere Verlage der Leipziger Messe (wie auch der Frankfurter Messe) als Aussteller fern. Und immer mehr Leserinnen und Leser wurden von den bunten Massentumulten am Messegelände eher abgestoßen als eingeladen.

Das Lesefest wird überleben

Immerhin hatte die Leipziger Messe einen großen Vorteil beispielsweise gegenüber Frankfurt: Es war das Fest der Leserinnen und Leser. Das Beiprogramm war viel wichtiger als die Messe selbst. Allerdings wurde das Marketing von „Leipzig liest“ ebenso von den großen Playern der Branche dominiert, wie die Buchhandlungen im Zentrum der alten Messestadt.

Wie überall sind sie längst in der Hand von Thalia oder Hugendubel. Dort kommen kleine Verlage oder unabhängige Autoren, die ihre Werke selbst verlegen, ohnehin nicht rein. Sie versprechen zu wenig Umsatz, da wirkt das Gesetz der Größe: Große Handelsketten (auch Amazon im Internet) begünstigen nur große Produzenten, die finanzkräftig sind, über Masse verkaufen und die Flächen in den Verkaufsräumen belegen.

Der Lockdown verschäft die Krise

Dieser Trend wird durch den Lockdown aufgrund der Coronakrise verstärkt. Die meisten Bundesländer – außer beispielsweise Berlin, wo Bücher als Lebensmittel gelten – haben auch die Buchhandlungen geschlossen.

Das trifft vor allem kleine Händler, die kaum Rücklagen haben. Wer heute eine Buchhandlung betreibt, ist enthusiastischer Selbstausbeuter. Durch die monatelange Zwangsschließung werden sich die Umsätze noch mehr zu den großen Onlinehändlern verschieben, die ihre Lieferanten (die Verlage) mit Horroverträgen knebeln – und ihre Mitarbeiter versklaven.

Nur große Verlage, mit langem finanziellen Atem und langer Backlist, können diesen Druck aushalten. Sie profitieren vom massenhaften Abverkauf über das Internet, sie brauchen die große Gieskanne – die Masse macht‘s.

Leserinnen und Leser finden

Für kleine Verlage ist die Absage der Messe als teure Präsenzveranstaltung zunächst kein Beinbruch. Im Gegenteil: Sie öffnet ihnen die Chance, ihre Strategien zur Onlinevermarktung zu intensivieren.

Das Geld, das bislang die Messe verschlungen hat (inklusive Anreise, Abreise und Hotelübernachtungen), ist in den sozialen Medien und in einer ordentlichen Webpräsenz besser aufgehoben.

Dort kann man – durch den Lockdown beschleunigt – tatsächlich interessierte Leserinnen und Leser identifizieren und ansprechen. Zum Glück lassen sich Bücher heutzutage auch in kleinen Auflagen preiswert produzieren, sodass ihr Abverkauf einen Gewinn verspricht.

Diese Nische könnte an Bedeutung gewinnen, könnte sich abseits der ausgetretenen Pfade des Massengeschäfts – in den Handelsketten der Innenstädte und Amazon im Web – neu beleben. Denn es bleibt eine subversive Eigenschaft des Internets, dass Underdogs und kleine Player mit klugen Strategien und überschaubarem Budget durchaus erfolgreich sein können. Was in anderen Branchen gilt, gilt auch im Buchgeschäft.

Die Absage der Buchmesse in Leipzig zwingt die kleinen Verlage, sich eher regional zu orientieren: über spezielle Verkaufspartner im unabhängigen Buchhandel. Regionale Festivals oder thematische Veranstaltungen etwa zu Krimis oder Kinderbüchern werden die zentralen Messen ablösen. Das können gemischte Veranstaltungen sein, die virtuell und real zugleich stattfinden.

Zwei Seiten einer Schatzsuche

Attraktive Verkaufsfläche – die Domäne der großen Handelsketten – oder Lagerfläche – der Vorteil von Amazon – werden im kleinteiligen Geschäft unterhalb der Massenware an Bedeutung verlieren. Das ist die spannende Aufgabe für unabhängige Verlage und ihre Autoren: Die geneigte Leserschaft über das Internet und soziale Medien zu erkennen und zu erreichen.

Wer Bücher liest, sucht Schätze. Diese Schatzsuche hat zwei Seiten: Die Leserinnen und Leser, die immer hungrig auf gute Geschichten sind. Und die Autorinnen und Autorinnen, die ein offenes und ansprechbares Publikum suchen.

Dietrich Simon, der legendäre Verleger von Volk & Welt, hat einmal zu mir gesagt: „Ein gutes Buch findet immer seine Leser.“ Dieser Grundsatz gilt mehr denn je. Daran ändert die Absage der Leipziger Buchmesse 2021 kaum etwas.

Die Fotos zeigen den Messestand von H.S. Eglund auf der Leipziger Buchmesse 2018 mit den beiden Romanen Die Glöckner von Utopia und Zen Solar. Im Mai 2021 wird er seinen neuen Roman Nomaden von Laetoli präsentieren – beim virtuellen Lesefest.

© HS Eglund
  • Malerischer Blick vom Tanganjika-See gen Westen, zum Hochland von Zaire. Doch der Schein trügt: Das riesige Terrain jenseits der Berge ist bis heute No-go-area. © HS Eglund
  • Büste vor einem Gebäude der Leipziger Universität. Die Straße ist seit 1961 nach Lumumba benannt. © H.S. Eglund
Freitag, 22. Januar 2021

Patrice Lumumba: Opfer der Uranbarone

Vor sechzig Jahren wurde Patrice Lumumba ermordet. Bei dem Komplott mischten die Belgier mit, die Briten, die Amerikaner, ebenso konkurrierende Stammesführer. Es ging um Macht, um koloniale Privilegien – und vor allem um den Brennstoff für das beginnende Atomzeitalter.

Mitte Januar 1961 wurde Patrice Lumumba ermordet, damals der Führer der Unabhängigkeitssbewegung im Kongo, dem riesigen Land in der Mitte Afrikas. Mit 35 Jahren wurde er brutal aus dem Leben gerissen, weil er belgischen und US-amerikanischen Interessen im Wege stand. Er war anderen Stammesführern ein Dorn im Auge, die sich mit der belgischen Schutzmacht arrangieren wollten.

Denn dieses Arrangement versprach satte Gewinne für die Warlords und ihr Gefolge: Die Demokratischen Republik Kongo, wie sie heute heißt, ist eines der reichsten Länder der Welt, besonders gesegnet mit Bodenschätzen: Kupfer, Coltan, Cobalt, Gold, Silber, Erdöl, Zink, Zinn, Mangan, Wolfram und Kohle.

Blutkohle, wie man sie heute nennt, die von schwarzen Kulis mit bloßen Händen aus den Bergen des Hochlands gekratzt wird, und deshalb auf dem Weltmarkt besonders billig zu haben ist.

Der erste Deal der Atomindustrie

Vor allem aber ist der Kongo sagenhaft reich an Diamanten. Die Ausbeute der Edelsteine steht den Klunkern aus Russland und Botswana nur wenig nach. Die Demokratische Republik Kongo ist der drittgrößte Produzent von Naturdiamanten, vor Australien, Kanada, Angola oder Südafrika.

Doch wirklich wichtig war das Uran, daran war das Interesse der Belgier besonders groß. Denn 1942 verkauften sie 4.200 Kilogramm kongolesisches Uran an die Amerikaner, die daraus die erste Atombombe bauten. Diese Uranmenge entsprach seinerzeit fast dem gesamten Uranvorrat weltweit. Die enormen Erlöse, die der belgische König aus diesem Geschäft zog, steckte er später in den Aufbau der belgischen Atomkraftwerke.

Zündstoff für das Manhattan-Projekt

Schon 1913 hatte man Uranerz in Haut-Katanga entdeckt, einer Provinz im damaligen Belgisch-Kongo. Die Erzvorkommen der Shinkolobwe Mine waren außergewöhnlich reichhaltig. Bereits vor dem Zweiten Weltkrieg hatten die Amerikaner Interesse bekundet, bis der Deal im Jahr 1942 durch das Manhatten-Projekt konkret wurde.

Belgien wurde zum Hauptlieferanten der USA, erhielt auf diese Weise Zugang zur Technik der Atomreaktoren. Noch heute laufen die Atomkraftwerke Doel und Tihange. Doel ist der älteste Meiler in Europa, älter sogar als Tschernobyl. Und Tihange pflegt den zweifelhaften Ruf, der störanfälligste Schrottmeiler des Kontinents zu sein, unweit der deutschen Grenze.

Ende der 1950er Jahre lag auf dem Schwarzen Kontinent das sogenannte afrikanische Jahr in der Luft. Im britischen Kenia wurde die Unabhängigkeitsbewegung von Jomo Kenyatta angeführt, in Tanganjika (später Tanzania) vom charismatischen Julius Nyerere, in Guinea von Sekou Touré und in Ghana vom legendären Kwame Nkrumah.

1960 gewann Lumumba die Wahlen

Auch in Belgisch-Kongo wurde es unruhig, bis 1960 Lumumbas Partei die Wahl gewann. Sie war erst zwei Jahre zuvor gegründet worden. Er wurde 1960 erster Premierminister des unabhängigen Kongo – gegen den Widerstand der weißen Siedler und der belgischen Oberschicht.

Selbstbewusst trat Lumumba auf, beispielsweise auf dem Festakt zur Feier der Unabhängigkeit. In seiner Rede widersprach er dem belgischen König Baudouin, der die „zivilisatorischen Verdienste“ seiner Kolonialherrschaft gelobt hatte, die „Errungenschaften“ unter den weißen Herren.

In Anwesenheit des Königs und internationaler Diplomaten widersprach er dem Monarchen, prangerte die Unterdrückung durch die Kolonialverwaltung an:

„Wir haben zermürbende Arbeit kennengelernt und mussten sie für einen Lohn erbringen, der es uns nicht gestattete, den Hunger zu vertreiben, uns zu kleiden oder in anständigen Verhältnissen zu wohnen oder unsere Kinder als geliebte Wesen großzuziehen. Wir kennen Spott, Beleidigungen, Schläge, die morgens, mittags und nachts unablässig ausgeteilt wurden, weil wir Neger waren. Wir haben erlebt, wie unser Land im Namen von angeblich rechtmäßigen Gesetzen aufgeteilt wurde, die tatsächlich nur besagen, dass das Recht mit dem Stärkeren ist. Wir werden die Massaker nicht vergessen, in denen so viele umgekommen sind, und ebenso wenig die Zellen, in die jene geworfen wurden, die sich einem Regime der Unterdrückung und Ausbeutung nicht unterwerfen wollten.“

Selbst unter Briten und Franzosen, die damals große Gebiete im Osten, Westen und Norden Afrikas kolonial verwalteten, galt die belgische Kolonialherrschaft als besonders brutal und menschenverachtend.

Die Belgier hinterließen Chaos

Mit der Unabhängigkeit zogen sich die Belgier weitgehend aus dem Kongo zurück. Es gab keine Schulen, keine Kliniken, keine Sozialfürsorge. In der kongolesischen Armee gab es keine einheimischen Offiziere, nur drei Kongolesen waren im Staatsdienst tätig. Lediglich 30 Kongolesen verfügten über eine akademische Ausbildung.

Lumumba war Sozialist, und er drohte mit der Verstaatlichung des Bergbaus und der Plantagen. So malte die belgische Presse das Horrorbild des Kommunisten und Weißenhassers, deutsche Medien bezeichneten ihn als Negerpremier. Als er tot war, titelte eine belgische Zeitung: La mort de Satan! (Tod des Teufels)

Zu viel Geld stand auf dem Spiel

Und: Wegen der reichen Vorkommen an Uran und strategischen Metallen lehnte US-Präsident Dwight D. Eisenhower die Zusammenarbeit mit dem freien Kongo ab. Amerikanische Unternehmen waren an den Minen in der Provinz Katanga beteiligt, da stand sehr viel Geld auf dem Spiel.

Also wandte sich Lumumba an die Sowjets, ersuchte militärische Unterstützung gegen die belgischen Fallschirmjäger. Sie hatten die abtrünnige Provonz Katanga besetzt, um den Bergbau für die westlichen Konzerne sichern. Es folgten die sogenannten „Kongo-Wirren“, ein Bürgerkrieg, in dem belgische Francs und amerikanische Dollars die entscheidende Rolle spielten.

In dieser Auseinandersetzung tauchte als Gegenspieler Lumumbas erstmals der Oberst Joseph Mobutu auf, der später einer der blutigsten Diktatoren Afrikas werden sollte. Mobutu war als Parteigänger Lumumbas gestartet, wandte sich nun gegen ihn, die USA und Belgien im Rücken. Im September 1960 putschte die kongolesische Armee unter Mobutu und übernahm die Macht. Lumumba wurde unter Hausarrest gestellt, allerdings bewacht und geschützt von eilig entsandten Truppen der Vereinten Nationen.

Ein Mordauftrag der CIA

Zu dieser Zeit hatte die CIA bereits beschlossen, Lumumba aus dem Weg zu räumen – offenbar auf persönlichen Befehl von Eisenhower. Ende November 1960 gelang Lumumba die Flucht aus Léopoldville, jedoch wurde er kurze Zeit später wieder von Mobutus Truppen verhaftet.

Mitte Januar 1961 gelang Lumumba erneut die Flucht, während einer Meuterei der Militärs. Am 17. Januar 1961 verschwand er von der Bildfläche. Spätere Gerüchte, dass er gesehen worden sei, bestätigten sich nicht. So wird dieses Datum von den Historikern mittlerweile als Todestag angenommen.

Erst im Jahr 2000 begann eine Kommission des belgischen Parlaments, die genauen Umstände des Mordes zu klären. Der Bericht erschien im November 2001 – mehr als vier Jahrzehnte nach Lumumbas Verschwinden. Er war fast tausend Seiten stark und enthielt haarsträubende Details.

Die letzten Tage des Premiers

Ihm zufolge wurden Lumumba und zwei seiner Gefolgsleute tatsächlich am 17. Januar 1961 von Soldaten in Katanga erschossen, die unter belgischem Kommando standen. Auch der britische MI6 soll in die Ermordung involviert gewesen sein. Zuvor waren die Delinquenten gefoltert, bespuckt und verhört worden.

Besonders perfide: Die Leichen wurden sofort verscharrt, einige Tage später aber wieder ausgegraben. Die Leiche des Führers der Unabhängigkeitsbewegung wurde zerteilt und mit Batteriesäure aufgelöst, die eine belgische Minengesellschaft besorgt hatte. Die letzten Überreste wurden verbrannt.

Bekannt wurde zwischenzeitlich auch, dass die CIA auf Befehl aus dem Weißen Haus seit 1960 versucht hatte, Lumumba zu vergiften. Diese Pläne waren gescheitert.

Ein Mann wird zu ganz Afrika

Gefoltert, erschossen, zerstückelt, verätzt und verbrannt: Dennoch ist Patrice Lumumba bis auf den heutigen Tag eine Symbolfigur geblieben – wie neben ihm nur Nelson Mandela aus Südafrika. Jean-Paul Sartre hat prophezeit:

„Mort, Lumumba cesse d’être une personne pour devenir l’Afrique toute entière“ – „Seit Lumumba tot ist, hört er auf, eine Person zu sein. Er wird zu ganz Afrika.“

Er hat Recht behalten.

Der Tod des Dag Hammarskjöld

Mit Lumumbas Ermordung waren Terror und Chaos nicht vorbei. In der Nacht zum 18. September 1961 stürzte das Flugzeug des damaligen UN-Generalsekretärs Dag Hammerskjöld ab, an der Grenze zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Nordrhodesien (heute Sambia). Die 16 Passagiere und Mitglieder der Crew starben, darunter Hammerskjöld und sein Berater für Afrika, der deutsche Ethnologe Heinrich Wieschhoff.

Hammerskjöld wollte in Katanga vermitteln, um das Blutvergießen der rivalisierenden Gruppen zu beenden. Kurz nach seinem Tod kam das Gerücht auf, die Maschine sei abgeschossen worden.

Ein belgisch-britischer Legionär

Im Oktober 2017 veröffentlichte eine Untersuchungsgruppe der Vereinten Nationen eine Studie, nach der ein Angriff auf das Flugzeug als plausibel bezeichnet wurde. Vermutlich waren Rebellen aus Katanga dafür verantwortlich. Eine Dokumentation aus dem Jahr 2019 nannte dagegen einen belgisch-britischen Piloten, der das Flugzeug der UN abgeschossen habe. Diese Version wurde von Zeugen aus dem Freundeskreis des mittlerweile verstorbenen Legionärs bestätigt, er hatte damit geprahlt.

Dass belgische Piloten die UN-Truppen attakierten, war damals bekannt. Deshalb hatte Hammarskjöld bei den USA und Großbritannien um Luftunterstützung gebeten, die ihm jedoch verweigert wurde.

Demokratisierung scheitert an den Demokratien

So bietet der Kongo – bis heute ein zerrissenes und von fremden Mächten kontrolliertes Land – ein Musterbeispiel, wie die Demokratisierung Afrikas durch die sogenannten Demokratien des Westens hintertrieben wurde und wird.

Die Hoffnungen auf echte Unabhängigkeit zerstoben unter dem ökonomischen Druck der Minengesellschaften und dem politischen Druck des Kalten Krieges. Bis heute ist die Demokratische Republik Kongo das „Herz der Finsternis“ im Zentrum des Schwarzen Kontinents, um Joseph Conrad zu bemühen.

Für Globetrotter ist das Riesenland mit seinen zerklüfteten Bergen, seinen reißenden Flüssen, den üppigen Regenwäldern und ausgedehnten Savannen ein „no go areal“. Selbst hartgesottene Reisende machen einen großen Bogen, meiden die gefährlichen Regionen westlich des langgestreckten Tanganjika-Sees und des Rift Valleys.

Die Bevölkerung eines der reichsten Länder der Welt geht am Bettelstab. Regionale Warlords liefern sich endlose, blutige Fehden – und kein Ende des Chaos in Sicht. Die Profite aus dem Bergbau hingegen sind gigantisch, sie fließen nach Brüssel, London und New York.

So steht Patrice Lumumba für einen Aufbruch, der nach wie vor im Anfang steckt. Doch was einmal gesagt wurde, bleibt in der Welt, und jeder Mensch hinterlässt eine bleibende Spur. Wie Nelson Mandela wurde Lumumba zum Mythos, der weiterlebt und weiterwirkt – weil die Aufgabe unerfüllt ist. Weil sich die Demokratisierung Afrikas auf Dauer nicht verhindern lässt – nur verzögern.

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© Theo Jansen
Montag, 18. Januar 2021

Wie Luft: Die Strandbiester des Theo Jansen

Auf Youtube sind die Kreationen des Niederländers Theo Jansen zu sehen. Da klappt einem das Kinn runter, so leicht und graziös kann Windkraft sein. Man staunt und fragt: Öffnet die Bionik einen neuen Pfad der Evolution?

Der Tipp kam von der Choreografin Isabelle Schad, die sich von Jansen für ihre preisgekrönten Bühnenarbeiten inspirieren ließ. Die Strandbeester (Strandtiere) gibt es seit 1990. Jansens Thema: Er will jede neue Generation seiner federleichten Monster besser an die Umwelt anpassen als das Vorgängermodell.

Jansen experimentiert mit Computertechnik und Sensoren, mit Materialien wie Kunststoff, Holz, Papier und anderen leichten Stoffen. Seine ersten Modelle musste er noch über den Strand ziehen – oder schieben. Mittlerweile werden sie durch den Wind bewegt, oder durch Druckluft aus Speicherflaschen – aus eigenem Antrieb.

Schauen Sie selbst!

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© Rebecca Budd
Samstag, 16. Januar 2021

Podcast: Über Schönheit in Natur und Kunst

Rebecca Budd war erneut mit Klausbernd Vollmar zu Tea, Toast & Trivia verabredet – dieses Mal zu einem spannenden Gespräch über Schönheit und ihre Funktion: als Fluchtpunkt unserer Sehnsucht, als Versprechen von Heimat und Geborgenheit, als Verbindung des Individuums mit dem Universum. Als das Unmögliche, das die Grenzen des Möglichen immer neu herausfordert.

Der neue Podcast von Clanmother Rebecca Budd aus Vancouver mit dem Psychologen Klausbernd Vollmar in Cley-next-the-Sea an der Küste von Norfolk entführt die Hörerschaft auf eine erstaunliche Reise zwischen der Innenwelt des Menschen und seiner Umgebung, gemeinhin als Natur und/oder Kultur (Gesellschaft) bezeichnet. Die Interaktion des Einzelnen mit seinem natürlichen und kulturellen oder sozialen Umfeld wird maßgeblich von Sehnsüchten begleitet und geleitet. Die Realität wäre nichts, ohne den Traum.

Schönheit als Ausdruck von Sehnsucht

Diese Sehnsüchte haben ganz wesentlich mit Schönheit zu tun. Schönheit stand am Beginn von Religion und Philosophie. Die kulturell gesetzten Ideale von Schönheit dominieren in der Kommunikation, in der Wirtschaft und in der Kunst.

Den alten Griechen und ihren Philosophen galten Weisheit, Eros und Häuslichkeit als schön. Ihr Ausdruck waren Symmetrie und goldener Schnitt. Sie erkannten, wie anziehend (attraktiv) Schönheit auf die Menschen wirkt, weil die Natur schön ist. Schönheit als das Erwünschte, dass die Menschen in ihren Bann zieht. Deshalb ist die Schönheitsindustrie das wohl älteste Gewerbe der Welt, findet Schönheit ihren frühesten Ausdruck in der naiven Kunst der Steinzeit.

Die Furcht vor der Schönheit

Schönheit, sagt Klausbernd Vollmar, hat sehr viel mit Symmetrie zu tun, mit der ungestörten, perfekten Form. Archetypisch – das gilt für alle Kulturkreise – versprechen als schön angesehene Menschen eine perfekte genetische Disposition, werden bei der Parnerwahl also bevorzugt.

Andererseits ist die Sache ambivalent, denn besonders schöne Menschen haben es nicht selten besonders schwer in der Liebe. Filmstars und Pin-up-Girls können ein Lied von ihrer Einsamkeit singen. Lastet doch auf ihnen der Fluch der Engel, die als wunderschön und gefährlich zugleich gelten.

Die Ambivalenz der menschlichen Psyche

An der Schönheit drückt sich die Ambivalenz der menschlichen Psyche aus – der Mensch ist hin und her gerissen, angezogen und abgestoßen zugleich, sucht Nähe und Distanz zugleich. Was als schön gilt, wird biologisch, kulturell und ökonomisch definiert.

Seit der Steinzeit haben sich die Ideale enorm gewandelt: Die frühesten Venusfiguren sind üppig in ihrer Leibesfülle, mit ausladenden Hüften und fruchtbaren Brüsten. Heutzutage als schön bezeichnete Mannequins kommen dünn daher, fast androgyn.

Hinzu kommt, dass sich in der vernetzten Welt die Schönheitsideale der Kulturen mischen. Blonde Engel mit blauen Augen gehören in die Rezeption der westlichen Hemisphäre. In islamischen Ländern werden sie verteufelt.

Nähe und Distanz zugleich: Sogar in der christlichen Lehre wohnt dem schönen Engel etwas Diabolisches inne. Satan gilt als gefallener Engel, als Höllenfürst mit Feuer und Rauch statt Seidenflügel und Wolke Sieben. Er ist die Antithese zur Schönheit, um die bleichen, blonden, blauäugigen Engel noch stärker herauszustellen.

Die Macht und ihr Zauber

Schönheit verspricht Geborgenheit, Heimat und Macht – Macht vor allem über die Widrigkeiten des Alltags und des irdischen Lebens, auch Macht (Zauber) über andere Menschen. Deshalb haben sich Fürsten, Könige, Kaiser und Industrielle zu jeder Zeit mit allerhand schönem Tand umgeben, mit schönen Frauen sowieso.

Doch dieses Versprechen ist ein Irrtum, weil weniger „schöne“ Menschen nicht automatisch weniger gebildet oder mächtig sind. Schönheit ist kein Verdienst, auch wenn es die meisten Menschen (unbewusst) implizieren.

In der modernen, narzistischen Mediengesellschaft zeigt sich Schönheit allgegenwärtig, beispielsweise in der Werbung. Das Internet quillt über von Schönheitstipps, die Tourismusindustrie weckt Fernweh nach schöner, unberührter Natur, Chirurgen versprechen schöne Gesichter und Proportionen, cleveres Marketing weckt Sehnsüchte, Bedürfnisse, Konsum.

Rares Gut wird zum Überfluss

Galt Schönheit einst als Fluchtpunkt aus dem irdischen Jammertal, drängt sie sich heute geradezu auf – an jeder Ecke. Das wirklich spannende an dem Podcast ist der Gedanke, der sich im Verlauf der Sendung aufdrängt: Wie leer wird der Alltag durch den Überfluss des „Schönen“!

Schönheit in der Natur oder in der Kunst drückt die Sehnsucht der Menschen aus, ihre Grenzen zu erweitern, Neues zu entdecken und zu wagen – steckt darin doch das Versprechen einer wie immer gearteten Belohnung. „Schönheit kommt aus der Freundlichkeit, aus dem Herzen“, sagt Klausbernd Vollmar. Wird dieser psychologische Weg aus der Innenwelt nach draußen durch oberflächliche Schönheitsreize entwertet und überblendet, sterben Fantasie, Sehnsucht und Hoffnung gleichermaßen.

Das endlose Flimmern der Werbebilder macht den grauen Alltag besonders fühlbar, denn das Herz lässt sich nicht so leicht korrumpieren wie das Auge. Schönheit, wirkliche Schönheit, birgt ja auch das Versprechen, dass die Flucht aus der Tristesse überhaupt möglich ist.

Fühlanstöße im Lockdown

Der Podcast dauert keine halbe Stunde, und er kann die Hörerschaft lediglich anstoßen, kann ermuntern, selber zu denken und zu fühlen. Die Tage sind grau, der Lockdown nagelt uns zu Hause fest. Vielleicht bietet dieser Podcast den Anlass, die hektischen Bilder, die billigen Versprechen, die schöne neue Welt (Aldous Huxley) abzuschalten und einfach nur zu lauschen.

Folgt man Rebecca Budd und Klausbernd Vollmar, dann ist Schönheit nicht langweilig, sondern der Ausweg aus der Tristesse und der Langeweile. Wer Herz und Sinne für das Schöne öffnet, das immer auch einfach ist, findet Sehnsucht und Hoffnung wieder. Für die Schönheit gilt im besonderen Maße: Weniger ist mehr, und darum kostbar. Eglund empfiehlt: Unbedingt reinhören!

Website von Tea, Toast & Trivia

Zu Klausbernd Vollmars Blog „The World according to Dina“ geht es hier.

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© EVA
Montag, 21. Dezember 2020

Rudolf Bahro: „… die nicht mit den Wölfen heulen“

Vor 250 Jahren wurde Ludwig van Beethoven geboren. Anlass, einen bemerkenswerten Essay von Rudolf Bahro neu zur Hand zu nehmen. Darin zeigt sich der spätere Dissident und Ökologe als profunder Kenner der Ideengeschichte – und zeichnet Beethoven als Erben der Revolution.

Den Essay „… die nicht mit den Wölfen heulen“ schrieb Rudolf Bahro zwischen 1967 und 1969 in Ostberlin. Damals war er bereits mit den Vorstudien zu seinem Buch „Die Alternative“ befasst, der radikalen Analyse des real existierenden Sozialismus in der Sowjetunion und in der DDR.

Der Beethoven-Essay fiel quasi nebenbei ab, nachdem er seinen Job als Redakteur bei der Zeitschrift Forum wegen mangelnder Linientreue verloren hatte und begann, in der „Gummibude“ zu arbeiten. Erst 1979, nach dem Erscheinen der „Alternative“, nach Stasiknast in Bautzen und nach dem Freikauf durch den Westen, konnte der Essay erscheinen, seinerzeit in der gewerkschaftsnahen Europäischen Verlagsanstalt (EVA). Heute ist das schmale Büchlein nur antiquarisch erhältlich, eine Neuauflage gab es im 250. Geburtsjahr von Beethoven nicht.

Ein Jahrgang wie Hegel und Hölderlin

Bahro sieht Beethoven vor allem als Zeitgenossen von Hegel, dem Philosophen, und dem Dichter Hölderlin. Alle drei sind 1770 geboren, und ihnen ist die hochfliegende Hoffnung auf die Revolution in Paris zwischen 1789 und 1793 gemein, mit dem Aufstieg Robespierres bis zur Gewaltherrschaft des Thermidor.

Der Terror der Revolution, weit von der deutschen Beschaulichkeit entfernt, tut der Euphorie kaum Abbruch. Nach dem Tod von Robespierre auf der Guillotine steigt ein neuer Stern: Napoleon betritt die Bühne, wird zum Hoffnungsträger, der die dumpfen Monarchien in Europa hinwegzufegen droht.

Hegel verliert alle Illusionen

Hegel verliert seine Illusionen gegenüber den Sansculotten als erster, gibt den utopischen Gehalt der Hoffnung auf die Revolution beinahe völlig auf. Hölderlin, der im Hyperion und in vielen seiner frühen Gedichte beinahe überschwänglich die Jakobiner unterstützte, sie nach Deutschland herbeisehnte, verzweifelt an der „tatenarmen Geschichte der Deutschen“.

Und Beethoven, dessen frühe Sinfonien wie die Fanfaren zur Erstürmung der Bastille klangen, zerreißt 1804 die Widmung seiner Eroica (1802 bis 1803 entstanden) für Napoleon, als sich Bonaparte in Paris die Krone aufsetzt, um seine Truppen fortan als Kaiser Bonaparte zu führen: „Vive la republique!“ wird abgelöst durch „Vive l‘Emporeur!“.

Enttäuschung schlägt um in Verzweiflung

Die Enttäuschung schlägt in Verzweiflung um, als Napoleons revolutionärer Aufbruch endgültig in Waterloo endet und der Wiener Kongress 1815 die Monarchien in Europa restauriert. Hegel hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits von der Revolution als historischen und politischen Prozess verabschiedet, sich mit seiner Professur eingerichtet.

Er „heulte mit den Wölfen“, wie er später selbst eingestand. Zu sehr hatte ihn der Terror der Jakobiner erschreckt. Seine revolutionäre Methode, die Dialektik, wird ein anderer als Werkzeug für den Fortschritt prüfen und nutzen: Karl Marx. So ist im Scheitern Napoleons und der Französischen Revolution bereits der Vormärz angelegt, ebenso die Revolution von 1848.

Auch der Philosoph Fichte, der in seinen „Reden an die deutsche Nation“ einst zu seinen Studenten gesagt hatte: „Wie es ist, kann es nicht befriedigen“, schwenkt um 1810 auf einen teutonischen Idealismus ein, resigniert und verschwindet in der Versenkung.

Hölderlin bringt nix Wesentliches mehr zustande. Er flieht in vorgeblichen Wahnsinn und verbringt ab 1807 die zweite Hälfte seines Lebens im abgeschiedenen Turmzimmer des Handwerkers Ernst Zimmer – mit Blick auf den idyllischen Neckar in Tübingen.

Die Fünfte Sinfonie und die Kammermusik

Und Beethoven? „Was macht einer aus seinen Enttäuschungen?“, fragt Rudolf Bahro, der ja selber ein Ausgestoßener und Enttäuschter war, zumindest zum Zeitpunkt, als er diesen Essay schrieb. Nach dunklen, zergrübelten Jahren gelingt es Beethoven, sich zum Ende seines Lebens hin zu neuer künstlerischer Kraft aufzuschwingen. Im Jahr 1812 gelingt ihm mit der Fünften Sinfonie, der Schicksalssinfonie, eine epochale Abrechnung mit Napoleons Größenwahn, just in dem Moment, als die Grande Armee im russischen Winter erfriert.

Danach kommt lange nichts vom Meister, oder wenig, und seine einstige Popularität sinkt schnell. Nach 1815 bis 1820 sind es vor allem zwei Klaviersonaten – kleine Formen – die seinen künstlerischen Weg markieren. Und er schreibt, mit Bahro: „die in ihrer unerfüllten Sehnsucht erschütternden Lieder „An die ferne Geliebte““.

Der Vorteil des Komponisten

Philosophen und Dichter wollen die Ereignisse ihrer Zeit durchdenken und analysieren, ihnen mit Worten zuleibe rücken, sie durch Gedanken bewältigen. Nach 1815 wurde die kritische Auseinandersetzung mit den Fehlern der Revolution und der Restauration durch die Zensur gnadenlos unterdrückt, nicht nur in deutschen Landen.

Der Musiker hat es vergleichsweise besser: Er stützt sich auf Emotionen, rührt weniger den Kopf, mehr das Herz. So gelingen dem späten Beethoven, schon fast taub, vom bürgerlichen Publikum in Wien und Bonn beinahe vergessen, krank und ergraut, zwei krönende Werke: die Neunte Sinfonie und die Missa Solemnis.

Darin ruft Beethoven nicht mehr die Herrschaft der Sansculotten herbei, bleibt nicht bei den aktuellen und politischen Ereignissen stehen. Doch er erkennt die Aufgabe, die zu erledigen bleibt. Mit Schillers „Ode an die Freude“ (geschrieben 1785) kehrt er zu den Träumen seiner Jugend zurück, bewahrt den schöpferischen Kern seiner Musik.

Ungebrochene Popularität

Vielleicht liegt darin der Grund, dass wir heute die Reden von Robespierre, Fichte und Hegel kaum noch lesen, dass auch Hölderlin aus einer verstaubten Ära zu stammen scheint. Doch die Sinfonien Beethovens, seine Sonaten und seine Streichquartette sind populärer denn je – überall auf der Welt. „Vor ihm hat die Musik dem hohen und edelsten Vergnügen gedient“, hat der Dichter Franz Werfel einmal gesagt. „Er hat ihr einen neuen Sinn gegeben, er hat die soziale und ethische Erschütterung zum Tönen gebracht.“

Beethoven hat die Hoffnung thematisiert, für ihn Beethoven galt: „Musik ist höhere Offenbarung als alle Philosophie.“ Denn, nach Bahro, vermag „keine andere Sprache den Charakterkern des Menschen unmittelbarer auszudrücken als die Musik, denn die emotionale Innerlichkeit, das Ich in seiner allgemeinen sozialen und individuellen Bestimmtheit ist ihr eigentlicher Gegenstand. Sie ist, mit den alten Worten, Sprache des Gemüts, der bewegten Seele.“

Das Reich der Freiheit vor Augen

Was im Jahr 2020 bei der Rezeption Beethovens oft übersehen wurde – trotz vieler kluger Gedanken und Interpretationen – ist die Ursprünglichkeit seines Ansatzes, das Neue in seiner Musik. Und das scheint die Essenz der Analyse von Rudolf Bahro zu sein, die spannende Einordnung in die historischen Hintergründe jener Zeit – in die Geschichte der Menschheit, deren Zeiger die Hoffnung ist.

Bahro schreibt: „In der Großen Revolution haben zahllose Menschen das Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, formell ein utopisches Absolutum, als unmittelbares Ziel vor Augen gehabt, das nur noch ihrer eigenen Aktion bedurfte, um wirklich zu werden. Das wird von nun an nie mehr ganz in Vergessenheit geraten.“

Im Unterschied zu Theodor Körner oder Ernst-Moritz Arndt war Beethoven kein Patriot im politischen Sinne. Er dachte über die deutsche Nation hinaus: „Alle Menschen werden Brüder!“ Und genau darin lag der Fluchtpunkt, der seine inneren Kräfte gegen die Resignation und die Verzweiflung mobilisierte.

Aufbruch zwischen Münzer und Marx

Die Französische Revolution markierte in den deutschen Landen eine Spanne, die Bahro als den missglückten Aufbruch zwischen Bauernführer Thomas Münzer (ein Zeitgenosse Luthers) und Karl Marx verortete. Weil es nicht gelang, die feudalen Verhältnisse in den Kleinstaaten umzukrempeln, zogen sich die Deutschen in innere Befindlichkeit zurück, in nostalgische Verklärung der Natur und der Seele.

Dabei war der Ruf nach Schwarzrotgold auf der Wartburg (das Fest der Studenten 1817) der wichtigste Ausdruck der revolutionären Energie gewesen, die vom Aufstand in Frankreich übrig geblieben war.

Aber daraus wurde nichts, die Resauration bestimmte die weitere Geschichte. Die erhoffte Einigung Deutschlands musste fünfzig Jahre warten. Sie kam 1871 auf Befehl des preußischen Kaisers und seines Reichskanzlers – von oben. Der erste Versuch einer Demokratisierung von unten gelang erst 1919 mit der Ausrufung der Republik durch Karl Liebknecht – und wurde in kurzer Zeit wieder erstickt.

Der einzige Blütentraum

Zurück zu Beethoven, zurück zur Revolution in Paris. Bahro schreibt: „Nach 1815 musste auch Beethoven in den Tunnel. Er wäre verloren gewesen ohne das Licht der Erinnerung.“ Vereinsamt und taub musste er erkennen, „daß außer Musik kein jugendlicher Blütentraum gereift ist, auch jener privateste einer geliebten Gefährtin, eines eigenen Kindes nicht. Dieser Beethoven kniet nieder zum „Heiligen Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit“. Er will noch leben.“

Mit der Neunten Sinfonie und in der Missa Solemnis schwingt sich Beethoven noch einmal auf, lässt Robespierre anklingen, der in Paris gerufen hatte: „Lassen wir die Priester und kehren wir zur Gottheit zurück. Wie ist doch der Gott der Natur so anders als der Gott der Priester! Der wahre Priester des Höchsten Wesens ist die Natur; sein Tempel die ganze Welt, sein Gedanke die Tugend, seine Feste die Freude eines großen Volkes.“

Schutzwall gegen die Resignation

Das ist auch Beethovens Religion, und das scheint durch bis zuletzt, bis zur Missa Solemnis (feierliche Messe, komponiert zwischen 1819 und 1823), und natürlich in der Neunten Sinfonie (1824 uraufgeführt) mit der „Ode an die Freude“. So gerät ihm die Musik zum Schutzwall gegen die Resignation, gegen die Verzweiflung, die viele seiner Zeitgenossen ereilte.

Mit Bahro: „Alles oder nichts. Das Unerwartete erwarten. Glauben an das, was es geben muss, auch wenn es noch lange auf sich warten lässt.“ Das ist der Kern der Missa Solemnis, das ist der Kern seiner letzten vollendeten Sinfonie. Er antizipiert die Befreiung, die eines Tages kommen muss – und wird. Bei Goethe liest sich das als berühmter Monolog des Faust:

Solch ein Gewimmel möcht ich sehn!
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!
Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön.
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
nicht in Äonen untergehn.

So erreicht die Neunte Sinfonie eine Leichtigkeit, die keine Sinfonie vorher erreichte: weniger Leiden, weniger Tragik, mehr Freude. Die Niedergeschlagenheit um 1815 fehlt fast völlig. „Abschied feiernd“, schreibt Bahro, „steigt das heldenhafte Subjekt der Fünften Sinfonie wie Phoenix aus der Asche.“

Er kommt mit sich ins Reine

Beethoven kommt mit sich ins Reine. „Am Ende seines Lebens weiß er: Dies ist das menschliche Leben, das man zu führen berufen ist“, urteilt Bahro. „Der wissende Kampf um die Freiheit, und das heißt: um mehr Glück.“ So erfüllen sich Beethovens eigene Worte, als er vom universellen Menschen sprach: „Wir Endliche mit dem unendlichen Geist.“

Diese Läuterung, diese beinahe überirdische Kraft in seinem Spätwerk ist kaum zu überhören, von jedem Menschen spürbar. Karl Liebknecht spielte die späten Sonaten gern auf dem Klavier, Lenin war von Beethoven beeindruckt, und Richard Wagner ging mit der Neunten Sinfonie 1849 in Dresden auf die Barrikaden. In unserer Zeit wurde seine Vertonung der „Ode an die Freude“ zur Hymne der Europäischen Union.

Noch einmal sei Franz Werfel zitiert, der anläßlich des 100. Todestags von Beethoven 1937 sagte: „Alle, die Beethoven aus ehrlichem Herzen feiern wollen, müssen sich sagen, sie feiern einen Empörer und Erneuerer der Kunst und des Geistes… Wer prinzipiell gegen neue Kunst ist, muss gegen den Erneuerer Beethoven sein.“

Unser Tipp:
Rudolf Bahro
… die nicht mit den Wölfen heulen
Das Beispiel Beethoven und sieben Gedichte
Europäische Verlagsanstalt (EVA), Köln 1979
130 Seiten, gebunden
ISBN 3-434-00403-3

© Media-Paten
Donnerstag, 17. Dezember 2020

Once Upon A Time In The Studio

Wie entsteht die deutsche Fassung für einen Tarantino-Film? Ein Video der Media-Paten erläutert den Prozess, bis das gute Stück fertig ist – in sieben Akten. Kaum zu glauben, dieser Aufwand – und diese Perfektion.

Der Tipp kam von Felix Würgler: Ein neues Video der Media-Paten erlaubt spannende Einblicke hinter die Kulissen der Synchronisierung. Der Film Once Upon A Time In Hollywood von US-Regisseur Quentin Tarantino wurde in den Studios von Iyuno Germany in Berlin-Schöneberg übersetzt, eingesprochen und neu gemischt. Damit alles leicht klingt, musste jeder Laut und jeder Regler sitzen. Richtig harte Arbeit, sehr anschaulich und unterhaltsam präsentiert!

Zu finden hier.

© H.S Eglund
  • Straßenszene aus dem heutigen Kazimierz in Krakau. © H.S Eglund
  • In der ehemaligen Synagoge befindet sich heute ein Buchladen. © H.S. Eglund
  • Erinnerung an den Sänger in Krakau. © H.S. Eglund
  • Die Liedersammlung von Manfred Lemm, erschienen in der Edition Künstlertreff. © Edition Künstlertreff
  • Eine CD mit Gebirtigs Liedern. Mittlerweile ist die Sammlung auf eine CD-Reihe angewachsen. © Edition Künstlertreff
  • Cover einer CD mit Liedern Gebirtigs von Bente Kahan. © H.S. Eglund
Mittwoch, 16. Dezember 2020

Mordechai Gebirtig: Sänger einer verbrannten Welt

Im Januar 1942 wurde die „Endlösung“ beschlossen. Wenige Monate später starb Mordechai Gebirtig, erschossen von einem deutschen Besatzer. Er war der singende Tischler, Poet des Krakauer Judenviertels. Ein Enkel der Killer nahm seine Lieder mit nach Kazimierz.

Seltsam muss es gewesen sein, das alte, jüdische Viertel von Krakau. Kazimierz, ein schmieriger, klebriger Menschenbrei aus Orient, deutschem Bierwesen und dem mittelalterlichen Anachronismus der K.u.K. Monarchie. Vor achtzig Jahren ging diese Welt unter, vergast und verbrannt im Todestrakt von Auschwitz, kaum dreißig Kilometer vor der alten Königsstadt.

Noch heute dominieren Ruinen, und nur selten verirren sich die Touristen hierher. Lieber schlendern sie durch die Tuchhallen, zwischen den Säulen des Wawel, der alten Königsburg, und in der Krönungskirche, deren Goldprunk so gar nicht zum Armutsgelübde eines Jesus Christus passt.

Beruhigende Stille

Normalerweise steppt auf dem Wawel der Bär, denn in der Gunst der Traveller und Globetrotter steht die polnische Königsstadt ganz oben – neben Paris, Prag und Prenzlauer Berg. Corona hat die Menschenströme gestoppt, beinahe beruhigend, wie still es ist.

Auch in Kazimierz herrscht merkwürdige Stille. Hier blieb die Zeit stehen, hier haben die berühmten polnischen Restauratoren bisher nur zögernd Hand angelegt. Kazimierz: Das Viertel der galizischen Juden, die es längst nicht mehr gibt. Eine Geisterstadt, Refugium von Erinnerungen.

Nehmen Sie ein altes Schwarzweißfoto in die Hand, und betrachten Sie es eine Weile. Dann verstehen Sie, welche Art von Stille ich meine. Sachte. Nur sacht, ganz sachte kehrt jüdisches Leben zurück – fünfundsiebzig Jahre nach dem Krieg und dreißig Jahre nach den Zusammenbruch des Ostblocks.

Der letzte Sänger des Jiddisch

Im Januar 1942 kamen in einer Villa am Wannsee in Berlin eine Handvoll Männer zusammen, um die „Endlösung der Judenfrage“ zu beschließen. Beschlossene Sache war sie seit zwanzig Jahren, war schon in „Mein Kampf“ nachzulesen.

Im Juni 1942 starb im Krakauer Ghetto ein Mann, erschossen auf offener Straße. Das Projektil stammt aus dem Gewehr eines deutschen Besatzers, doch der Name des Mörders ist unbekannt.

Unbekannte Opfer, verschollen

Viele Opfer dieser Zeit blieben unbekannt, verschollen. Den Holocaust und die Jahrzehnte überdauert hat der Name dieses Toten: Mordechai Gebirtig, ein jiddischer Komponist. Gebirtig war ein einfacher Mann, ein Tischler, der seine Lieder zuerst auf einer kleinen Flöte ausprobierte. Als ihn die tödliche Kugel traf, stand er im 65. Lebensjahr.

Mehr als neunzig Lieder hat er hinterlassen. Heute gilt Gebirtig als der letzte Sänger des schwungvollen Jiddisch; der letzte Sänger einer verbrannten Welt. „Der Bogen reicht vom schlichten Kinderlied, zu bacchantischen Trinkliedern bis hin zum fordernden Arbeiterlied“, schreibt die Edition Künstlertreff, die seine Lieder wieder ausgegraben hat. „Nicht die romantisierende Schtetl-Welt ist es, die Gebirtig in seinen Liedern aufleben lässt, sondern das Leben der kleinen Leute im jüdischen Stadtteil Krakaus.“

Streitapfel der Geschichte

Kleine Leute, kleines Viertel, große Weltgeschichte: Als Mordechai Gebirtig das Licht der Welt erblickte, gehörte Krakau zu Österreich-Ungarn. Im Ersten Weltkrieg zerfiel der Vielvölkerstaat, Galizien wurde zum Streitapfel zwischen dem weißen, katholischen Polen und den roten, heidnischen Bolschewisten aus Moskau und Petrograd.

Zusehends verschlechterte sich die Situation der jüdischen Bevölkerung, die allen ein Dorn im Auge war. Gebirtigs Lieder wurden politischer und schärfer, auch ironischer, um nicht die Hoffnung zu verlieren.

Ein Beispiel ist der „Arbetlosemarsch“. 1938 schrieb er für Juden, die sich gegen ein Pogrom wehrten, das Lied „Undzer shtetl brent“. Darin ruft er zum Widerstand auf, unerhört für seine Zeit. Das Lied ist düster, wie eine Totenglocke, als nähme es den Untergang der Jidden vorweg.

Ein Kraftfahrer aus Leipzig

Als die Nazis das Land überrannten, fanden nur wenige Katholiken den Mut, Juden zu helfen. Und noch weniger Protestanten. Der Großvater des Autors hatte sich 1938 freiwillig zur Wehrmacht gemeldet.

Im Zivilleben transportierte der Kraftfahrer die Zigaretten für Reemtsma zwischen den Fabriken in Dresden und dem Kontor in Leipzig. In Uniform stürmte er mit Hurra durch den Schlagbaum hinter Gleiwitz, um neuen Lebensraum gen Osten zu erobern.

Seine Infanteriedivision eroberte Warschau. War er der Scherge, der den jiddischen Sänger erschoss? Er hätte es sein können. Er war es. Wer auch nur einen Schuss abgegeben hat, hat sie alle auf dem Gewissen.

Als Gebirtig verblutete, war der Leipziger Chauffeur Horst Torge bereits auf dem Weg durch Russland, zur Wolga. Bald war auch sein Lied zu Ende: Gefangenschaft in den Trümmern von Stalingrad Anfang 1943, Arbeitslager in Südrussland, Tod an Typhus im heißen, staubigen Sommer 1946.

Ein altes Lied, ein leises Lied

Dass wir die Lieder Gebirtigs noch – oder wieder – kennen, ist maßgeblich dem Wuppertaler Sänger und Komponisten Manfred Lemm zu verdanken. Mehr als zehn Jahre lang trug er die Lieder des Krakauer Tischlers zusammen, durchforstete Archive und Sammlungen.

Viel Glück und der Zufall hatten ihre Hände im Spiel. Entstanden ist ein bibliophiles Gesamtwerk mit den jiddischen Texten und ihrer deutschen Übersetzung. Parallel dazu erschienen in der Edition Künstlertreff inzwischen 69 Lieder, die Lemm mit seinem Ensemble auf vier CDs eingespielt und dem Vergessen entrissen hat.

Lemms Vertonungen der Gebirtig-Texte wurden in die fünfbändige Yiddish Anthology der Hebräischen Universität von Jerusalem aufgenommen. Mit Konzerten in Israel, Nordamerika und überall in Europa bringt Lemm die jiddischen Lieder erneut ins Bewusstsein: Diese Sehnsucht, diese Wehmut, diese Wut. Diese große Leichtigkeit und dieses verschmitzte Lächeln. Dieser Verlust, der Europa verringert.

Lieder leben davon, dass man sie singt

In der Nachkriegszeit, in der DDR, war es vor allem die bekannte holländische Sängerin Lin Jaldati, die die Lieder Gebirtigs in ihrem Repertoire hatte. Knapp war sie dem Tod entronnen, hatte die Konzentrationslager überlebt – und Anne Frank in den letzten Tagen ihres Lebens begleitet.

Nach dem Krieg gehörte sie zu den wenigen jüdischen Stimmen in Ostdeutschland, weigerte sich beharrlich, das Jiddisch zu vergessen. Auf Youtube gibt es einige sehr schöne Aufnahmen aus dieser Zeit, aus der so wenige Zeugnisse erhalten sind.

Auch die norwegische Sängerin Bente Kahan hat sich des Erbes von Gebirtig angenommen. Seit Beginn der neunziger Jahre führt sie die Lieder öffentlich auf, hat eine beeindruckende Sammlung von CDs mit jiddischen Liedern produziert.

Der Auftaktsong ihrer CD „Farewell Cracow“ heißt „Kinder yorn“ („Kinderjahre“), und es ist diese Melodie, die plötzlich Leben in die stillen Ruinen von Kazimierz zu bringen scheint.

Wie eine längst vergessene Stimme schwingt sie durch die Gassen, fernes Echo einer fernen Zeit. Denn nichts verschwindet jemals ohne Spur, und kein Lied verstummt für immer.

Mehr über Mordechai Gebirtig findet sich hier.

Lin Jaldati singt Gebirtig (Video auf Youtube).

© Rebecca Budd/Hanne Siebers
Samstag, 12. Dezember 2020

Podcast: Die Robben von Blakeney Point

Hanne Siebers war mit Rebecca Budd zu Tea, Toast & Trivia verabredet – ein faszinierender Podcast über Fotografie und Natur. Siebers ist für den Natural Trust im Norden von Norfolk unterwegs. Im Gespräch erläutert sie ihre ganz spezielle Sicht auf diese ganz spezielle Küstenregion – durch die Linsen ihrer Kamera.

Ausgedehnte Schutzgebiete für zahlreiche seltene Vögel und Robben: Blakeney Point an der Küste von Norfolk gehört zu den bezauberndsten Landschaften in Europa. Das Schilfgebiet ist das zweigrößte Vogelschutzgebiet Europas nach dem Wattenmeer. Und in der Robbenkolonie kommen jedes Frühjahr mehrere tausend Robbenbabys zur Welt. Das Areal wird vom Natural Trust geschützt und verwaltet, der größten privaten Schutzorganisation in Großbritannien.

Einen Traum erfüllt

Die Norwegerin Hanne Siebers hat sich einen Traum erfüllt: Sie ist in Norfolk mit der Kamera unterwegs. Die Küste zur Nordsee – the Wash – ist durch versandete Flachwasser gekennzeichnet, mit dichten Schilfgürteln und sandigen Landzungen, die flach und weit ins Meer laufen. Geprägt durch Ebbe und Flut, ist es ein Paradies für seltene Vögel und die Meeressäuger, die hier eine riesige Kolonie bilden – eine der zehn größten Robbenkolonien weltweit.

Bei Ingwertee und selbstgemachten Sandwiches plaudert sie mit Rebecca Budd aus Vancouver über Fotografie – als Mittel der Kommunikation, als eigene Sprache, als Mittler zwischen dem Tier in seiner natürlichen Umgebung, zwischen ihr als Fotografin und dem Betrachter der Bilder.

Eine unsichtbare Verbindung

So stellt sich eine unsichtbare Verbindung ein. Das Teleobjekt schafft eine Nähe zu den Robben, zu den Vögeln, die in der Natur niemals erreichbar ist – ohne zu stören. „Das ist für mich die beste Medizin“, sagt Hanne Siebers. „Auswärts mit der Kamera zu sein, bei den Tieren, in der Natur.“

Die ehemalige Krankenschwester schwört auf die „heilende Kraft der Natur“, wie sie sich am Blakeney Point offenbart. Das fragile Schutzgebiet wird vom Natural Trust verwaltet. Der Zugang für Bird Watcher und Seal Watcher ist streng limitiert. In der Brutsaison dürfen die Nester der Vögel nur mit einer speziellen Lizenz fotografiert werden.

Die Regeln der naturverträglichen Fotografie

Hanne Siebers erklärt die wichtigsten Regeln der naturverträglichen Fotografie. Denn sie will die Geschichten der Natur erzählen, ohne sie in ihrem Lauf zu beeinträchtigen. Sie bringt ihre Botschaft – die Botschaft ihrer Bilder – auf herzerfrischende Weise ins Gespräch, selbstverständlich und doch intensiv reflektierend.

Ein wunderbarer Ausflug nach Norfolk und zum Blakeney Point – ein natürliches Paradies für Tiere und Menschen gleichermaßen. Wer braucht da noch Reisen?

Der Podcast ist in ausgezeichneter Sprachqualität aufgenommen und dauert eine knappe halbe Stunde. Die Zeit vergeht wie im Fluge – eine lebendige Reise in die raue und doch verletzliche Landschaft an der Küste von Norfolk. Unbedingt reinhören!

Fotos von Hanne Siebers auf der Website des Guardian.

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